# taz.de -- Vergewaltigung in Nigeria: Das Schweigen brechen | |
> Im Norden Nigerias spricht man nicht über sexuelle Gewalt. Jetzt beginnt | |
> die Internetkampagne #ArewaMeToo, das zu ändern. Ein Wagnis. | |
Bild: Aktivistin Aisha Usman (rechts) spricht mit der Mutter eines Opfers | |
KADUNA taz | Zum Treffen in der nordnigerianischen Millionenstadt Kaduna | |
hat die junge Frau einen dunkelblauen Tschador übergeworfen. Ihren Namen | |
möchte die Mutter von zehn Kindern nicht nennen. Die Sorge, dass ihn jemand | |
lesen wird, ist zu groß. Sprechen möchte sie aber unbedingt über das, was | |
im vergangenen Jahr ihrer achtjährigen Tochter widerfahren ist. | |
Das Kind wurde ganz in der Nähe des Wohnhauses von einem Nachbarjungen | |
vergewaltigt. Das begleitet die Familie bis heute. „Sie hat nicht geblutet. | |
Aber ich sah es. Wir hatten kein Geld, um ins Krankenhaus zu gehen. Deshalb | |
habe ich meine Tochter mit Blättern, die wir in der traditionellen Medizin | |
nutzen, behandelt.“ | |
Die Mutter erstattete weder Anzeige noch nahm sich die Familie einen | |
Anwalt. Auf die Frage, warum, lächelt sie müde und etwas ungläubig. „Wir | |
sind arm und haben dafür kein Geld.“ | |
Auch war der Druck von der Familie des Täters groß. Sollte die Tochter | |
sprechen, würde man sie vor Gericht der Lüge bezichtigen. Immerhin sei die | |
Täterfamilie mittlerweile weggezogen. „Ich weiß nicht, wo sie jetzt wohnt. | |
Ich möchte sie aber nie wieder sehen.“ | |
## „Die schwächsten Kinder werden vergewaltigt“ | |
Während die Mutter spricht, hört ihr Aisha Usman aufmerksam zu. In Kaduna | |
ist Usman vor allem für ihre Aufklärungsarbeit bei HIV und Aids bekannt. | |
Sie kümmert sich aber auch um Vergewaltigungsopfer, die sie im Krankenhaus | |
untersuchen lässt, sie ist in Kontakt mit der Polizei und einem Frauenhaus. | |
Fälle wie diesen kennt sie zur Genüge. „Die Kinder, die am schwächsten | |
sind, werden vergewaltigt – und nicht die von reichen Vätern. Dabei sage | |
ich den Müttern immer: Ihr dürft nicht zulassen, dass euren Kindern so | |
etwas passiert. Doch häufig kann die Mutter nicht einmal für sich selbst | |
sorgen, geschweige denn für das Kind.“ | |
„Eltern haben oft nicht das Geld, zum Gericht zu gehen oder eine | |
Krankenhausrechnung zu bezahlen“, erlebt auch Richterin Saadatu Hamma bei | |
ihrer täglichen Arbeit. Daher komme es auch zu Bestechungsversuchen von | |
Seiten der mutmaßlichen Täter. „Es sind weniger die Gerichte, die bestochen | |
werden, sondern mehr die Opfer. Geld spielt immer eine Rolle.“ | |
## Immer mehr Jungs unter den Opfern | |
Verlässliche Statistiken zu Vergewaltigung im konservativen, mehrheitlich | |
muslimischen Norden Nigerias gibt es nicht. Saadatu Hamma schätzt, dass 98 | |
Prozent der Fälle nicht angezeigt werden. Aktuell sei auffällig, dass die | |
Opfer immer jünger werden. Häufig sind es Kinder und Kleinkinder. „Es | |
vergeht keine Woche, in der ich nicht von einer Vergewaltigung höre“, sagt | |
auch Aisha Usman. | |
Sie erlebt außerdem, dass immer mehr Jungen vergewaltigt werden. „Einige | |
Männer glauben, dass sie sich so nicht mit HIV infizieren können. Und | |
natürlich können die Jungs nicht schwanger werden.“ | |
Dass die Dunkelziffer der Vergewaltigungen hoch ist, dafür spricht auch | |
[1][der Hashtag #ArewaMeToo]. Das Wort Arewa heißt „Norden“ auf Haussa, die | |
am weitesten verbreiteten Sprache in Nordnigeria, und wird als | |
Sammelbegriff für diese Region verwendet. Seit Ende Februar heizt der | |
Hashtag auf Twitter eine Diskussion darüber an wie selten zuvor im Norden | |
Nigerias, und sie läuft weiter. | |
Im Bundesstaat Niger gibt es bereits den Ableger #ArewaMeTooMinna. Auf | |
Twitter veröffentlichen junge Menschen Fotos und schreiben, dass sie in | |
Schulen, Kirchen und Moscheen über Missbrauch sprechen. | |
Als eine Urheberin von #ArewaMeToo gilt Maryam Awaisu, die sogar kurz | |
verhaftet wurde, schreibt Amnesty International. Es heißt, dass sie und | |
ihre Mitstreiterinnen mutmaßliche Täter denunziert haben sollen. Auch | |
schreiben sie, dass sie „ermittelt hätten“. | |
## Der Hashtag: Hilfreich oder nicht? | |
„Dafür sind Behörden zuständig“, kritisiert jedoch Hafsat Mohammed Baba, | |
Kommissarin für Frauenangelegenheiten und soziale Entwicklungen in Kaduna. | |
Auch hätten einige Behauptungen in den sozialen Medien nicht gestimmt. Den | |
Hashtag hält Hafsat Mohammed Baba deshalb für „wenig hilfreich“. | |
Das Tolerieren von Gewalt gegen Mädchen und Frauen in Nigeria ist nicht nur | |
unter Muslimen im Norden ein Problem. Ende Juni gab es | |
Frauendemonstrationen, nachdem dem Leiter der christlichen Kirche | |
„Commonwealth of Zion Assembly“ die Vergewaltigung einer 17-Jährigen | |
vorgeworfen worden war. | |
Vor einer Woche machte ein Video Furore, das zeigt, wie Nigerias jüngster | |
Parlamentsabgeordneter Elisha Abbo in weiblicher Begleitung einen Sexshop | |
besucht und die Besitzerin verprügelt, weil seiner Begleitung schlecht | |
wurde – als die Polizei kam, wurden die beiden Frauen verhaftet – er blieb | |
frei. | |
Damit #ArewaMeToo tatsächlich das Schweigen bricht, muss sich in der | |
Gesellschaft noch viel ändern, sagt Hadiza Isma el-Rufai. Sie ist die | |
Ehefrau des Gouverneurs von Kaduna und Autorin des Romans „An Abundance of | |
Scorpions“, in dem sie über Frauen in Nordnigeria schreibt. | |
„Wenn hier eine Tochter weinend von ihrer Vergewaltigung berichtet, denkt | |
man zuerst an den Ruf der Familie. Man wird ihr sagen: ‚Schweig, sonst | |
heiratet dich niemand. Mach uns keine Schande‘“, kritisiert Hadiza Isma | |
el-Rufai. | |
12 Jul 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/hashtag/ArewaMeToo | |
## AUTOREN | |
Katrin Gänsler | |
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