| # taz.de -- Industrie in Oberschöneweide: Fachkräfte dringend gesucht | |
| > Im Oberschöneweide gab es zu DDR-Zeiten große Betriebe. Übrig blieben | |
| > einige kleine Betriebsteile, die sich selbst privatisierten. Ein | |
| > Rundgang. | |
| Bild: Oberschöneweide: Künstler Ralf Schmerberg macht aus einer alten Industr… | |
| Bis zur Wende standen in Oberschöneweide die größten Berliner Betriebe. | |
| Übrig blieben nach ihrer Stilllegung (unter anderem über | |
| Scheinprivatisierungen) durch die Treuhandanstalt einige kleine | |
| Betriebsteile, die sich selbst privatisierten. Eine solche Ausgründung war | |
| die Firma Silicon Sensor ([1][heute First Sensor]), eine Art „Staat-up“, | |
| dessen Entstehung so wie bei vielen anderen Ausgründungen aus abgewickelten | |
| DDR-Betrieben verlief: Erst „Kurzarbeit null“, dann | |
| Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Vereinsgründung, Fördermittel vom Ministerium | |
| für Forschung, Bankkredit, Grundstück erschließen, Firmengebäude errichten, | |
| europäische Projekte angehen, Bank wechseln … | |
| In der „Halbleiterei“ kostet jede Maschine ein Vermögen. Aber der Markt war | |
| groß und wird immer größer und globaler: „Optische Sensoren stecken übera… | |
| mit drin“, meinte der Firmengründer Dr. Bernd Kriegel. Er brachte das | |
| Privatunternehmen 1999 zusammen mit einem Investor an die Börse. Als es gut | |
| lief (160 Mitarbeiter, 180 Millionen Umsatz), warf der neue Aufsichtsrat | |
| ihn raus. Kriegel brauchte lange, um ohne Verbitterung darüber zu sprechen. | |
| 2019 wurde die Firma von TE Connectivity übernommen. Der amerikanische | |
| Konzern erlebte nach der Übernahme einen steilen Kursanstieg. | |
| Für die älteren Mitarbeiter stellte sich die Firmenentwicklung ungefähr so | |
| da: eine relativ gemütliche Routine mit Brigadeleben zu VEB-Zeiten, ein | |
| gesteigertes Engagement in der Ausgründungszeit und dann, „als ein | |
| Geschäftsführer den nächsten ablöste und jeder einen anderen Spleen hatte�… | |
| ein aktionärsorientiertes Wirtschaftsregiment. | |
| „Das Betriebsklima war zu Anfang mitreißend, es wurden Visionen | |
| diskutiert“, sagt eine Technikerin. „Wir waren deswegen wie vom Donner | |
| gerührt, als er entlassen wurde. Wir sind zum Bowling gegangen und haben | |
| nach Feierabend noch manchmal irgendwo zusammengesessen, einmal hat uns | |
| Bernd Kriegel sogar alle nach New York eingeladen. Jetzt habe ich nicht | |
| mehr so die Betriebsverbundenheit, ich identifiziere mich mit meiner | |
| Arbeit, aber nicht mehr mit der Firma.“ | |
| ## Eine hohe Arbeitszufriedenheit | |
| Eine Ingenieurin meint: „Ich habe mein Leben gern in der Firma verbracht, | |
| also eine hohe Arbeitszufriedenheit, obwohl das Gehalt nicht immer stimmte. | |
| Mein Arbeitsplatz hat sich stetig weiterentwickelt: Immer wieder gab es | |
| Innovationen, neue Produkte, neue Maschinen, neue Menschen-Kontakte.“ | |
| Bei First Sensor werden in Hochtemperatur (bei 1.200 Grad) auf [2][Wafern] | |
| (aus denen dann bis zu 1.000 Chips „rausgesägt“ werden) drei Schichten | |
| aufgetragen: Oxyd, Nitrit und Metall. Diese Allzweck-Photodioden sind in | |
| der Kraftfahrzeug-, Medizin-, Kamera-, Automation, Gebäude- und | |
| Militärtechnik sowie in der Telekommunikation in Gebrauch. Der Betrieb hat | |
| das Problem, junge Leute zu finden, weil er zu wenig zahlt. Er sucht | |
| dringend Fachkräfte. | |
| Die Firma [3][„Werkzeugbau Dunkel“] ist ebenfalls eine Ausgründung aus dem | |
| Werk für Fernsehelektronik (WF), blieb jedoch als Mieter in deren Räumen, | |
| nachdem Samsung das DDR-Werk übernommen, modernisiert und dann dichtgemacht | |
| hatte. Ihre Hauptkunden sind heute die Siemens-Kraftwerkssparte, das Luft- | |
| und Raumfahrtunternehmen von Rolls-Royce und Continental-Industry, wobei es | |
| meist um Einzelprodukte geht, nur gelegentlich um kleine Serien. | |
| Der Betrieb wurde 1991 von Christian Dunkel zusammen mit vier Mitarbeitern | |
| der WF-Abteilung als GmbH gegründet. Seine Firma ist heute beim Werkzeugbau | |
| eine der modernsten in Berlin. „Um gute Werkzeugmacher mit langjähriger | |
| Berufserfahrung zu bekommen, muss man anständige Löhne zahlen,“ sagt | |
| Dunkel. | |
| ## Früher wurde am Reißbrett gezeichnet | |
| Seine Firma begann mit 40 Mitarbeitern aus dem WF, die nächsten sprach er | |
| in vier Ostberliner und einem Westberliner Betrieb an, als die in Konkurs | |
| gingen. Heute sind es 100. Anfänglich bekam Dunkel Fördergelder in Höhe von | |
| 4,5 Millionen DM sowie einen Investitionszuschuss zum Bankkredit, der ihn | |
| zur Schaffung von Arbeitsplätzen verpflichtete. | |
| Die ersten Jahre wurde im Schichtsystem gearbeitet, inzwischen nicht mehr. | |
| „Mit guten Werkzeugmachern kann man das nicht machen,“ so Dunkel. Er | |
| investierte rund 22 Millionen in neue Fräß-, Schleif-, Säge-, Bohr-, Dreh-, | |
| Wasserstrahlschneide- und Drahterosionsmaschinen sowie in diverse Software. | |
| Viele Maschinen sind mit Beschickungsrobotern ausgerüstet und können zum | |
| Beispiel in einer Nacht „mannlos“ ein Dutzend Werkstücke herstellen. Auf | |
| dem Rechner sieht der Einrichter das Bauteil in 3-D. Früher wurde es am | |
| Reißbrett gezeichnet. Die Kunden verlangen aber immer kürzere Lieferzeiten. | |
| Einer der Werkzeugmacher hält die Materialbeschaffung in der heutigen | |
| globalen Marktwirtschaft und mit dem Internet für die wesentliche | |
| Veränderung zu früher und dass man für die CNC-gesteuerten Maschinen | |
| „hochgradige Computerkenntnisse“ haben muss. Die Arbeit sei dadurch exakter | |
| geworden, manche Produkte müssen bis in den My-Bereich genau gefertigt | |
| werden. Die Hierarchien seien jetzt flacher, es gebe keine Meister mehr. | |
| „Dafür sind wir durchcomputerisiert – vom Auftragseingang bis zum | |
| Warenausgang.“ | |
| Demnächst übernimmt der holländische Schwiegersohn von Christian Dunkel die | |
| Firma. Der für Handwerksbetriebe zuständige Gewerkschaftssekretär bei der | |
| IG Metall gibt zu bedenken: „Man muss sehen, wo die Entwicklung in dieser | |
| Branche hingeht. Möglich ist etwa, dass irgendwann 3-D-Drucker Einzug bei | |
| den Werkzeugmachern halten. Das ändert noch mal alles.“ | |
| 8 Aug 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.first-sensor.com/de/ | |
| [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Wafer | |
| [3] https://www.werkzeugbau-dunkel.de/de/kontakt/ | |
| ## AUTOREN | |
| Helmut Höge | |
| ## TAGS | |
| Kolumne Wirtschaftsweisen | |
| Oberschöneweide | |
| Wende | |
| DDR | |
| Berlintourismus | |
| Bienen | |
| Die Wahrheit | |
| Kolumne Wirtschaftsweisen | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Bienen in Berlin: Luftkampf um den Nektar | |
| Von Berlins Wildbienen, denen Millionen Honigbienen in der Stadt den Platz | |
| streitig machen, und noch vielen anderen Bienensorgen. | |
| Die Wahrheit: Frau Schwendinger der Greifvögel | |
| Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (126): Wie aus mehreren | |
| Arten zusammengesetzt wirkt der Sekretär, der schreitende Greif. | |
| Von Martin Schulz bis Goethe: Über die Corona-Einsamkeit | |
| Wird Einsamkeit jetzt Mainstream? Dass ein Virus, das stets das Böse will, | |
| jetzt Gutes schafft, ist doch zu goetheanisch gedacht. |