# taz.de -- Von Martin Schulz bis Goethe: Über die Corona-Einsamkeit | |
> Wird Einsamkeit jetzt Mainstream? Dass ein Virus, das stets das Böse | |
> will, jetzt Gutes schafft, ist doch zu goetheanisch gedacht. | |
Bild: Einsames Rauchen vor sozialen Medien in der Coronapandemie | |
In der „Single-Hochburg“ Westberlin kam man im Sozialwissenschaftsstudium | |
nicht um „Die einsame Masse“ des US-Soziologen David Riesman herum. Nach | |
ihm gab es die innen- und die außengeleiteten und die traditionsgeleiteten | |
Typen. Die zwei letzteren galten uns als irregeleitet. Jetzt ist es „Das | |
einsame Individuum“, das im Neoliberalismus in die Irre geht – befreit und | |
vereinsamt. Die englische Ökonomin Noreena Hertz hat sich Gedanken darüber | |
gemacht und behauptet im Spiegel: „Einsamkeit ist so schädlich wie 15 | |
Zigaretten.“ Sofort überlege ich mir: Wenn beides zusammenkommt, einsames | |
Kettenrauchen also – wie schädlich ist das? | |
Die Gedanken und Erhebungen über schädliche Vereinsamung, die Hertz äußert | |
bzw. zitiert, sind im Coronalockdown aktuell, weil man inzwischen weiß, | |
dass einsame Menschen ihn schlechter aushalten als gesellige. Die | |
Professorin weiß das auch von ihren Studenten. Als sie studierte, kannten | |
ihre Kommilitonen noch keine Einsamkeit. Erst seit der Bologna-Reform und | |
dem amerikanisierten Studium, an dessen Ende man einen albernen Hut in die | |
Luft wirft. | |
„Einsamkeit und Populismus“ hängen für Hertz zusammen, sie hält das | |
Anwachsen rechter Parteien und Wähler in den USA und Europa für eine | |
Bewegung der Vereinsamten, auch die zunehmende Religiosität. Aus Japan weiß | |
sie, dass zur Betreuung alter Leute „inzwischen häufig“ Roboter eingesetzt | |
werden. Umgekehrt begeht dort so mancher vereinsamte alte Mann einen | |
Diebstahl, um ins Gefängnis zu kommen, wo er unter Menschen ist. Was jeder | |
Idee von der Haft als Strafe Hohn spricht. | |
Hertz hält vor allem die heutigen Jungen für „definitiv einsamer als die | |
vor 20 Jahren,“ wofür sie nicht zuletzt die Smartphones und die „sozialen | |
Medien“ verantwortlich macht. Die evangelische Kirche plakatiert dieser | |
Tage mit einem Foto, das einen älteren Menschen im Gespräch mit einem | |
Gegenüber im Smartphonedisplay zeigt. Darunter steht: Auch wenn wir Abstand | |
halten, bleiben wir verbunden. | |
Hertz sagt: „Die Idee, dass es Individualismus und Freiheit zum Nulltarif | |
gibt, hat sich als falsch erwiesen.“ Die sozialen Medien seien „die | |
Tabakindustrie des 21. Jahrhunderts“. Staat und Unternehmen müssten | |
„kulturelle Einrichtungen“ gegen Einsamkeit schaffen. | |
Der Ex-SPD-Parteivorsitzende Martin Schulz kann der durch | |
Coronaschutzmaßnahmen zunehmenden Vereinsamung durchaus etwas abgewinnen: | |
„Die Staatsverachtung hat einen Dämpfer bekommen“, tut er im selben | |
Spiegel-Heft kund, in dem das Interview mit Noreena Hertz abgedruckt ist. | |
## Positive Zeichen | |
Sie sieht eher positive Zeichen von unten, d. h von den vom staatlichen | |
Maßnahmekatalog Betroffenen – den „Men on the Street“: Diese schämten s… | |
nicht mehr ihrer Vereinsamung, als läge diese an ihnen und ihrem | |
schwierigen Charakter oder ihrem mangelnden Erfolg.“ | |
Die englische Ökonomin denkt inzwischen sogar so positiv, dass sie meint: | |
„Vielleicht ist die Pandemie der Katalysator für die Veränderungen, die wir | |
brauchen“, wobei ihr so etwas Ähnliches wie der „New Deal“ von Roosevelt | |
nach der „großen Depression“ vorschwebt. Aber dass ein Virus, das stets das | |
Böse will, jetzt Gutes schafft, ist doch zu goetheanisch gedacht. | |
3 Jan 2021 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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