# taz.de -- Vor der Wahl in Niedersachsen: Auf zur guten Landpartie | |
> Das Wendland, ein verschlafenes Eck, wurde von Protenstierenden erweckt. | |
> Heute suchen Umweltbewegte aus der Stadt das Idyll heim. | |
Bild: Zutiefst Kleinkunst: Hier auf der „Muetzingenta“, Landkreis Lüchow-D… | |
WENDLAND taz | Es war einmal ein Landkreis, der war klein und hatte nur | |
wenige Einwohner:innen, meist so um die 50.000. Er war so unbedeutend wie | |
unbekannt. Darüber waren die Menschen in dem kleinen Landkreis froh, so | |
hatten sie ihre Ruhe vor der großen Politik, vor großen Krisen und großen | |
Menschenansammlungen. Der kleine Landkreis heißt Lüchow-Dannenberg, viele | |
kennen ihn als „das Wendland“. | |
Wenden sind eigentlich Slawen, aber mit denen hat das Wendland nichts zu | |
tun. Es ist eine Landschaft im östlichen Niedersachsen, direkt an der | |
einstigen Grenze zur DDR. | |
Die Wendländer:innen, die zumeist Bauern waren, hatten es sich gemütlich | |
gemacht in ihren Reetdachhäusern und Rundlingsdörfchen, die Namen tragen | |
wie Dickfeitzen, Jiggel, Gohlefanz. Welch eine Idylle, hörten die | |
Wendländer:innen nicht auf zu schwärmen. Doch dann wurde in Gorleben, | |
einem langgestreckten Dorf an einem Seitenarm der Elbe, ein Zwischenlager | |
für Atommüll gebaut und der daneben liegende Salzstock für atomare | |
Forschungszwecke unterirdisch erschlossen. Seitdem war es vorbei mit Stille | |
und Beschaulichkeit im Wendland. | |
Fortan kamen unzählige, meist junge Menschen mit wilden Haaren, viel Gras | |
in den Taschen und noch mehr Protestlust. [1][1980 bauten sie ein | |
Hüttendorf in der Nähe einer Tiefbohrstelle] und nannten es Republik Freies | |
Wendland. Nach einem Monat räumten die Polizei und der Bundesgrenzschutz | |
das Lager. Das war der Beginn einer einzigartigen Protestkultur: gegen ein | |
Atommülllager in Gorleben, gegen atomare Aufrüstung, für Frieden, soziale | |
Gerechtigkeit und Naturverbundenheit. | |
## Landesweiter Ruhm | |
[2][Seitdem ist das Wendland bekannt] von Waase auf Rügen bis Waalhaupten | |
im Allgäu. Seitdem zieht es auch Städter nahezu magisch an. Manche | |
Besucher:innen machten wochenlang Urlaub, andere blieben übers | |
Wochenende. Mit den Jahren kamen immer mehr Tourist:innen, im Jahr 2019 | |
zählte das Tourismusmarketing Niedersachsen 544.297 Übernachtungen in 103 | |
„Beherbungsbetrieben“. 2021, nach einem herben Lockdowneinschnitt, waren es | |
schon wieder 260.634. Die Leute, die aus Hamburg und Berlin kamen und | |
irgendwas mit Medien machten, kauften sich bald Gehöfte und große Häuser, | |
in manchen Dörfern gibt es heute mehr „Stadtstoffel“ als Einheimische. | |
Sie alle trieb die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, nach Gemeinschaft, nach | |
Abenteuerlust. Sie wanderten mit Eseln, ihre Kinder ritten auf Ponys. | |
Auf ihren Grundstücken sammelten sie die von den Bäumen gefallenen Äpfel | |
auf und brachten sie zum Saftproduzenten Voelkel, sie kauften Eier beim | |
Bauern nebenan und bestellten bei ihm die Weihnachtsgans, bio natürlich. | |
Donnerstags fuhren sie nach Meuchefitz, einem winzigen Dorf mit Tagungshaus | |
und Kneipe, die nur an diesem einen Tag offen hat. Meuchefitz war der | |
„Anlaufpunkt für die Alternativszene im Landkreis“, so beschreibt die | |
Donnerstagskneipe sich selbst. Erst kamen nur Einheimische, seit vielen | |
Jahren aber immer mehr Tourist:innen. | |
Es gab einen Holzkohleofen, in dem Pizza gebacken wurde, manchmal suhlten | |
sich hinter dem Haus Schweine, die die Kinder streicheln durften. Gegenüber | |
der Tagungsstätte stand seit Jahrzehnten eine Wagenburg, darin wohnten so | |
um die zehn Frauen und Männer. Sie kochten für die Donnerstagsgäste, sie | |
standen für sie hinter dem Tresen und trugen das Essen an den Platz, | |
nachdem die Gäste mit ihrem Namen (oder mit dem, den sie bei der Bestellung | |
ihres Essens angegeben haben) aufgerufen worden waren. Sie konnten zwischen | |
drei Preisen wählen: Soli, Normal, Besserverdienende. Meuchefitz war die | |
letzte sozialistische Oase in der Bundesrepublik. | |
## Aufkeimende Langeweile | |
Irgendwann aber hatten die „Stadtstoffel“ jeden Radweg abgefahren, das | |
Wendlandbräu oft genug getrunken, jedem Local-Loser-Wettstreit, bei dem die | |
schlechtesten Sänger:innen gewannen, beigewohnt. Die reichen Städter in | |
ihren großen Häusern begannen sich zu langweilen und die Protestler wollten | |
auf andere, neue Weise aktiv und produktiv sein: der Republik zeigen, wie | |
ökologischer Landbau funktioniert, dass Solarenergie kein Hirngespinst ist, | |
wie Gemeinschaft und Solidarität gelebt werden können – in Kommunen, | |
Hofkollektiven, mit Gemeinschaftsküchen und wöchentlichem Plenum. | |
Und sie wollten mehr Kultur in der Ecke des Landes bringen, die politisch | |
so aufgeladen war wie kein anderer Winkel in der Republik. Die Idee eines | |
ganz besonderen Kulturfestes war geboren, die [3][Kulturelle Landpartie]. | |
Seit 1990 öffnen Bauernfamilien, Handwerker:innen, Künstler:innen | |
alljährlich zwischen Himmelfahrt und Pfingstmontag ihre Werkstätten, Höfe, | |
Ateliers und präsentieren ihre Produkte: handgewebte Teppiche, | |
Schafwollpullover, Patchworkdecken, Blumen aus recyceltem Glas, | |
Weihnachtsschmuck mit aufgemalten Hirschen, schmiedeeiserne Kerzenständer. | |
Es gibt Wildkräuterwanderungen, Kurse zum Drachenbauen, Bogenschießen, | |
Glasblasen, Zaubertrickworkshops, einen Gauklermarkt, indianische Gesänge, | |
Harfenkurse, Reiki oder einfach „kreative und meditative Augenblicke am | |
Waldesrand“, wie ein Therapeut vor einigen Jahren offerierte. Es ist das | |
größte selbst organisierte Kulturfestival Deutschlands, eine Melange aus | |
Kunst, Klamauk, Kitsch. Und es ist Kult. | |
## Die Caravan-Karawane | |
Jedes Jahr reisen Zehntausende zu den Wunderpunkten, wie die Stationen in | |
den Galerien, Läden, Garagen, Scheunen heißen. Es kommen Familien aus | |
Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Bayern. Manche schlafen im | |
Heuhotel im Schlafsack, andere zelten auf einem Campingplatz, der | |
eigentlich eine Kuhweide ist. Allein in diesem Jahr zog die KLP, wie | |
Wendländer:innen die Kulturelle Landpartie abkürzen, rund 50.000 | |
Frauen, Männer, Kinder an. | |
Manche radeln von Wunderpunkt zu Wunderpunkt – und stellen fest, dass die | |
Ölschinken in so mancher Scheune von Laien stammen, die als | |
Rentner:innen mit dem Malen begonnen hatten. Aber die Besucher:innen | |
sind freundlich, sie setzen sich kurz zu den supernetten | |
Wunderpunktler:innen, trinken deren Thermoskannenkaffee und essen den | |
selbst gebackenen Streuselkuchen. Dann lassen sie ein paar Münzen in eine | |
Blechdose klimpern und fahren weiter. | |
Die KLP wächst und wächst, mittlerweile reisen KLP-Tourist:innen in | |
Wohnmobilen, SUV und Bullis an. Sie verstopfen die Straßen, parken falsch | |
und irritieren das Wild in den Wäldern. Folli und Kurt, zwei Musiker, die | |
als Duo [4][Muul Op] aus dem Wendland Lieder auf Plattdeutsch singen, haben | |
ihre eigene Bezeichnung für die KLP gefunden: Klauen Lästern Pöbeln. Folli | |
und Kurt wissen, dass die Wendländer:innen ihr Geld mit der KLP | |
verdienen – und genervt davon sind. | |
Wenn die „Stadtaffen“, wie Folli und Kurt die Tourist:innen nennen, auf | |
ihren E-Bikes und Lastfahrrädern mit Anhänger über die Straßen tuckern, | |
fühlten diese sich so naturverbunden wie nachhaltig. Dabei hätten die gar | |
kein Gefühl für Tiere und Landwirtschaft, sagen Folli und Kurt. Die | |
„Stadtaffen“ seien nicht mal gewillt, 5 Euro für Musik auszugeben, legten | |
aber locker 8 Euro für ein Stück Bio-Erdbeerkuchen hin. Dabei sei der | |
tiefgefroren und vom letzten Jahr. | |
Aber das ist egal. Und wenn die KLP wegen Corona nicht ausfällt, findet sie | |
auch nächstes Jahr wieder statt. | |
9 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Atommuellzwischenlager-Gorleben/!5827707 | |
[2] /Serie-ueber-die-deutsch-deutsche-Grenze/!5712877 | |
[3] https://www.kulturelle-landpartie.de/ | |
[4] https://wendland-net.de/partner/muul-op | |
## AUTOREN | |
Simone Schmollack | |
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