# taz.de -- Zeitloses aus Italiens Hauptstadt: Die Uhren von Rom | |
> Wenn jede Uhr anders geht: Überlegungen zu Zeitzonen und dem Verhältnis | |
> seiner Bewohner*innen zur Ewigkeit in der ewigen Stadt. | |
Bild: Wie spät ist es hier? Uhr am Petersdom in Rom | |
Vor einigen Wochen fiel mir in den Straßen von Rom etwas auf. Es war ein | |
Samstag, irgendwann gegen Mittag, ein Tag wie jeder andere. In der Villa | |
Borghese kreischten Möwen und Papageien um die Wette, am Fluss hielten | |
Touristen abrupt inne und zeigten mit staunenden Gesichtern hoch zu den | |
Zugvögeln, die wilde Formationen in den Himmel zeichneten, in den Gassen | |
des Centro storico pressten sich Menschentrauben an Maroni-, Fächer- und | |
Billigschmuckverkäufern vorbei. | |
Ich saß auf meinem Elektrofahrrad und raste die Via Nazionale hinunter. Ich | |
war spät dran, wie immer. Ich schlängelte mich an Bussen und Motorinis | |
vorbei, pfiff innerlich einen am Vorabend entdeckten Song der italienischen | |
Sechzigerjahre-Ikone Mina und versuchte, weder angefahren noch überfahren | |
zu werden, als ich auf einmal zwei Dinge bemerkte: 1) dass in dieser Straße | |
ungewöhnlich viele Uhren stehen. 2) dass keine davon die richtige Zeit | |
anzeigt. | |
Das klingt jetzt sicher wenig bemerkenswert, aber stellen Sie es sich bitte | |
mal vor: Über eine Strecke von, sagen wir, fünfzig Metern stehen knapp | |
zwanzig Straßenuhren, mindestens zwei pro Häuserblock, und zeigen | |
vollkommen unterschiedliche Uhrzeiten an. An diesem Tag war es auf dieser | |
Achse zeitgleich 11 Uhr 30, 6 Uhr 06, 21 Uhr 15, 17 Uhr 07 und irgendwas | |
gegen 15 Uhr. Die „eigentliche“ Uhrzeit, etwa 13 Uhr 45, war nirgendwo zu | |
sehen. | |
Als ich schließlich hechelnd und von meiner Entdeckung exaltiert mit | |
fünfzehn Minuten Verspätung bei meinem Mittagessen ankam, guckten meine | |
Bekannten mich an, als sei ich ein bisschen blöde. Dass mir das jetzt erst | |
auffalle, meinten sie, das sei doch bekannt: In Rom stehen überall Uhren, | |
fast alle zeigen ausgedachte Zeitformen an. Man sollte sich auf keinen Fall | |
an ihnen orientieren, zumindest nicht, wenn man ein Leben führt, in dem | |
Termine, Deadlines oder sonst irgendwie geartete Zwänge von außen | |
vorkommen. | |
## Kein Verlass auf Zeitangaben | |
Ich habe das seitdem überprüft und es stimmt: In dieser Stadt kollidieren | |
permanent disparate Zeitanzeigen miteinander. Warum dem so ist, konnte mir | |
auch der Römer unter uns nicht sagen, und da auch das Internet für dieses | |
Phänomen keine Erklärung parat hat, habe ich mir meine eigene | |
Interpretation zusammengereimt. | |
Sie geht in etwa so: Die Uhren, oder besser gesagt die | |
auseinanderklaffenden Zeiten, dieser freestylige Umgang mit dem, was wir | |
als Zeit bezeichnen, ist eine Metapher für die Stadt und ihre Art, das | |
Leben zu nehmen. Immerhin gibt es kaum einen anderen Ort in Europa oder, | |
genauer, keinen anderen in der sogenannten westlichen Welt, dem „Zeit“ so | |
sehr ins Fleisch, oder, wenn Sie so wollen, in den Stein geschrieben ist, | |
wie Rom. | |
Im Stadtbild, in der Architektur kollidieren Zeitzonen täglich, teilweise | |
sogar in ein und demselben Gebäude miteinander. Etwa im antiken Teatro | |
Marcello, auf dessen oberen Rand irgendwann ein Wohnhaus gebaut wurde, | |
sodass gestern und heute wie zwei Schichten eines Kuchens friedlich | |
miteinander kohabitieren. So gesehen ist Zeit erst nichts, mit dem man | |
diese Stadt und ihre Bewohner beeindruckt. Sie spielt nur eine | |
nebensächliche Rolle. | |
Vielleicht haben Sie es mitbekommen, vor Kurzem wurde bekannt, dass sich in | |
Rom sogar der Beton selbst heilt und die damit errichteten Bauwerke für | |
nicht weniger als die Ewigkeit halten dürften. Was bedeuten schon ein paar | |
Minuten, ein paar Stunden, ach was, ein ganzer Tag, wenn man permanent mit | |
„für immer“ konfrontiert ist. | |
## Das Verhältnis zur Ewigkeit | |
Nun kann dieses Verhältnis zur Ewigkeit einen gewissen Fatalismus | |
befördern, man sah das ganz gut nach den Wahlen. Es kann aber ebenso gut | |
eine Befreiung sein. Schließlich relativieren sich persönliche Dramen und | |
die eigene Wichtigkeit gewaltig, wenn das, was hält und bleibt, jeden Tag | |
vor der eigenen Nase liegt. | |
Diese seltsamen Uhren haben für Spätkommer wie mich auch einen ganz | |
praktischen Vorteil: Irgendwo in Rom bin ich immer pünktlich. Als ich vor | |
ein paar Tagen wieder auf meinem Rad saß und durch die Innenstadt raste, | |
diesmal nur kulante zehn Minuten zu spät, traf ich vor dem Ara Pacis auf | |
eine Uhr, die mir sehr entgegenkam. Für sie war es 19 Uhr 25, nicht 19 Uhr | |
35. | |
16 Feb 2023 | |
## AUTOREN | |
Annabelle Hirsch | |
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