Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Trauerfeier für Helmut Kohl: Die Leere der Provinz
> Ludwigshafen ist alte Bundesrepublik, Helmut Kohl inszenierte dort seine
> Bürgerlichkeit. Zurück bleiben die Widersprüche seiner Politik.
Bild: Schnell noch ein Foto, ein kurzes Video, Abschied am Straßenrand, mehr G…
Ludwigshafen/Speyer taz | Der Tag, an dem Helmut-Kohl-Superstar endlich
seine letzte Ruhe finden soll, ist grau, kühl und regnerisch, und Patric
Levy steht vollkommen allein in Ludwigshafen-Oggersheim, vor dem weißen
Backsteinbau mit der Nummer 11. 130 Kilometer rheinaufwärts, in Straßburg,
tragen sich Juncker, Clinton, Medwedjew, Macron und viele andere
Staatsvertreter in ein Trauerbuch ein. Während dieser europäische
Staatsakt, der erste den es je gegeben hat, beginnt, liegt das
fernsehbekannte Bungalowviertel aus den 60er Jahren verschlafen da.
Mit dem Sarg, der erst am frühen Morgen aus dem Haus getragen und mit dem
Hubschrauber nach Straßburg geflogen wurde, ist auch der Blumenschmuck, den
Bürger während der langen Aufbahrungszeit vor dem Haus abgelegt haben,
verschwunden. Eine einzelne Rose liegt vor der Haustür. Die leere Straße in
Oggersheim irritiert Levy.
Zwei Wochen lang musste die Polizei Besucher und Fernsehteams dirigieren.
Hier hatte die Witwe, Maike Kohl-Richter, Kohls Sohn und der Enkelin über
die Polizei ausrichten lassen, dass sie Hausverbot haben. Die biederen
Fassaden der Siedlung bergen wahrscheinlich viele solcher bürgerlichen
Vorstadtdramen. Aber bei einem Menschen wie Kohl ist auch der
Familienstreit XXL.
Patric Levy war eigentlich auf dem Weg zu einem Termin in Stuttgart
gewesen, als er bei Ludwigshafen entschied, von der Autobahn abzufahren.
Jetzt steht er da im weißen Hemd, Dreitagebart und randloser Brille, neigt
für einige Minuten seinen Kopf und verschränkt die Hände vor dem Bauch.
Danach schießt er ein Selfie.
Sein Großvater sei ja dreißig Jahre lang in der SPD gewesen, erzählt Levy.
Trotzdem hat er selbst bei seiner ersten Bundestagswahl, 1990, den Kanzler
der Einheit gewählt. Es ist dieser Europapolitiker Kohl, von dem er sich
heute verabschiedet. Der Kanzler des Stillstands, der damals wenig zu
brennenden Asylbewerberheimen und dem Raubrittertum gesagt hat, das sich in
den Bundesländern der ehemaligen DDR breit machte, ist ihm weniger in
Erinnerung geblieben.
## Wirtschaftswunder, Tüchtigkeit und Optimismus
Helmut Kohl – ein Staatsmann von Weltrang, von denen Deutschland nur wenige
gehabt hat, das ist auch heute wieder zu hören. In den Reden in Straßburg,
aber auch von den Menschen am Straßenrand, die nicht selten ungefragt
zugeben, ihn nie gewählt zu haben. Kohl, Schröder, Merkel, die Kanzler der
jüngeren Geschichte kamen oft aus provinziellen und kleinbürgerlichen
Verhältnissen. Das ist eine Stärke, es unterscheidet Deutschland etwa von
Frankreich mit seinen Eliteuniversitäten oder den USA. Aber keiner hat die
Provinzialität, die man ihm immer auch vorgeworfen hat, so zelebriert wie
Kohl.
Dabei ist Oggersheim nur ein Vorort der Industrie- und Arbeiterstadt
Ludwigshafen. Und der Ort selbst ist ja auch nur deshalb zur Großstadt
angewachsen, weil sich hier im vergangenen Jahrhundert fast zufällig der
Chemieriese BASF angesiedelt hat. Ludwigshafen, das ist die alte
Bundesrepublik, geprägt von Optimismus des Wirtschaftswunders und dem
Vertrauen, in Fleiß und Tüchtigkeit, wie es auch im Ruhrgebiet einmal war.
Anders als in Essen und Duisburg ist der Industriemotor hier nie ins
Stottern geraten. Kultur und Kommunalpolitik laufen bis heute im Takt des
Weltkonzerns. BASF ist der größte Arbeitgeber der Region, der freilich dank
globaler Strukturen immer weniger Gewerbesteuer hier lässt. Das sieht man
der Stadt an.
„Kohl hätte eigentlich die Auswirkungen seiner neoliberalen Politik direkt
vor seiner Haustür beobachten können“, sagt Peer Damminger. Während der
Sarg mit dem Kanzler auf der Reise ist, sitzt er mit seiner Frau Bärbel
Meier beim Kaffee in ihrem Heim, auf der Parkinsel, einem Stadtteil südlich
der Innenstadt. Gegenüber wohnt der ehemalige Bürgermeister, vor den
Häusern parken polierte Autos. Keine Trauer bei Dammingers, der Fernseher
ist aus.
Beide kennen Ludwigshafen schon aus ihrer Kindheit, waren fortgezogen und
erst Ende der 80er Jahre wieder zurückgekehrt. Als Theatermacher, um mit
Regisseur René Pollesch Avantgarde auf die Bühne zu bringen. Heute arbeiten
sie vor allem mit Schulklassen im Brennpunktviertel Mundenheim.
Ein Freund hat Damminger geraten, sich beim Thema Kohl nicht um Kopf und
Kragen zu reden. Sein Theaterladen ist auf städtische Zuschüsse angewiesen.
Die Oberbürgermeisterin ist von der CDU. „Aber genau das war doch das
System Kohl“, erregt sich Damminger. „Macht ist nicht verliehen, sondern
Eigentum. Wer dagegen ist, wird ausgeschlossen.“
Militärbrimborium, Staatsakt und Bootsfahrt
Er beginnt, vom Misstrauensvotum 1982 zu sprechen. Damals seien dann die
Konformisten nach oben gekommen, und spätestens mit der Wiedervereinigung
sei es mit den alternativen Lebens- und Arbeitsformen zu Ende gewesen.
Unter Kohl gab es immer weniger öffentliche Gelder für Kultur, erst recht
für Experimente, die auch mal das bestehende System infrage stellten. Für
„linkes Gesocks“ habe der null Verständnis gehabt, sagt Damminger.
Aber selbst hier in diesem Künstlerhaus ist Helmut Kohl auch der
Europapolitiker Kohl. Den Staatsakt in Straßburg findet Damminger
angemessen. Aber das Brimborium mit Militär und Trauerkondukt auf dem Rhein
und die Beerdigung in der Kaiserstadt Speyer? „Was ist das für eine
Symbolik?“, fragt er, der Theatermann, genervt.
Vor allem eine recht bürgerferne. Im Gezergel darum, ob Kohls letzter Gang
vom Berliner Protokoll oder von seiner zweiten Frau, Meike Kohl-Richter,
bestimmt wird, sind die Bürger und auch seine Verbundenheit zur Heimatstadt
vergessen worden. Im Ablauf des Europaparlaments, man kann das
symptomatisch finden oder mit den hohen Sicherheitsvorkehrungen in
Straßburg erklären, sind Bürger gar nicht erst vorgesehen.
In Ludwigshafen müssen sich die Menschen dann am Nachmittag im Vorbeifahren
von ihrem Ehrenbürger verabschieden. Kohl war nicht öffentlich aufgebahrt,
er wird nicht im Ludwigshafener Familiengrab beerdigt. Auch das
Kondolenzbuch war nur im Dom zu Speyer ausgelegt. Als wäre es eine
Pflichtübung, fährt der Leichenwagen den Sarg und einen irritierend roten
Kranz aus Rosen, den Meike Kohl-Richter ihrem Mann gewidmet hat, fast
ungebremst an den Honoratioren und Bürgern vorbei. Das dauert nur
Augenblicke, dann ist der Konvoi Richtung Rhein verschwunden.
Abends verfolgen rund 600 Bürger den Trauergottesdienst auf einer großen
Leinwand, die im Garten des Doms in Speyer aufgebaut wurde. Für 3.000 wäre
Platz gewesen. Wie bei jeder richtigen Beerdigung sind die einen gekommen,
um zu trauern, andere aus Neugier. Manche sind da, um gesehen zu werden.
Gut sichtbar: die Junge Union
In gesteppten Windjacken und Krawatte steht eine Abordnung der Jungen Union
zusammen. Die Männer und wenigen Frauen halten Schilder hoch: „Danke für
die Deutsche Einheit“ und „Danke für Europa“ haben sie darauf geschriebe…
Darunter gut lesbar: „JU“. Es sind die einzigen Schilder und Transparente
weit und breit.
Nein, das sei kein Wahlkampf, sagt der Bundesgeschäftsführer, als man ihn
fragt, wo Trauer aufhört und Kampagne beginnt. Kaum hat er seinen Satz
beendet, hat schon das erste Fernsehteam die adretten Jungfunktionäre ins
Visier genommen.
2 Jul 2017
## AUTOREN
Benno Stieber
## TAGS
Helmut Kohl
Staatsakt
Bundesrepublik Deutschland
Schwerpunkt Landtagswahl in Rheinland-Pfalz
Walter Kohl
Helmut Kohl
Schwerpunkt Nationalsozialismus
CDU
## ARTIKEL ZUM THEMA
Landtagswahlen Rheinland-Pfalz: Im Bel Air von Oggersheim
Das Haus von Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl in Ludwigshafen-Oggersheim sagt
viel aus über den Wahlerfolg dieses Mannes.
Die Macht der Witwen mächtiger Männer: Frauen in Trauer
Die Öffentlichkeit fürchtet die Witwen mächtiger Männer – wie Friede
Springer oder Maike Kohl-Richter. Doch vieles wird in dieser Erzählung
übersehen.
Helmut Kohls Vermächtnis: Ein Trauerspiel
Helmut Kohl hat viele und strikte Anweisungen zu seiner Beisetzung
formuliert. Was haften bleibt, ist das Bild eines gekränkten Mannes.
Kohl und die deutsche Vergangenheit: Zerstörung, Schuld, Gefahr
Der verstorbene Altkanzler war geprägt von den Erfahrungen der NS-Zeit. Sie
begründen die Ambivalenz des christdemokratischen Politikers.
Altkanzler Helmut Kohl ist gestorben: Er ist Geschichte
Europäer, ewiger Kanzler, Despot – Helmut Kohl war zeitlebens umstritten.
Nun ist er im Alter von 87 Jahren in Ludwigshafen gestorben.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.