| # taz.de -- Kriegsverbrechen in der Ukraine: Unerwünschte Zeugen beseitigen | |
| > Im ukrainischen Dorf Bilka wurden zwei Menschen getötet. In Buryn sind | |
| > zwei Zivilisten verschwunden. Protokolle russischer Kriegsverbrechen. | |
| Bild: Uljana Belys (l.) Ehemann und Ljudmila Tschatschinas (r.) Sohn wurden von… | |
| Bilka/Buryn taz | Mehrere Hundert Menschen, meist Kinder und Frauen, stehen | |
| in der Nähe des Verwaltungsgebäudes in einer langen Schlange. Sie sind müde | |
| und treten ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Fahrzeuge, die | |
| humanitäre Hilfsgüter bringen sollen, hätten schon vor einer Stunde | |
| eintreffen sollen. | |
| Drei Wochen lang war das 1.500-Einwohner*innen-Dorf Bilka in der [1][Region | |
| Sumy] im vergangenen März unter russischer Besatzung. Doch auch vier Monate | |
| nach der Befreiung sind die Bewohner*innen immer noch auf humanitäre | |
| Hilfe angewiesen. Neben Dutzenden zerstörten Häusern hat das russische | |
| Militär auch irreparable Verluste hinterlassen. Aber diejenigen, die noch | |
| mehr von den russischen Kriegsverbrechen erzählen könnten, durften nicht | |
| weiterleben. | |
| „Wahrscheinlich sind sie zu unerwünschten Zeugen geworden“, sagt der | |
| Dorfvorsteher von Bilka, Michail Oleksandrowitsch, als er von zwei | |
| Anwohnern spricht, die von russischen Soldaten brutal getötet wurden. Ihre | |
| Leichen wurden nach dem Rückzug der Besatzer gefunden. „Die Männer wurden | |
| gleich in den ersten Tagen der Besatzung, am 2. und 3. März, gefangen | |
| genommen. Zuerst wurden sie geschlagen und gefoltert. Wahrscheinlich waren | |
| sie zur falschen Zeit am falschen Ort“, fährt der Dorfvorsteher fort. | |
| Ihm zufolge nahmen die Russen auch andere Einheimische gefangen, ließen sie | |
| aber wieder frei, nachdem sie sie mehrere Tage lang verhört hatten. | |
| Diejenigen Männer jedoch, die in den ersten Tagen in Gefangenschaft geraten | |
| waren, ließen die Russen nicht laufen. Sie zwangen sie, auf ihrer Basis zu | |
| arbeiten, Vieh zu schlachten, zu putzen und andere schmutzige Arbeiten zu | |
| verrichten. Die Soldaten gehörten der Panzerdivision Kantemirowskaja an, | |
| die in der russischen Armee als Elite gilt. Es gab sogar Inschriften an den | |
| Wänden des Hofes: „Hier war die 3. Kompanie.“ | |
| ## Leichen mit Folterspuren | |
| Am 15. März wurde die russische Armee aus dem Dorf vertrieben. Wenige Tage | |
| später fanden Anwohner die Leichen dieser Männer in einer Silogrube und in | |
| einem Schacht auf dem Bauernhof. „Sie wiesen offensichtliche Folterspuren | |
| auf und ihre Hände waren auf dem Rücken gefesselt“, sagt Michail | |
| Oleksandrowitsch mit langen Pausen und fügt hinzu: „Einem war ins Ohr | |
| geschossen worden, dem zweiten – von hinten ins Herz.“ | |
| Einer der Toten wurde als der 50-jährige Mykola Sawtschenko identifiziert, | |
| im Dorf kannten ihn alle. Er und seine Frau hatten sechs Kinder adoptiert. | |
| Ljudmila, die Frau von Mykola Sawtschenko, erinnert sich daran, als sie | |
| ihren Mann zum letzten Mal sah. „Es gab heftigen Beschuss, die Kinder und | |
| ich gingen in den Keller. Mein Mann bat um das Telefon und sagte, er würde | |
| anrufen und zurückkommen. Wir haben ihn nicht mehr gesehen.“ | |
| Das Haus der Sawtschenkos wurde von Granaten getroffen, doch das | |
| beschädigte Dach und die Fenster können repariert werden. „Das alles ist | |
| machbar. Aber meinen Mann, den gibt mir niemand zurück. Ohne ihn haben wir | |
| es sehr schwer. Aber wir werden weiterleben. Niemand wird aufgeben. Er | |
| wollte es so, und so wird es sein“, sagt die Frau und wischt sich ein paar | |
| Tränen aus dem Gesicht. | |
| Vom Dorf Bilka bis zur Stadt Buryn in der Region Sumy im Nordosten der | |
| Ukraine sind es 150 Kilometer. In Buryn marschierten die ersten | |
| [2][russischen Truppen am 24. Februar] gegen Mittag ein. Sie stoppten nicht | |
| in der Stadt, sondern setzten sich sofort in Richtung Kiew in Bewegung. | |
| Anwohner*innen erinnern sich, dass einen Monat lang jeden Tag drei bis | |
| vier Kolonnen russischer Fahrzeuge durch die Stadt auf ihrem Weg nach Kiew | |
| fuhren. Obwohl sich die Invasoren nicht in der Stadt selbst niederließen, | |
| richteten sie Kontrollpunkte an den Haupt- und Ausfallstraßen der Stadt | |
| ein. An einem Kontrollpunkt nahmen die russischen Soldaten drei Zivilisten | |
| fest. | |
| Die jungen Leute waren gerade auf dem Weg in ein Geschäft, um Brot zu | |
| kaufen, als sie von bewaffneten russischen Soldaten angehalten, aus dem | |
| Auto geholt und zusammengeschlagen wurden. An diesem Abend hörten | |
| Anwohner*innen Schüsse und Schreie am Checkpoint. Als die Männer weder | |
| in der Nacht noch am nächsten Morgen nach Hause zurückkehrten, machten sich | |
| ihre Angehörigen auf die Suche. | |
| Uljana, die Frau des vermissten Andriy Bely, und Ljudmila, die Mutter von | |
| Jaroslaw Tschatschina, nahmen all ihren Mut zusammen und beschlossen, alle | |
| Kontrollpunkte der Russen zu passieren. Gleich am ersten Kontrollpunkt | |
| erfuhren sie von russischen Soldaten, dass diese ihre Verwandten gesehen | |
| haben. „Aber uns wurde gesagt, dass sie nicht dort seien und dass wir nach | |
| Hause gehen sollten. Angeblich würden unsere Männer bald kommen“, erzählt | |
| Uljana. Später stellte sich heraus, dass sich die jungen Leute zu diesem | |
| Zeitpunkt tatsächlich in Gefangenschaft befunden und sogar die Stimmen | |
| ihrer Verwandten gehört, ihnen aber kein Signal hatten geben können. | |
| Weil ihre Verwandten nicht nach Hause zurückkehrten, gingen die Frauen | |
| jeden Tag zu den Checkpoints. Ljudmila erinnert sich, dass die Besatzer sie | |
| herablassend behandelten. Einige waren sehr grob. Als sie mehrmals keine | |
| Antwort auf die Frage nach dem Schicksal ihres Sohnes erhielt, fragte sie | |
| einen Soldaten, dessen Alter sie auf Anfang 20 schätzt: „Was tust du hier? | |
| Warum bist du gekommen? Von wem befreist du uns? Du bist doch noch ein | |
| Kind!“ Darauf habe er geantwortet: „Dafür schieße ich aber genau.“ | |
| Selbst nachdem die russischen Truppen Buryn verlassen hatten, kehrten die | |
| Vermissten nicht nach Hause zurück. Die Besatzer hatten sie mitgenommen und | |
| nach Russland gebracht. Davon erfuhren die Frauen erst, als im April die | |
| dritte vermisste Person nach einem Gefangenenaustausch wieder nach Hause | |
| gebracht wurde. Der 21-jährige Oleksiy weigerte sich, Einzelheiten über | |
| seine Gefangenschaft zu erzählen. Er sagte nur, dass sie etwa eine Woche | |
| lang in einem Feldlager für Kriegsgefangene auf der russischen Seite der | |
| Grenze festgehalten worden seien. | |
| ## Männer werden in Kursk festgehalten | |
| Uljana und Ljudmila haben keine Verbindung zu ihren Angehörigen. Nur von | |
| einem anderen freigelassenen Gefangenen, der sich mit Andriy und Jaroslaw | |
| in derselben Haftanstalt befand, erfuhren sie, dass ihre Männer im | |
| Untersuchungsgefängnis Nr. 1 in Kursk festgehalten werden. Die Frauen | |
| versuchten sofort, dorthin zu fahren, aber die russischen | |
| Grenzschutzbeamten verweigerten ihnen die Einreise. „Holen Sie sich die | |
| russische Staatsbürgerschaft und gehen Sie auf die Suche“, sagte einer von | |
| ihnen. | |
| Beide wissen nicht, warum ihr Mann und ihr Sohn dort festgehalten werden, | |
| was ihnen vorgeworfen wird und wann es gegebenenfalls zu einem | |
| Gerichtsverfahren kommt. „Wir leben nur von Austausch zu Austausch. Wir | |
| warten darauf, dass unsere Jungs endlich dabei sein werden. Wir haben alle | |
| internationalen Organisationen angerufen und angeschrieben. Niemand kann | |
| uns helfen. Es ist absurd. Das alles ergibt keinen Sinn. Wir warten so | |
| sehnsüchtig auf sie “, sagt Ljudmila mit Tränen in den Augen und greift | |
| nach Uljanas Hand. | |
| Offiziellen Angaben des Büros des ukrainischen Ombudsmanns zufolge gelten | |
| seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine mehr als | |
| 15.000 Menschen als vermisst. | |
| Aus dem Russischen: Barbara Oertel | |
| Die Autorin war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz Panter | |
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| 16 Aug 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anastasia Magasowa | |
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