| # taz.de -- Werkschau von Wild Billy Childish: Der Punk, der ein Hippie ist | |
| > Der umtriebige Wild Billy Childish wird 60. Eine Werkschau zeigt, wie der | |
| > britische Künstler die kulturelle Demenz der Rechten attackiert. | |
| Bild: Wild Billy Childish, links, mit Bandkollegen in viktorianischen Uniformen | |
| Ob Billy Childish, wie er selbst angibt, mehr als 125 Alben veröffentlicht | |
| hat, oder, wie sein deutscher Vertrieb Cargo errechnet hat, mehr als 130, | |
| oder, wie Ermittlungen des britischen Musikmagazins Mojo ergeben, mehr als | |
| 150 – die Frage können wir der Forschung überlassen. Fest steht, dass | |
| Childish der produktivste Musiker der ersten Punk-Generation ist. Das ist | |
| nicht zuletzt deshalb eine Leistung, weil der 59-jährige Brite auch noch | |
| als Maler, Bildhauer, Dichter und Romanautor tätig ist. | |
| Jetzt ist eine neue Werkschau des Mannes aus der Grafschaft Kent | |
| erschienen. „Punk Rock ist nicht tot. The Billy Childish Story. 1977 bis | |
| 2018“ versammelt 48 Stücke vornehmlich aus den Bereichen Garage-Rock, | |
| Sixties Beat und Punk, die Childish, dessen Lieblingsalbum von den Beatles | |
| das rohe Live-Album aus dem Hamburger Star-Club von 1962 ist, seit eh und | |
| je mit leicht variierenden Ansätzen beackert. | |
| Die Stücke der Box verteilen sich auf 22 Band- und Projektnamen. Am | |
| längsten – von 1989 bis 2000 – existierten Thee Headcoats, hier unter | |
| anderem mit dem Song „Girl from 62“ vertreten. „She was a girl from 62 / I | |
| was a boy from 59“, singt Childish da zu Beginn. Womit auch angedeutet | |
| wäre, warum die Box jetzt erscheint: Im Dezember wird er 60 Jahre alt. | |
| Zumindest in den frühen 1990er Jahren überschnitten sich Childishs gerade | |
| aktuelle Soundvorstellungen ausnahmsweise mit einem Teil des | |
| Indie-Zeitgeists. Für „Berühmtheiten“ der Grunge-Ära habe er eine | |
| „Authentizität“ repräsentiert, die sie sonst kaum fanden, schreibt der | |
| Stand-up-Comedian und Sunday-Times-Kritiker Stewart Lee in den Liner Notes. | |
| Gemeint ist nicht zuletzt Kurt Cobain. In der Zeit erschienen dann auch | |
| drei Thee-Headcoats-Alben beim US-Label Sub Pop, wo einst auch Nirvana ihre | |
| Karriere begannen. | |
| ## Man tat, was getan werden musste | |
| Die häufigen Namenswechsel seien keineswegs als subversive strategische | |
| Taten wider die Marketinggesetze des Musikbusiness zu verstehen, sagt | |
| Childish. Man habe halt immer getan, was gerade getan werden musste. Er | |
| erzählt das an einem Montagabend um 21.30 Uhr am Telefon. Montags malt er | |
| tagsüber immer, daher der späte Termin. „Es gab Zeiten, in denen wir unser | |
| Publikum loswerden wollten“, erläutert Childish. | |
| In der Zeit mit den Milkshakes in den früher 1980er Jahren seien | |
| Psychobillys zu den Konzerten gekommen. Das gefiel der Band nicht, weil | |
| diese für eine gewalttätige Atmosphäre sorgten. „Wir spielten deshalb mehr | |
| Balladen und Sixties-Stücke, was wiederum Mods anlockte. Die haben wir dann | |
| dadurch abgeschreckt, dass wir Chuck-Berry-Zeug gespielt haben. Wir mögen | |
| es generell nicht, wenn sich Leute übermäßig mit uns identifizieren.“ | |
| Trotz dieser Antihaltung ist Childish in seinem Heimatland bekannt genug, | |
| um für die dortige Version von „Celebrity Big Brother“ angefragt zu werden. | |
| 2006 war das; natürlich hat er abgelehnt. | |
| Mag es auch keine antikommerzielle „Strategie“ gegeben haben: | |
| Antikommerzielle „Späße“ haben sich Childish und Co. durchaus erlaubt. �… | |
| Milkshakes-Zeiten hat man uns vorgeworfen, wir würden zu viele Platten | |
| veröffentlichen, das sei doch kommerzieller Selbstmord.“ Die Reaktion der | |
| Band: Sie brachte vier an einem Tag heraus. Das war am 1. Februar 1981. | |
| Für Childish gehört die Aktion in die Kategorie der Dinge, „von denen man | |
| sich wünscht, dass sie jemand macht, die man dann aber doch selbst in die | |
| Hand nehmen muss, weil es kein anderer tut“. Das gilt auch für eine von ihm | |
| so genannte „Invasionsflotte“, die er 2013 mit seiner aktuellen Band CMTF | |
| initiierte. Dabei handelte es sich um 45 von eigener Hand bemalte | |
| Modellboote mit jeweils einer grünen Vinyl-Single von CMTF als Kiel. | |
| Mithilfe seiner damals dreijährigen Tochter ließ er sie an der | |
| Themsemündung zu Wasser. | |
| Dieser spaßguerillistische Scheinangriff auf die einstige Seemacht | |
| Großbritannien war ein aufwändiges Vergnügen für die Band um den | |
| Antinationalisten Childish, allein schon, weil es lange gedauert hatte, die | |
| Boote zu bemalen. Von Strategie will er auch in diesem Zusammenhang nichts | |
| wissen. Konzeptkunst? Nicht seine Tasse Tee. Die Aktion sei das Resultat | |
| „natürlicher Verspieltheit“ gewesen. | |
| ## Rupert Murdoch regiert die Ozeane | |
| Die politisch interessanteste Childish-Formation der jüngeren Vergangenheit | |
| sind [1][The Musicians of the British Empire] – ein Name, mit dem man | |
| bereits in den späten Nullerjahren auf das verstärkte Aufkommen eines neuen | |
| Nationalismus reagierte, der sich dann später im Brexit-Votum Bahn brach. | |
| Die Gruppe trat mit militärischen Insignien des Viktorianischen Zeitalters | |
| auf – jene Zeit, die britische Nationalisten dank Ausblendung | |
| geschichtswissenschaftlicher Fakten beziehungsweise einer „Cultural | |
| Dementia“, wie es der Historiker David Andress nennt, gern verklären. | |
| Auf „Punk Rock ist nicht tot“ ist aus dieser Phase unter anderem „Joe | |
| Strummer’s Grave“ enthalten, in dessen bissig-ulkigem Refrain Childish das | |
| Styling des Milliardärs und Ex-Musikindustriellen Richard Branson | |
| kommentiert und den 2002 verstorbenen Sänger von The Clash in seinem Grab | |
| vermodern sieht: „Cool Britannia / Jesus saves / Rupert Murdoch rules the | |
| waves / Richard Branson doesn’t shave / And Joe Strummer’s molding in his | |
| grave.“ | |
| Zu Childishs singulärer Veröffentlichungspolitik passt es, dass wenige | |
| Wochen nach der Dreifach-Box mit „Last Punk Standing“ gleich noch ein neues | |
| Studioalbum von CTMF erscheinen wird. Am Abend vor unserem Telefonat hat | |
| die Band ein Konzert gespielt, vom kommenden Werk waren aber nur drei | |
| Stücke im Programm. „We generally don’t promote things“, sagt Childish | |
| dazu. Ja, schon klar, Mann. | |
| Der Albumtitel beziehe sich nicht auf ihn, sagt Childish. Der Songtitel zum | |
| Thema sei als Frage formuliert: „Who’ll Be the Last Punk Standing?“ Er sei | |
| sich nicht mal sicher, ob er auf der Liste der Kandidaten stehe. In | |
| Wahrheit, fügt Childish halbironisch hinzu, sei er „sowieso kein | |
| Punkrocker, eher ein Hippie“. | |
| ## Ein schwerer Zusammenbruch | |
| Die neue Platte werde auch vom Thema Sterblichkeit bestimmt sein. Vor | |
| eineinhalb Jahren hatte er einen schweren Zusammenbruch. Als Faktoren nennt | |
| er seine zerrüttete Kindheit und jahrelangen gesundheitlichen Raubbau. Als | |
| er neun Jahre alt war, wurde er von einem Freund der Familie sexuell | |
| missbraucht; bis zu seinem 33. Lebensjahr war er Alkoholiker. | |
| Destabilisiert hätten ihn zwei Suizidfälle in der Familie. | |
| Childish erzählt das alles recht unvermittelt. In einem anderen Interview | |
| gibt er zu, dass er Fremden schon nach zehn Minuten intimste Dinge | |
| berichte. | |
| Er spüre die Folgen des Zusammenbruchs immer noch, sagt Childish. „Man | |
| sagte mir, ich müsse ein paar Jahre lang Medikamente nehmen“, er habe es | |
| aber „recht schnell hinbekommen, sie abzusetzen“. Er therapiere sich nun | |
| mithilfe von Naturheilmitteln, Yoga, Meditation und „viel Arbeit an sich | |
| selbst“. Zumindest in dieser Hinsicht ist an seinem Statement, er sei eher | |
| Hippie als Punk, also etwas dran. | |
| 5 Jul 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://damagedgoods.greedbag.com/wild-billy-childish-and-the-0/ | |
| ## AUTOREN | |
| René Martens | |
| ## TAGS | |
| Punk | |
| Antinationalist | |
| Hippies | |
| wochentaz | |
| Punkrock | |
| Großbritannien | |
| Fotografie | |
| taz.gazete | |
| Violent Femmes | |
| Punk | |
| Punk | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Gespräch mit Billy Childish: „Van Gogh ist mein Held“ | |
| Ein Gespräch mit dem britischen Künstler Billy Childish über das Bemalen | |
| von Ostereiern, Turnkeulen-Werfen und das Simplistische am Rock’n’Roll. | |
| Nachruf Gründer der Gang of Four: Andy Gill ist tot | |
| Der britische Punkrock-Pionier und Gründer der Band Gang of Four, Andy | |
| Gill, ist am Samstag an einer Erkrankung der Atemwege gestorben. | |
| Neues Album von Bad Breeding: Die Band mit dem Communiqué | |
| Die britische Punkband Bad Breeding inszeniert sich mit „Exiled“ als | |
| zornige Anarchogilde. Ihre Botschaften wirken aber unkonkret. | |
| Nachruf auf Fotografen Robert Frank: Der Amerikaner | |
| Chronist des Rock'n'Roll, Freund der Beatniks, eine New Yorker | |
| Künstlergestalt par excellence: Der große Fotograf Robert Frank ist tot. | |
| Punkrock-Szene in Südostasien: Auf der Suche nach den „Messies“ | |
| Ihr Film- und Buchprojekt „A Global Mess“ führt Diana Ringelsiep und Felix | |
| Bundschuh auf eine Reise. Dahin wo Punk noch echte Rebellion bedeutet. | |
| Neues Album der Violent Femmes: Sex, Tod und Religion | |
| Die US-Cowpunk-Band Violent Femmes veröffentlicht mit „Hotel Last Resort“ | |
| ein neues Album, das den Sound verfeinert und behutsam modernisiert. | |
| Berliner Antifa-Punk in Tel Aviv: „Make Racists Afraid Again“ | |
| ZSK ist eine grandiose Liveband. Nun hat die Berliner Punkband erstmals in | |
| Israel gespielt – und wurde laut gefeiert. | |
| Vivien Goldmans Musikbiografie: Identität, Liebe, Geld, Protest | |
| „Revenge of the She-Punks“ von Vivien Goldman ist eine überaus gelungene | |
| Geschichte des Punk – verfasst aus feministischer Perspektive. | |
| Punk mit Pop-Appeal: Musikgewordene Trotzphase | |
| Ladies and Gentlemen: Ordnungsamt und ihr Album "Mondo Marginalo" sind der | |
| etwas schimmelig riechende Beweis, das Punk nicht tot ist. |