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# taz.de -- Jahrestag Zusammenstöße in Odessa: Gespalten auch im Gedenken
> Ein Jahr nach dem Brand des Gewerkschaftshauses mit 42 Toten in Odessa
> erinnern beide Seiten an die Opfer. Einen Untersuchungsbericht gibt es
> nicht.
Bild: Eine Frau in Odessa hält ein Bild ihres Sohnes fest. Er starb bei den K�…
ODESSA taz | „Ihr Mörder! Faschisten! Ihr habt meinen Bruder umgebracht!
Und jetzt lasst ihr mich nicht mal hinein, um ihm zu gedenken“, schreit
eine Frau, die einen Strauß rote Tulpen in der Hand hält. Tränen kullern
über ihr Gesicht, verbissen versucht sie, die Reihe der Milizionäre an dem
Metalldetektor zu durchzubrechen. Ihre Sachen werden durchsucht. Als sie
endlich im Gewerkschaftshaus ist, spuckt sie hasserfüllt Richtung Miliz.
Odessa, Kulikowo Pole. Hier versammeln sich an Samstag viele der Opfer der
[1][tragischen Ereignisse vom 2. Mai 2014]. An jenem Tag kamen wegen der
Zusammenstöße von proukrainischen und prorussischen Aktivisten sechs
Menschen ums Leben. Bei dem anschließenden Brand des Gewerkschaftshauses
starben weitere 42 Personen. Da bis heute keine offiziellen
Untersuchungsergebnisse vorliegen, kursieren unzählige Spekulationen.
Die Atmosphäre um das Gewerkschaftshaus ist angespannt. Seit den frühen
Morgenstunden ist es abgesperrt. Ein Dutzend Panzerfahrzeuge und
Feuerwehrwagen stehen einsatzbereit. Laut Behörden sorgen an diesem Tag in
Odessa etwa 4.000 Miliz- und Armeeangehörige für Ordnung. Aber gerade das
reizt diejenigen, die der Toten gedenken wollen. „Wo wart ihr denn alle vor
einem Jahr?“, hört man aus der Menge. Die Aggressiveren legen nach: „Ihr
seid für diesen Genozid zuständig! Der Rechte Sektor will uns alle
vernichten!“
Vor ein paar Wochen wurde der Aluminiumzaun um das Gewerkschaftshaus von
proukrainischen Aktivisten in den Nationalfarben Blau und Gelb gestrichen.
Das hat wohl den Beschützern des selbst errichteten Memorials – mit Kerzen,
Blumenkränzen und Fotos mit Georgs-Bändchen – nicht gefallen. Deswegen
haben sie über den Zaun schwarzen Stoff gespannt und darauf Portraits von
den 42 im Gebäude Umgekommenen aufgehängt. Die überwiegende Masse der
Trauernden sind Ältere.
## Erinnerung an die Toten
Eine zierliche junge Frau mit einem riesigen Blumenstrauß fällt in der
Menge auf. Seit einer halben Stunde starrt sie schweigend durch die
aufgebrochenen und verkohlten Türen in das Gewerkschaftshaus. Sie heißt
Schuschanna, seit zehn Jahren lebt sie in Odessa. „Keiner von meinen
Bekannten ist hier umgekommen. Aber ich bin gekommen, um der Toten zu
gedenken. Ich ich bin für die Ukraine, das spielt aber keine Rolle, hier
sind doch Menschen gestorben.“ Tatsächlich sind hier kaum proukrainische
Kräfte vertreten. Im Vorfeld wurde entschieden, die Trauerfeiern beider
Lager zu trennen, um Konflikte zu vermeiden.
Die proukrainischen Aktivisten gedenken der Toten des 2. Mai auf dem
Soborna Platz in einem anderen Stadtteil. Hier hatte die Tragödie ihren
Lauf genommen. Zwei Teilnehmer der proukrainischen Kundgebung sind damals
durch Schüsse tödlich verletzt worden. Hier sind etwas weniger Menschen als
vor dem Gewerkschaftshaus zusammengekommen. Aber im Unterschied zu Kulikowo
Pole sind hier viel mehr Trauerbändchen zu sehen. Die Priester der
orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats und der ukrainischen
griechisch-katholischen Kirche haben einen gemeinsamen Trauergottesdienst
gehalten.
„Wir haben damals gesiegt, dieser Kampf aber geht weiter. Der 2. Mai ist
der neue tragische Tag in der Geschichte unserer Stadt. Das ist der Tag der
Befreiung Odessas von Faschisten“, spricht ein Aktivist der Odessaer
Selbstverteidigung die Anwesenden an und meint damit prorussische
Faschisten. Die Stimmung ist stärker von Stille und Trauer geprägt als auf
dem Kulikowo Pole. Während der Schweigeminute gehen viele in die Knie und
neigen ihre Köpfe als Zeichen der Trauer.
Dass Zusammenstöße an diesem Tag ausblieben, geht nicht nur auf das Konto
der Ordnungshüter. Die Leute selbst haben jeden Anflug von Aggression im
Keime erstickt. Und das nicht, weil die Stadt versöhnt und einig ist,
sondern weil die Menschen nach einem Jahr Krieg am Ende ihrer Kräfte sind.
Solange die Tragödie nicht restlos aufgeklärt und die Schuldigen zur
Verantwortung gezogen werden, wird kein Dialog möglich sein. Denn die
Tragödie ist tatsächlich für alle Odessaer gleich.
Übersetzung aus dem Russischen: Irina Serdyuk
3 May 2015
## LINKS
[1] /Schock-und-Traenen-in-Odessa/!137998/
## AUTOREN
Anastasia Magasowa
## TAGS
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Odessa
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