# taz.de -- Zwischen den Geschlechtern: Wann ist ein Mann ein Mann? | |
> Unser Autor hat ein X-Chromosom zu viel. Rein biologisch ist er kein | |
> Mann, aber er fühlt sich wie einer. Wie lebt er damit? | |
Bild: Bei Unisex-Toiletten spielt die Grenze zwischen Weiblich und Männlich ke… | |
Die Sonne brennt. Ich schwitze und sehne mich nach einer Abkühlung in | |
frischem Wasser. Es sind 35 Grad, selbst im Schatten ist es noch sehr heiß. | |
Die große Hitzewelle hat Deutschland im Sommer 2018 im Griff. | |
Mit meiner Freundin und zwei Freunden laufe ich über eine Brücke, mitten im | |
Naturschutzgebiet, 20 Kilometer östlich von Frankfurt am Main. Unter uns | |
glitzert ein See, gesäumt von Bäumen mit sattgrünen Blättern, manche Äste | |
ragen ins Wasser. Normalerweise verirren sich nicht allzu viele Menschen an | |
diesen Ort, deswegen komme ich gern hierher. | |
Heute sind viele da. Mit freiem Oberkörper liegen sie auf dem Gras, spielen | |
Karten, picknicken oder sitzen am Ufer. Wir breiten unsere Decke aus, ich | |
setze mich und sage: „Ich komme nicht mit. Ich warte hier auf euch.“ | |
Ich fühle mich beobachtet, sitze auf der Decke mit angewinkelten Beinen, | |
meine Arme lege ich auf den Knien ab. Meine Augen wandern von links nach | |
rechts. Immer in der Angst, dass mich jemand anschaut. Erst nach ein paar | |
Minuten traue ich mich, mein T-Shirt auszuziehen. | |
Ich habe ein Problem mit meinem Körper, weil er anders ist. Nicht dünn, | |
nicht dick. Einfach anders. Mein Körper hat feminine Züge. Ich haben einen | |
erhöhten Fettanteil um meine Hüfte – wie bei einer durchschnittlichen Frau. | |
Ein Arzt nennt das „Frauenhüfte“. Sie ist nur eine von mehreren Symptomen | |
meines Gendefekts. Ich habe den Chromosomensatz 47, XXY. | |
„Klinefelter-Syndrom“ nennen Mediziner*innen das. Ich nenne es oft einfach | |
KS. | |
## Ein X-Chromosom zu viel | |
Erkannt wurde das KS erstmals 1942 von dem US-amerikanischen Arzt Harry | |
Klinefelter, der damals noch nicht erklären konnte, was die Gründe dafür | |
waren. Die Ursache des Defekts wurde erst 1959 entdeckt: ein zusätzliches | |
X-Chromosom in den Zellkernen. | |
Das biologische Geschlecht eines Menschen hängt davon ab, welche | |
Chromosomen dieser von seinen Eltern erhält. Ein männliches Spermium | |
enthält 23 Chromosomen, eines davon ist entweder ein X- oder ein | |
Y-Chromosom. Die weibliche Eizelle hat ebenso 23 Chromosomen, darunter ein | |
X-Chromosom. Klinefelter-Männer haben ein X-Chromosom mehr, was auf eine | |
Störung bei der Verschmelzung von Ei- und Samenzellen der Eltern | |
zurückgeht. | |
XXY. Mit dieser Diagnose bin ich nicht allein: Etwa jeder 500. Mann | |
hierzulande hat das Klinefelter-Syndrom. In Deutschland sind rund 80.000 | |
Männer betroffen, aber nur etwa 10 bis 15 Prozent wissen davon – lediglich | |
rund 5.000 bestätigte Fälle gibt es in Deutschland. Das ist erstaunlich, | |
denn das KS ist die häufigste Chromosomenabweichung bei Männern und der | |
häufigste genetische Grund für Zeugungsunfähigkeit. | |
## Nicht leicht zu erkennen | |
Weil jedoch die Symptome auf den ersten Blick nicht gleich zu erkennen | |
sind, ist das Klinefelter-Syndrom relativ unbekannt. Und es ist nicht | |
heilbar, nur die Symptome können bekämpft werden. | |
Betroffene leiden häufig unter Testosteronmangel, einer verzögerten oder | |
ganz ausbleibenden Pubertät, Brustentwicklung und kleinen Hoden. Auch auf | |
die Konzentrationsfähigkeit und die Frustrationstoleranz kann sich das KS | |
auswirken. Fachärzt*innen geben außerdem an, dass das KS für ein gutes | |
Langzeitgedächtnis, stark ausgeprägtes Sozialverhalten, tiefgründiges | |
Nachdenken oder eine überdurchschnittliche Beobachtungsgabe verantwortlich | |
sein kann. | |
Das zweite X-Chromosom hemmt die Bildung von Testosteron in den Hoden. Das | |
wiederum sorgt für die Ausbildung der Geschlechtsorgane und -merkmale und | |
übernimmt verschiedene Aufgaben im Stoffwechsel des Menschen. Deswegen sind | |
die KS-Symptome so vielfältig. Außerdem wird das zusätzliche X-Chromosom | |
teilweise unterdrückt, was aber von Patient zu Patient unterschiedlich ist. | |
Weil ich eben dieses zweite X-Chromosom habe, bin ich aus biologischer | |
Sicht intersexuell. Bei der Mehrheit der Betroffenen bestimmt das | |
Y-Chromosom das männliche Geschlecht. Sie wachsen dann als Männer auf, so | |
wie ich. | |
Aber nicht alle KS-Männer identifizieren sich als Mann, ein Teil sieht sich | |
als Mann mit femininen Anteilen, bedingt durch den niedrigen | |
Testosteronspiegel, die verstärkte Brustentwicklung, den femininen | |
Körperbau oder rein emotional. Um zu verstehen, wie die KS-Symptome auf | |
mich wirken, wie sie mein Leben kontrollieren, mein Verhalten ändern und | |
wie ich versuche, sie in den Griff zu bekommen, gehe ich in der Geschichte | |
13 Jahre zurück. | |
## Machen Sie sich untenrum frei | |
Herbst, 2006. Es ist ein kühler Tag im südhessischen Darmstadt. Die Wolken | |
sind grau, es ist windig. Heute ist der Tag meiner Bundeswehrmusterung. Ich | |
sitze allein in einem Flur und betrachte die Wände. Sie haben einen | |
bräunlichen Ton. Es sieht aus, als wurde hier schon lange nicht mehr | |
renoviert. Eine Tür öffnet sich. „Herr Simon bitte“, ruft eine Stimme. | |
Ich folge einem Mann in ein Krankenzimmer, wo eine Frau mittleren Alters | |
wartet, die Ärztin. Sie trägt einen weißen Kittel, eine Brille, ihre | |
blonden Haare hat sie zusammengesteckt. Sie verzieht keine Miene. „Bitte | |
machen Sie sich untenherum frei“, sagt sie. Ich befolge ihre Anweisung. Die | |
Ärztin bückt sich, betrachtet meinen Intimbereich und richtet sich wieder | |
auf. Sie schaut mich an. Dann sagt sie zu mir: „Ist Ihnen schon mal | |
aufgefallen, dass Ihre Hoden nicht die normale Größe haben?“ | |
Ich hatte mich immer gefragt, warum sich Ärzt*innen bei dieser Prozedur den | |
Intimbereich anschauen. Jetzt wusste ich es. Damals war ich 20 Jahre alt | |
und hörte zum ersten Mal, dass meine Hoden kleiner sind als die anderer | |
Männer. Heute bin ich 32. | |
In der Pubertät dachte ich nicht daran, dass mit mir irgendetwas nicht | |
stimmen könnte. Ich merkte damals zwar schon, dass ich mich anders | |
entwickelte als meine Freunde – ich sah jünger aus, hatte weniger | |
Haarwuchs, keinen richtigen Stimmbruch. | |
## Typische Probleme eines Teenagers? | |
In der Schule kam ich irgendwann nicht mehr mit. Ich sah lieber aus dem | |
Fenster, träumte vor mich hin oder kritzelte den Tisch voll. Und meine | |
Eltern pampte ich fast täglich an. Meine Freunde im Fußballverein fingen | |
an, sich über meine fehlenden „Fußballerwaden“ lustig zu machen. Ich hielt | |
das für typische Probleme eines Teenagers in der Pubertät. Dass da mehr | |
war, genaugenommen ein X mehr, das war mir zu dem Zeitpunkt nicht bewusst. | |
Aber wie kann es sein, dass erst bei der Bundeswehrmusterung auffiel, dass | |
meine Hoden kleiner sind als die von gleichaltrigen Männern? Mein jetziger | |
Arzt meint, dass meine Kinderärztin versagt habe. Ihr hätte es bereits | |
auffallen müssen. Für mich selbst gab es nie Indizien. Ich hatte meinen | |
ersten Samenerguss im gleichen Alter wie die anderen Jungs auch. Mit 14 | |
hatte ich meine erste Freundin, früher als andere Kumpels. Und für einen | |
pubertierenden Jungen masturbierte ich durchschnittlich oft. Mit 15 war ich | |
bei einem Urologen, er untersuchte meinen Intimbereich, und auch ihm fiel | |
nichts auf. | |
Ein Jahr später verließ ich die Schule mit einem mittelmäßigen | |
Realschulabschluss. Ich fühlte mich nicht bereit zu arbeiten, aber | |
probierte Verschiedenes aus: ein Praktikum im Hotel, ein weiteres bei einer | |
Werbefirma. Dann bewarb ich mich für eine Ausbildung zum Mechatroniker. | |
Nichts davon passte so richtig. Irgendwie fühlte ich mich immer, als würden | |
mir noch ein paar Jahre fehlen, als wäre ich unreifer als die anderen. | |
Heute weiß ich: Zu den Symptomen des Klinefelter-Syndroms gehört auch, dass | |
die biologische männliche Reife mit mehreren Jahren Verzögerung einsetzen | |
kann. | |
## Sie nannten mich oft den „Kleinen“ | |
Mit 20 hatte ich immer noch kaum Bartwuchs. „Das kam bei mir auch erst | |
später“, sagte mein Vater damals. Ein Freund meinte, ich solle doch froh | |
sein. Es nerve, sich täglich zu rasieren. Aber ich wollte mich wie ein Mann | |
fühlen, und ein Bart, so dachte ich, macht dich männlich. Ohne die | |
entsprechende Gesichtsbehaarung bist du nur ein Teenager. Und so wirst du | |
dann auch behandelt. | |
Wir waren fünf Jungs in meinem Freundeskreis, alle im selben Alter. Doch | |
mich nannten sie oft den „Kleinen“. Wenn wir uns freitagabends trafen, | |
unser Sixpack Bier, eine Flasche Whiskey mit Cola tranken und überlegten, | |
wo wir heute feiern gehen sollen, dann zählte meine Meinung weniger als die | |
der anderen. Ich wurde oft überstimmt, oder sie hörten mir nicht zu. | |
Als ich 18 war, kam auch der Tag, an dem sich auf einmal etwas an meinem | |
Körper veränderte. Ich stand mit meiner damaligen Freundin im Badezimmer. | |
Ich zog mein T-Shirt aus, um zu duschen, und sie starrte mich an. „Was ist | |
los?“, fragte ich. „Du hast zugenommen“, antwortete sie flapsig. | |
Zugenommen? Das konnte nicht sein. Ich stellte mich vor den Spiegel und mir | |
fiel auf, dass sich an meinen Hüften Fettröllchen gebildet hatten. Ich | |
wunderte mich, dachte aber keine Sekunde darüber nach, dass das irgendwie | |
nicht normal sein könnte. Sie ist nicht besonders ausgeprägt, aber meine | |
„Frauenhüfte“ war der Anfang. | |
Ein Anfang, der mir damals im Badezimmer noch nicht als solcher bewusst | |
war. Doch wenig später kam die Einladung zur Musterung – und eben diese | |
Frage der Ärztin: „Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass Ihre Hoden nicht | |
die normale Größe haben?“ | |
## Die Ärzte-Tour wird zur Tortur | |
Nicht die normale Größe. Ich war 20, verwirrt und geschockt. Ich verließ | |
das Untersuchungszimmer, lief den Flur entlang, bog nach rechts ab, wieder | |
nach rechts, lief geradeaus an ein paar geöffneten Bürotüren vorbei. Dann | |
stand ich in dem Zimmer, wo die anderen auf ihre Musterung warteten. Mir | |
ging damals nur eine Frage durch den Kopf: Bin ich anders, nicht normal? | |
Ich grüßte einen alten Schulkameraden, lief zum Ausgang und schaute mir | |
beim Verlassen der alten Kaserne das Portrait des damaligen | |
Bundespräsidenten, Horst Köhler, an. Er lächelte. | |
Ich ging zu einem Urologen in Offenbach. Damals ahnte ich noch nicht, dass | |
dieser Arztbesuch der Beginn einer Tortur werden würde. | |
„Hatten Sie in der Schule Schwierigkeiten mitzukommen?“ | |
„Ja, aber nicht in allen Fächern.“ | |
„Fühlen Sie sich oft schlapp?“ | |
„Puuh, ja, doch, schon.“ | |
„Wann begann Ihre Pubertät?“ | |
„Weiß nicht, so mit 14 oder 15, schätze ich.“ | |
„Haben Sie oft Lust auf Sex?“ | |
„Ja.“ | |
Konzentrationsschwierigkeiten, Müdigkeit, gehemmte Libido – all das sind, | |
wie ich heute weiß, mögliche Auswirkungen des Klinefelter-Syndroms. Aber | |
längst nicht alles muss zutreffen. Der Urologe untersuchte mich auch auf | |
„körperliche Abweichungen“. Bin ich hochgewachsen, habe ich | |
überdurchschnittlich lange Beine? Nein, beides trifft nicht zu. Dann noch | |
ein Blick auf die Körperbehaarung und die Brustdrüsen. Und zum Abschluss: | |
Hose runter, Abtasten und Messen der Hoden. „Ich benötige eine Spermaprobe | |
von Ihnen“, sagte er zu mir. | |
Eine Woche später saß ich wieder in der Praxis, dem Urologen gegenüber. Er | |
sagte vier Worte. Vier Worte wie ein Schlag ins Gesicht: „Sie haben keine | |
Spermien.“ Es tue ihm leid, aber auf dem natürlichen Weg sei eine Zeugung | |
für mich unmöglich. Ich übersetzte für mich: Du schießt mit Platzpatronen. | |
## Warum ausgerechnet ich? | |
Ich würde niemals ein leibliches Kind haben. Warum ausgerechnet ich? Ich | |
war traurig. Um dieses Gefühl zu kompensieren, wurde ich Betreuer bei | |
Ferienspielen. Die Kinder gaben mir viel. Es machte mich glücklich, wenn | |
ich sah, wie viel Freude sie hatten, wenn ich mit ihnen Fußball spielte. | |
Ihre Freude baute mich auf. Sie bauten mich auf. | |
Ich hatte Angst davor, keine Frau kennenzulernen, die mich so liebt, wie | |
ich bin. Mit dem zusätzlichen X. Meine damalige Freundin unterstützte mich | |
zunächst, als ich von der Diagnose erfuhr. Es gab dadurch keinen Bruch in | |
unserer Beziehung, es gab auch keine Anzeichen dafür. | |
Später dann, als wir gemeinsam studierten, trennten wir uns. Meine | |
Zeugungsunfähigkeit war nicht der Hauptgrund, doch es war immer ihr Wunsch, | |
einmal eigene Kinder zu haben. So ähnlich war es dann drei Jahre später mit | |
einer weiteren Partnerin. Sie sagte sogar, dass die Zeugungsunfähigkeit mit | |
ein Trennungsgrund war, aber auch nur einer von vielen. | |
Ich gab mir bei beiden Trennungen die Schuld. Wieder redete ich mir ein, | |
nicht männlich genug zu sein. Ich glaubte, bei einem Streit nicht weinen zu | |
dürfen, meine Freundin beschützen zu müssen – so etwas eben. | |
## Ein Arzt möchte ein Foto machen | |
Mein Arzt überwies mich an die Urologie am Uniklinikum Frankfurt. Dort | |
erzählte ich der Ärztin von der Musterung. Sie stellte mir die gleichen | |
Fragen wie der Offenbacher Urologe. Ich fühlte mich leer. Wieder sollte ich | |
mich hinstellen, wieder mein T-Shirt ausziehen, wieder meine Hose | |
runterlassen. Auch sie tastete meine Hoden ab. „Ich habe eine Vermutung, | |
doch ich benötige zunächst das Ergebnis Ihres Spermas.“ Sie zog einen | |
Kollegen hinzu, dessen Spezialgebiet Erkrankungen männlicher | |
Geschlechtsorgane sei. | |
Ich stand weiter da, in Boxershorts und mit einem Selbstbewusstsein, das | |
kaum über den Boden reichte. Die Tränen liefen langsam meine Wangen | |
hinunter. | |
Ein Arzt kam herein, schaute mich an und wirkte fast euphorisch. „Stellen | |
Sie sich doch bitte mal auf diesen Stuhl und breiten Sie Ihre Arme aus“, | |
sagte er. Ich tat wie gewünscht. Schließlich war er der Experte, meine | |
Hoden sein Fachgebiet. Und ich wollte endlich erfahren, was mit mir nicht | |
stimmt. | |
Er sagte: „Ich habe noch nie jemanden mit Ihrer Figur gesehen.“ Ich könne | |
das Klinefelter-Syndrom haben. Die Abweichungen meines Körpers und die | |
Größe meiner Hoden deuteten darauf hin. Aber mit hundertprozentiger | |
Sicherheit könne er es noch nicht sagen. Dann: „Ich würde gern von Ihrem | |
Körper ein Foto für meine Studenten machen. Zu Lehrzwecken. Sie müssen das | |
natürlich nicht tun, aber es wäre wichtig für ihre Ausbildung.“ Ich stimmte | |
zu. | |
## Das Klinefelter-Syndrom | |
Heute bereue ich diese Entscheidung. Ich stand auf diesem Stuhl, beim | |
mittlerweile dritten Arzt, der sich auch noch darüber zu freuen schien, | |
dass ich zu kleine Hoden hatte und damit anscheinend der erste lebende | |
Beweis eines XXY-Mannes war. | |
Ich verließ das Uniklinikum, und mit jedem Schritt zu meinem Auto breitete | |
sich diese Leere in mir weiter aus. Ich setzte mich in den Wagen, griff mit | |
meinen Händen ans Steuer und heulte. Schließlich schickte man mich zum | |
Fachlabor für Abstammungsbegutachtung nach Frankfurt am Main. Dort wurden | |
meine Chromosomen untersucht, und nun stand fest: Ich habe das | |
Klinefelter-Syndrom. | |
Bis zu diesem Zeitpunkt im Frühjahr 2007 wussten nicht einmal meine Freunde | |
von meiner Diagnose. Ich weinte viel und fühlte mich krank. Meine Mutter | |
baute mich auf. „Du hast keine schlimme Krankheit, du bist gesund. Es gibt | |
viele Menschen auf der Welt, die wirklich krank sind. Du bist es nicht“, | |
sagte sie oft. Das hat mir geholfen. | |
Plötzlich sah ich gleichaltrige Männer mit anderen Augen: Haben sie | |
Bartwuchs? Einen ausgeprägten Adamsapfel? Haben sie stärkeren Haarwuchs an | |
Armen und Beinen? Ich fühlte mich nicht männlich genug. Ich schämte mich | |
sogar, kurze Hosen zu tragen. Ich war mir sicher, dass mich jeder Typ | |
anschaut und denkt: Der ist ja kein richtiger Mann. | |
Zumindest aber wusste ich jetzt auch, dass es nicht meine Schuld war, dass | |
ich antriebslos war und Lernschwierigkeiten hatte. Diese Erkenntnis löste | |
in mir aus, es allen beweisen zu wollen. Ich wollte zeigen, dass auch ein | |
XXY-Mann Abitur und Studium schaffen kann. Und ich schaffte es. | |
Vier Jahre nach der Diagnose war ich endlich an der Uni. Ein neuer | |
Lebensabschnitt begann. Ich verdrängte mein Syndrom, dachte nicht an das | |
zusätzliche X. Ich verschwendete auch keine Gedanken an eine mögliche | |
Testosterontherapie. Der Offenbacher Urologe sagte damals, dass eine | |
Therapie noch nicht nötig sei. Wie falsch diese Information war, erfuhr ich | |
erst ein paar Jahre später. | |
## Ein Freund nannte mich „Zicke“ | |
Also lebte ich weiter mit Stimmungsschwankungen, wegen derer ich mich ab | |
und zu mit zwei Unifreunden in die Haare bekam. Einer von ihnen sagte mal | |
zu mir, ich sei eine „Zicke“. | |
Die Vorlesungen erinnerten mich sehr an meine Schulzeit. Ich konnte mich | |
für maximal 30 Minuten konzentrieren, danach schweifte ich ab, beobachtete | |
meine Kommiliton*innen. | |
Manchmal schaute ich mir Männer an, die mir bekannte Merkmale des | |
Klinefelter-Syndroms aufwiesen. Aber dann hatten sie doch einen | |
ausgeprägteren Kehlkopf, stärkeren Haarwuchs an den Armen, und ich verwarf | |
den Gedanken, es könne ihnen ähnlich gehen wie mir. Auch meine Freunde | |
musterte ich mit diesem Blick. Aber da war nichts. Ich konnte doch nicht | |
der einzige KS-Mann an der Universität sein. | |
Mit 26 sah ich immer noch aus wie 18. Manche meiner Kumpels an der | |
Universität waren fünf Jahre jünger als ich, sahen aber deutlich älter aus. | |
Es nervte, als 26-Jähriger beim Kauf einer Flasche Wein noch nach einem | |
Ausweis gefragt zu werden. „Ist das Ihr ernst?“, pampte ich dann des | |
Öfteren die verdutzten Mitarbeiter*innen an der Kasse an. | |
Ich wollte endlich, dass sich an mir etwas verändert. Und überlegte, nun | |
doch mit der Hormontherapie zu beginnen. Im Frühjahr 2013 saß ich wieder in | |
einer Praxis, diesmal bei einem Urologen in Darmstadt. Ich sagte ihm, dass | |
ich gern einen normalen Bartwuchs und Muskelaufbau hätte. | |
Es fühlte sich an, als würde ein Schönheitschirurg vor mir sitzen. Damals | |
war ich überzeugt, dass eine Behandlung aus gesundheitlichen Gründen nicht | |
nötig wäre. Der Urologe sah mich etwas fragend, aber auch ernst an. Er | |
wunderte sich, dass ich nicht schon längst in Therapie war. Sagte, dass die | |
Therapie mit Testosteron schon in der Pubertät hätte beginnen sollen, wenn | |
nicht sogar müssen. Warum? Während der Pubertät steigen die Werte von | |
sogenannten follikelstimulierenden Hormonen (FSH) und luteinisierenden | |
Hormonen (LH) deutlich an. XXY-Männer haben in der Regel nicht nur geringe | |
Testosteron-, sondern auch hohe FSH- und LH-Spiegel. FSH ist | |
mitverantwortlich für die Produktion der Spermien, LH wirkt auf die | |
Produktion von Testosteron. | |
Je höher diese Werte sind, desto geringer ist der eigentliche Gehalt des | |
bis dato noch selbst produzierten Testosteron. Die Therapie kann meine | |
Chromosomenstörung nicht verhindern, aber sie sorgt dafür, dass mein | |
Hormonhaushalt funktioniert und ich ein normales Leben führen kann. | |
## Es ballert fast wie eine Droge | |
Braunschweig, November 2017. Ich rutsche nervös auf meinem Stuhl umher und | |
tippe mit meinem linken Fuß im Sekundentakt auf den Boden. „Herr Simon“, | |
ruft eine junge Frau. Ich blicke auf und folge der Stimme in einen kleinen | |
Raum. „Sie wissen ja, was Sie machen müssen?“ Ja, ich weiß. Ich ziehe mein | |
T-Shirt ein Stück nach oben und meine Hose ein bisschen runter. Die Spritze | |
wird immer oberhalb des Hinterns in den Muskel injiziert. „Nicht | |
erschrecken, es wird etwas pieksen“, sagt die Arzthelferin zu mir. Die | |
Spritze enthält 1.000 Milligramm Testosteron. Seit meinem ersten Besuch vor | |
über zwei Jahren beim Urologen in Darmstadt erhalte ich regelmäßig diese | |
Dosis. | |
Zwanzig Sekunden steckt die Spritze in meinem Körper, und mit jeder Sekunde | |
wird der Schmerz stärker. Ein Schmerz wie starker Muskelkater. Nach 20 | |
Sekunden hat sich das Testosteron, das wie Honig aussieht, seinen Weg | |
durch meinen Körper gebahnt. Steigt mein Testosterongehalt, werde ich | |
aktiver. Außerdem beugt das Hormon Krankheiten wie Osteoporose oder | |
Muskelschwäche vor. Ich ziehe mich an, verabschiede mich und laufe leicht | |
humpelnd aus der Praxis. | |
Keine zwei Minuten später wirkt das Testosteron. Es ballert fast wie eine | |
Droge. Ich wippe nicht mehr mit meinem Bein, wenn ich an der Fußgängerampel | |
stehe. Im Supermarkt haste ich nicht mehr durch die Gänge oder zähle die | |
Sekunden an der Kasse, bis ich wieder draußen bin. Ich will nicht sofort | |
wieder nach Hause, um Netflix zu schauen. Stattdessen laufe ich lieber | |
durch die Straßen, lege mich auf eine Wiese und genieße die Sonne. Alle | |
zwölf Wochen geht das so. Alle zwölf Wochen, ein Leben lang. | |
Heute bin ich nicht mehr eifersüchtig auf meine Freunde. Seit zwei Jahren | |
trage ich einen Vollbart, baue schneller Muskeln auf, sehe nach all den | |
Jahren endlich nicht mehr wie ein Teenager aus. Nach meinem Ausweis werde | |
ich im Supermarkt nicht mehr gefragt. | |
Seit sechs Jahren bin ich nun in Therapie. Ich sehe nicht nur anders aus, | |
ich fühle mich auch besser. Doch ich spüre auch Entzugserscheinungen, wenn | |
die 11. Woche sich dem Ende nähert. Dann werde ich nervöser, und meine | |
Konzentration nimmt ab. Wie ein Junkie fühle ich mich in solchen Momenten. | |
Absetzen, clean werden, das kommt für mich nicht infrage. Ich brauche die | |
Spritze, das Testosteron, dieses Gefühl, wenn auf einmal alles normal wird. | |
Dass ich heute stolz darauf bin, anders zu sein, liegt nicht nur an der | |
Testosteronspritze. Es hat auch viel mit meiner Freundin zu tun. Ich kann | |
mich noch gut an den Tag erinnern, an dem ich ihr von meiner Diagnose | |
erzählte. Über drei Jahre ist das her, wir saßen in ihrem Zimmer. „Ich muss | |
dir etwas erzählen“, sagte ich. Sie sah etwas besorgt aus und hielt meine | |
rechte Hand. Ich erzählte ihr, dass ich keine Kinder zeugen kann, und | |
davon, was das Klinefelter-Syndrom mit mir macht. Ich weinte, sie nahm mich | |
in den Arm und fragte: „Ist das alles? Das ist doch nicht schlimm.“ | |
## Ein Mann ist ein Mann ist ein Mann | |
Wenn ich mich im Spiegel betrachte, nervt mich meine Figur manchmal noch | |
immer. Aber ich verschwende keinen Gedanken mehr daran, ob ich jetzt ein | |
„richtiger Mann“ bin oder nicht. Weil auch die vielen Gespräche mit meiner | |
Freundin über kritische Männlichkeit und Feminismus meine Sicht darauf | |
verändert haben. | |
Heute ist mir bewusst: Ich wurde von einem Männlichkeitsbild beeinflusst, | |
das unsere Gesellschaft kreiert hat. Aber ein Mann ist auch ein Mann, wenn | |
er weniger Muskeln oder Bartwuchs hat. | |
Nur dann, wenn ich Männer sehe, die im Sommer mit freiem Oberkörper Frisbee | |
im Park spielen, will ich ihnen oft zurufen: „Sei froh, dass deine Hormone | |
nicht durchdrehen. Schätze es, dass du gesund bist und Kinder in die Welt | |
setzen kannst.“ Meine Freundin beruhigt mich in diesen Momenten: „Du bist | |
wunderbar, so wie du bist. Mach dir darüber keinen Kopf. Außerdem weißt du | |
doch nicht, welche Probleme diese Typen vielleicht haben.“ Sie hat recht. | |
Oft sitzen wir beide zusammen auf dem Sofa, wenn ich am Wochenende bei ihr | |
in Frankfurt bin. Dann trinken wir Bier, rauchen und spielen Karten. „Ich | |
fand die Reaktion von deiner Mitbewohnerin gestern vor dem Club schon | |
daneben. Ich wollte doch nur den Streit zwischen ihr und dem Türsteher | |
schlichten“, sage ich. „Ja, aber ich kann sie schon verstehen. Du solltest | |
in solchen Situationen lieber kurz nachdenken und entscheiden, welche | |
Reaktion angemessen ist“, sagt sie. | |
## Biologisch bin ich intersexuell | |
Ich war am Abend zuvor in einem Streit zwischen der Mitbewohnerin und dem | |
Türsteher dazwischengegangen. Das fand sie nicht gut, Frauen sollten für | |
sich sprechen. Auch durch solche Situationen fing ich an, über den | |
Unterschied zwischen biologischem und sozial konstruiertem Geschlecht | |
nachzudenken. | |
Biologisch gesehen bin ich intersexuell. Ich könnte also meinen Eintrag | |
im Geburtenregister ändern lassen, zur Option „drittes Geschlecht“. Bisher | |
scheue ich mich davor. Ich fühle mich als Mann. | |
August 2018. Zurück am See, wo die Sonne ohne Unterlass weiter brennt. Ich | |
lege ein Handtuch schützend über meinen Kopf, dann spüre ich die nassen | |
Haare meiner Freundin, die sie meinem Arm entlanggleiten lässt. | |
„Das fühlt sich so gut an“, sage ich zu ihr. Ich will ins Wasser und | |
versuche, mich zu überwinden: Gib dir einen Ruck, geh ins Wasser, stell | |
dich doch nicht so an. Wer soll schon Notiz von dir nehmen? Dann stehe ich | |
auf und blicke mich um. Guckt mich jemand an? Starrt jemand auf meinen | |
Körper? Nein, niemand tut das. | |
Ich laufe den Weg runter zum Ufer an vier Jugendlichen vorbei, die | |
herumalbern und mich gar nicht beachten. Ich laufe durch das seichte Wasser | |
bis ich den Boden unter meinen Füßen nicht mehr spüren kann. Ich schwimme | |
ein paar Züge. Dann drehe ich mich auf den Rücken, blicke in den blauen | |
Himmel, schließe die Augen und lasse mich treiben. | |
2 May 2019 | |
## AUTOREN | |
Stefan Simon | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
Intersexuelle | |
Geschlechter | |
Geschlechterrollen | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
Geschlechtsidentität | |
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
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