# taz.de -- Wiederaufbau in der Ukraine: Aufräumen, bis der Winter kommt | |
> Die an Russland grenzende ukrainische Region Sumy wurde von russischer | |
> Besatzung befreit. Doch der Beschuss hält an. | |
TROSTJANEZ UND BILOPILLJA taz | Der Busbahnhof, die Eisenbahnstation, | |
Geschäfte, Apotheken und nahe gelegene Häuser – alles liegt in Trümmern. | |
Zum Wahrzeichen der Stadt Trostjanez ist ein fünfstöckiges Wohnhaus | |
geworden, das bis auf die Grundmauern niedergebrannt ist. Und das Denkmal | |
für einen sowjetischen Panzer des Zweiten Weltkriegs, das 77 Jahre nach | |
Kriegsende von den Russen zusammengeschossen wurde. | |
Das Zentrum von Trostjanez bietet ein Bild totaler Zerstörung. Die Stadt | |
mit 20.000 Einwohnern liegt im Nordosten der Ukraine in der Region Sumy, 50 | |
Kilometer von der gleichnamigen Gebietshauptstadt und genauso weit von der | |
ukrainisch-russischen Grenze entfernt. Auf einer Länge von 560 Kilometern | |
grenzt die Region an Russland. | |
Trostjanez, wie auch die Hälfte des Gebiets Sumy mit einer Million | |
Einwohner*innen, waren bereits am ersten Tag nach dem Beginn des russischen | |
Angriffskriegs von russischen Truppen eingenommen worden. Um die Stadt Sumy | |
machten sie einen Bogen bei ihrem Versuch, auf zentralen Verbindungsstraßen | |
auf die Hauptstadt Kiew vorzurücken. | |
Doch die Invasoren trafen auf massiven Widerstand – nicht zuletzt der | |
örtlichen Bevölkerung. Die sogenannten modernen Partisanen bewaffneten sich | |
mit Molotowcocktails und Jagdgewehren. Sie setzten Kolonnen russischer | |
Fahrzeuge, die durch ihre Dörfer fuhren, in Brand und beschossen sie. Das | |
ermöglichte es der ukrainischen Armee, ihre Streitkräfte zusammenzuziehen | |
und eine erfolgreiche Gegenoffensive vorzubereiten. | |
## Schwere Kämpfe | |
Vor allem in Trostjanez tobten schwere Kämpfe, bei denen viele | |
Einwohner*innen starben. Einige wurden bei Angriffen getötet, andere zu | |
Tode gefoltert oder gefangen genommen. Viele Opfer wurden, wie in Bucha und | |
Mariupol, einfach in den Höfen von Wohnhäusern begraben. | |
Nach 30 Tagen Besatzung gelang es den ukrainischen Truppen, alle | |
besetzten Teile des Gebiets Sumy wieder zurückzuerobern. Dennoch ist der | |
Krieg hier allgegenwärtig. Es vergeht kein Tag, an dem Siedlungen an der | |
Grenze nicht Gegenstand von Frontmeldungen sind. | |
Waleri ist 25 Jahre alt und arbeitet beim örtlichen Rettungsdienst. Gerade | |
beseitigen er und seine Brigade hier an der Hauptstraße in Trostjanez die | |
Reste eines zerstörten Gebäudes. „Das war früher ein Klempnergeschäft. Und | |
jetzt ist alles verbrannt. Wir kümmern uns darum, damit der Unternehmer | |
sein Geschäft wieder aufbauen kann“, erklärt der junge Mann. | |
Anders als seine Kollegen, habe er bisher Glück gehabt, denn er sei in den | |
Trümmern noch nicht auf Leichen gestoßen. „Wir haben all die Monate jeden | |
Tag gearbeitet, aber ein Drittel des Bauschutts zerstörter Wohnungen haben | |
wir noch nicht aussortiert. Doch das müssen wir noch vor dem Winter | |
schaffen“, sagt er, raucht schnell seine Zigarette auf und macht sich | |
wieder an die Arbeit. | |
## Bis der Winter kommt | |
Vor dem Winter den Bauschutt sichten und das Nötigste wieder instandsetzen, | |
dieses Thema triebt hier viele um – wie die 73-jährige Switlana Maksymiwna. | |
Ihre Wohnung brannte im März komplett aus. Jetzt wohnt sie für wenig Geld | |
in einem kleinen Zimmer eines Hostels, geht aber jeden Tag nach Hause. „Das | |
sind Basik und Tschernysch – meine echten Freunde. Sie warten immer zu | |
Hause auf mich und gehen mit mir spazieren“, stellt sie ihre zwei Hunde | |
vor, die schon freudig und Schwanz wedelnd auf die alte Frau am Eingang | |
ihres zerstörten Hauses warten. | |
Heute hat sie ihnen Hühnerbeine zur Belohnung mitgebracht. Switlana | |
Maksymiwna hat Probleme mit ihren Beinen. Trotzdem läuft sie, auf einen | |
Stock gestützt, jeden Tag mehrere Kilometer vom Hostel zu sich nach Hause. | |
„Manchmal nimmt mich jemand mit oder ein Bus kommt. Ich muss jeden Tag hier | |
sein, um alles zu schaffen“, sagt sie und bittet in ihre Wohnung im zweiten | |
Stock. | |
Sie geht in ganz kleine Schritten, fünf bis sieben Minuten braucht sie, um | |
die Treppen hinaufzusteigen. Vor Ort wird das ganze Ausmaß ihres Verlusts | |
deutlich – von der Wohnung sind nur die Außenwände aus Backstein | |
übriggeblieben, alles andere ist niedergebrannt. Es gibt keine Trennwände | |
mehr zwischen den Zimmern und dem Flur. „Hier hatte ich einen Schrank mit | |
Geschirr, hier eine Waschmaschine und dort einen Kühlschrank“, sagt sie und | |
zeigt auf ein schwarzes Stück Metall. | |
Dann setzt sie ihren Rundgang durch die Überreste ihrer Wohnung fort. | |
Fliesen und Möbelstücke knacken unter den Füßen. Der Boden ist | |
zentimeterhoch mit Müll bedeckt. „Bevor es kalt wird, muss ich hier alles | |
aufräumen, um Zeit zu haben, Fenster einzubauen und Löcher in den Wänden | |
auszubessern. Ich werde hier leben“, sagt die alte Frau. | |
## Die Wahrheit kennt sie | |
Ihr zu widersprechen hat keine Sinn, zumal sie die Wahrheit wohl selbst am | |
besten kennt. Das Haus ist nicht mehr bewohnbar, es muss komplett renoviert | |
werden, jede Wohnung darin sieht aus wie die von Switlana Maksymiwna. Doch | |
sie versucht sich nichts anmerken zu lassen. Einen kleinen Eimer befüllt | |
sie mit Resten von zerbrochenem Geschirr. „Bis zum Winter muss alles | |
geschafft sein“, sagt sie wieder und steigt langsam die Treppe hinunter. | |
Unweit des Hauses der Rentnerin befindet sich die Süßwarenfabrik der Firma | |
Mondelēz International, die vor der Invasion weltweit führende Marken | |
herstellte. Während ihrer Besatzung errichteten die Russen hier ihr | |
Hauptquartier. | |
„Sie haben unsere Produkte gegessen, am liebsten Oreo-Kekse und | |
Barnie-Bären. Sie haben innen alles kaputt gemacht und sogar noch Sachen | |
mitgenommen“, sagt Olga, die Betreiberin der Fabrik. Diese hat ihre Arbeit | |
noch nicht wieder aufgenommen, da mehrere Werkstätten während der | |
Kampfhandlungen vollständig zerstört wurden. „Ich hoffe sehr, dass wir bald | |
wieder anfangen können. Jetzt müssen wir hier erst einmal alles in Ordnung | |
bringen. Das Schwierigste ist, alles zu reinigen, weil die Besetzer in | |
unseren Büros gewohnt und dort ihre Notdurft verrichtet haben“, sagt die | |
Frau und verzieht das Gesicht. | |
Die Einheimischen haben Angst, dass der Krieg wieder zurückkehren könnte. | |
Trostjanez hat zwar am meisten abbekommen, und es stehen noch große | |
Aufräumungsarbeiten bevor. Doch im Gegensatz zu anderen Städten im Gebiet | |
Sumy sind hier derzeit keine Explosionen zu hören. | |
## Abgeschnitten von der Kommunikation | |
Die 20.000 Einwohnerstadt Bilopillja befindet sich zehn Kilometer von der | |
russischen Grenze entfernt. Die Stadt wurde bereits in den ersten Stunden | |
nach Kriegsausbruch von russischen Truppen eingekesselt. Doch diese ließen | |
die Stadt links liegen, schnitten sie aber von der Kommunikation mit | |
ukrainischen Behörden ab. | |
In Bilopillja gab es zu diesem Zeitpunkt weder ukrainische Soldaten noch | |
Polizei, nur den Bürgermeister und seine Mitarbeiter*innen. Juri Sarko ist | |
schon lange Bürgermeister, es ist seine vierte Amtszeit. In all diesen | |
Jahren war er mit Problemen befasst, die es in jeder Kleinstadt gibt. | |
Aber dieses Mal stand der 55-Jährige vor ganz neuen, bislang unbekannten | |
Herausforderungen. Unter den Bedingungen der Besatzung musste er nicht nur | |
die Stadt und die umliegenden Dörfer schützen, sondern auch die Versorgung | |
sicherstellen. „Wir waren auf uns allein gestellt. In der Stadt gab es | |
keine russischen Truppen, aber auch keine ukrainischen. Die Vorräte gingen | |
sehr schnell zur Neige. Was tun?“, erinnert sich Sarko an die ersten Tage | |
des Kriegs. | |
Sein Büro im Stadtrat erzählt so einiges über ihn. Dort hängen an allen | |
Wänden Gemälde – alles historische Artefakte, die mit der Stadt verbunden | |
sind. Er entfaltet eine riesige Karte und zeigt, wie die russischen Truppen | |
vorrückten. „Sie haben uns eingekesselt. Aber als Einheimische wussten wir | |
natürlich, wo eine Straße war, die sie noch nicht gesperrt hatten und über | |
die es noch möglich war, die Stadt zu verlassen“, sagt er und fährt mit dem | |
Finger die „Straße des Lebens“ entlang. | |
## Orientierungslose Angreifer | |
Mit einem verschmitzten Lächeln fügt er hinzu: „Trotzdem haben wir alle | |
Verkehrszeichen entfernt, die Besatzer konnten sich in dem Gelände | |
überhaupt nicht orientieren.“ Dank dieser Straße hätten Nahrungsmittel, | |
Medikamente und Hygieneartikel in die Stadt gebracht werden können. „Das | |
Wichtigste war Mehl. Die Menschen brauchten doch Brot. Mehl konnten wir | |
auftreiben, und unsere Bäckerei hat die Leute nicht verhungern lassen“, | |
sagt Sarko. | |
Eine offizielle Evakuierung aus der Stadt gab es nicht, doch Angaben des | |
Bürgermeister zufolge hätten 30 bis 40 Prozent der Einwohner*innen | |
Bilopillja verlassen. Den Abzug der russischen Truppen beschreibt Sarko als | |
chaotische Flucht. „Sie machten sich aus dem Staub, so schnell sie konnten, | |
wieder über die Autobahn, aber in die Stadt hinein fuhren sie nicht. Wenn | |
sie das getan hätten, dann würde Bilopillja nicht mehr existieren“, ist | |
sich Sarko sicher und fügt hinzu: „Wir sind noch einmal mit dem Schrecken | |
davon gekommen. Doch der Krieg hat uns erreicht, nachdem die Russen hier | |
abgezogen waren. Jetzt bombardieren sie unsere Region jeden Tag.“ | |
In der Tat: Ununterbrochen gibt es Berichte aus Ortschaften rund um | |
Bilopillja, und es sind keine guten. Die russische Armee greift die | |
Grenzdörfer dieser Region weiterhin mit schwerer Artillerie und Flugzeugen | |
an. „Ein Flugzeug steigt über russischem Territorium auf, bombardiert uns | |
und landet sofort dann wieder“, berichtet Sarko. Er erzählt, dass es laut | |
russischer Propaganda angeblich keine Zivilisten mehr in Bilopillja und der | |
Region gebe, sondern nur noch ukrainisches Militär. „So erklären sie ihre | |
Angriffe. Aber tatsächlich folgen diese keiner Logik. Außer zivilen | |
Einrichtungen haben wir hier nichts.“ | |
Als Beispiel nennt er ständige Angriffe auf das psycho-neurologische Heim | |
Ata, das zwei Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt liegt. Das | |
Gelände wurde Dutzende Mal aus Waffen unterschiedlicher Kaliber beschossen, | |
alle Gebäude wurden beschädigt. | |
## Große Geschichte | |
Die 60 Bewohner*innen der Einrichtung, meist ältere Menschen, und mehr | |
als 100 Mitarbeiter*innen mussten mehrere Tage in den Kellern | |
verbringen, um sich vor dem Angriff der Russen zu verstecken, einige von | |
ihnen wurden verletzt. Als alles zerstört war, wurden alle nach Bilopillja | |
evakuiert. „Das war ein historisches Gebäude, über 150 Jahre alt. Es hat | |
zwei Kriege überstanden, aber nicht die russischen Angriffe“, sagt der | |
Bürgermeister verbittert. | |
„Unsere Stadt hat eine große Geschichte. Hier hat der berühmte Maler | |
Kasimir Malewitsch gelebt und die Schule besucht. Wir haben viele | |
historische Denkmäler. Ich wollte Bilopillja touristisch weiterentwickeln | |
und zur ersten energieeffizienten Stadt der Ukraine machen. Doch dann ist | |
Russland gekommen und hat all unsere Pläne zerstört“, sagt Sarko. Dann | |
ringt er sich ein Lächeln ab: „Wir werden diese Pläne auf jeden Fall | |
umsetzen. Doch die Hauptsache ist jetzt erst einmal zu siegen.“ | |
Aus dem Russischen von Barbara Oertel | |
17 Aug 2022 | |
## AUTOREN | |
Anastasia Magasowa | |
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