# taz.de -- Momente eines historischen Halbfinals: Einsam und geschockt | |
> Im Halbfinale spielten die Brasilianer wie von Gott verlassen. Und das | |
> schwarz-rot-goldene Publikum war vor allem eines: stumm. | |
Bild: „Mein Gott! Mein Gott! Warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34; Mt 2… | |
Nicht Neymar hat gefehlt, nicht Thiago Silva hat gefehlt, Gott hat gefehlt. | |
Weder hatte er seine Hand im Spiel, noch hat er seinen Fuß in das Spiel der | |
Auserwählten gesetzt. Ausgerechnet ihnen ist er nicht erschienen. Ihnen, | |
die Gott vor, während und nach dem Spiel durch Bekreuzigen und erhobene, | |
vorher geküsste Zeigefinger, mit Blicken zum Himmel und Händen vor den | |
Augen aufs Heftigste beschwören. Er verweigerte ihnen seine Hilfe, wo er | |
doch einen Stammplatz auf ihren T-Shirts, ihren Unter- und Oberarmen und | |
ihrer Ersatzbank hat. | |
1:7. Das ist ein Halbfinalergebnis, an das jene Verwegenen, die das vorher | |
tippten, selbst nicht glaubten. Und niemand, nicht das brasilianische Team, | |
nicht die Zuschauer im Stadion und nicht die vor den Fernsehern, konnte | |
glauben, was da mit den Brasilianern auf dem Platz passierte. Sie spielten | |
nicht, als seien sie von Gott inspiriert und beseelt. Sie spielten wie von | |
Gott verlassen. Die Schmerzen, die die Spieler und die Fans beim Anblick | |
dieses 1:7 haben, müssen jene sein, die Jesus an seinem gnädigen Vater | |
zweifeln ließen: „Mein Gott! Mein Gott! Warum hast du mich verlassen?“ (Mk | |
15,34; Mt 27,46). | |
In diesem 1:7 lässt Gott sich nur noch lutheranisch als Deus absconditus | |
denken, als verborgener Gott, dessen Pläne unerforschlich und mit | |
rationalen Kategorien nicht zu fassen sind. Mit der auch schon einige | |
hundert Jahre in der Welt seienden, Gott verteidigenden Idee des Deus | |
absconditus werden sich die Brasilianer kaum trösten können. Auch die Frage | |
der Theodizee, wie das Böse in die Welt kommt, wenn Gott doch voller Liebe | |
ist, bleibt für sie ungeklärt. | |
Dass Gott eine Schwäche für Fußball hat, daran können die Brasilianer nur | |
noch durch den historisch letzten theologischen Kniff in der Frage nach | |
Gottes Gerechtigkeit festhalten: Gott ist ein Werdender. Danach hat er sich | |
gänzlich aus dieser Welt entfernt, weil seine Allmacht den Menschen keinen | |
Platz gelassen hat, sich zu entfalten. Gott teilt also seine Macht mit den | |
Menschen. Und die machen dann mitunter Unglaubliches damit. Und dieses | |
Unglaubliche hat seit Mittwochabend ein neues Synonym: 7:1. (DORIS AKRAP) | |
*** | |
Keine Fachsimpelei in der U-Bahn, im Bus am Morgen danach, in der Bäckerei. | |
Gelegentlich ein: Hast du auch gesehen? Keine gesprochene Antwort, nur ein | |
Nicken. Nicht dieses Einandernacherzählen, die Freistöße, das Werden und | |
Gelingen der Tore. Mehr ein gemeinsames Schweigen mit offenen Mündern. | |
Vor vier Jahren, in Südafrika, schwärmte man noch nach dem 4:0 gegen | |
Argentinien, die dicke Hose Diego Maradonas auf ewig zerknittert. Es war, | |
als habe das deutsche Publikum an Sekt geschlürft und, Selters gewohnt, ein | |
„Lecker, lecker“ ausgebracht. | |
Dieses Halbfinale war ein Schock, der das Publikum stumm gemacht hat. Und | |
sogar echtes Mitgefühl erregt hat – mit den Brasilianern. Wer wollte schon | |
über eben Traumatisierte gewonnen haben? Die alte psychoanalytische | |
Wahrheit, der Anblick schierer Schönheit mache nur staunen, nicht sprechen, | |
kommt mal wieder zu sich. | |
Es ist, als habe das schwarz-rot-goldene Publikum, und nicht nur dieses, in | |
den Deutschen viel mehr als fließbandkalte | |
Dienst-nach-Vorschrift-Mentalität entdeckt. Sondern, nun ja, das Graziöse, | |
das in jeder Kür, nicht in der Pflicht aufscheint. Worte, einige Worte. | |
Wortlos alle, die diese Partie genießen wollten. Und konnten. (JAN | |
FEDDERSEN) | |
10 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
Jan Feddersen | |
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