# taz.de -- Veränderungen im Asylrecht: Ein Grundrecht als Zombie | |
> Heute ist der Schutz für Geflüchtete viel höher als noch 1993. Das und | |
> mehr verkennt der aktuelle Diskurs um Bleiberecht und Obergrenzen. | |
Bild: Die Lust an der Diskussion über ein Grundrecht, das kaum noch Bedeutung … | |
„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“. So hieß es nach dem Krieg im | |
Grundgesetz – bis heute. Mittlerweile sorgt der Satz nur für | |
Desorientierung. | |
Anfang der 1990er Jahre war das Asylrecht nach Auflösung des Ostblocks | |
bestimmendes Thema der deutschen Innenpolitik. Damals kamen vor allem | |
Osteuropäer nach Deutschland, die Zahl der Asylsuchenden stieg bis auf | |
438.000 im Jahr 1992, ein schockierender Rekord. Die Anerkennungsquote | |
indes lag unter 10 Prozent. Die CDU/CSU forderte eine Grundgesetzänderung | |
und hetzte gegen die SPD: „Jeder Asylant ist ein SPD-Asylant.“ Selbst die | |
pogromartigen Ausschreitungen gegen Flüchtlingsheime in Hoyerswerda und | |
[1][Rostock-Lichtenhagen] wurden von der Union als Argument genutzt. | |
[2][Im Dezember 1992 gab die SPD nach, im Mai 1993 stimmte der Bundestag | |
über den „Asylkompromiss“ ab]. Damals gab es dramatische Szenen: Gegner | |
blockierten die Wege ins Bonner Regierungsviertel, Abgeordnete wurden mit | |
Hubschraubern und Booten zur Abstimmung gebracht. Auch die Hoffnungen auf | |
das Bundesverfassungsgericht wurden enttäuscht. 1996 billigte es die | |
Grundgesetzänderung. | |
Heute hat das Asylgrundrecht einen eigenen Artikel im Grundgesetz, den 16a, | |
und der vertraute Satz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ steht ganz | |
vorn. Dann aber folgen vier Absätze voller Einschränkungen, die dem | |
Grundrecht praktisch jede Wirkung nehmen. | |
Der Schutz ist heute höher | |
Wichtigste Einschränkung des Grundrechts auf Asyl ist die sogenannte | |
Drittstaaten-Regelung: Wer über einen EU-Staat oder einen anderen sicheren | |
Drittstaat nach Deutschland einreist, kann sich nicht mehr auf das | |
Asylgrundrecht berufen. Faktisch führt das dazu, dass sich nur noch | |
Flüchtlinge, die mit dem Flugzeug nach Deutschland kommen, auf das | |
Grundrecht stützen können. 2017 wurden von 600.000 entschiedenen | |
Asylanträgen deshalb nur 0,7 Prozent anerkannt. Das Grundrecht spielt in | |
der Praxis also fast keine Rolle mehr. Es wurde 1993 faktisch abgeschafft. | |
Dadurch wurden Flüchtlinge in Deutschland aber nicht rechtlos gestellt. | |
Schließlich hat Deutschland die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) | |
unterzeichnet, die dem Schutz politisch Verfolgter dient. In den Jahren | |
nach 1993 wurde es üblich, dass Flüchtlinge verschleierten, durch welchen | |
Drittstaat sie nach Deutschland einreisten. Sie konnten deshalb nicht | |
dorthin abgeschoben werden und bekamen in Deutschland doch ein | |
Asylverfahren. Wenn sie anerkannt wurden, erhielten sie als GFK-Flüchtlinge | |
das sogenannte kleine Asyl mit etwas schlechterem Status. | |
Doch das war nur eine Zeit des Übergangs. 1999 beschlossen die EU-Staaten, | |
das Asylrecht europäisch zu harmonisieren. Bis 2005 wurden Mindeststandards | |
beschlossen, die bis 2013 deutlich verbessert wurden. Das Gemeinsame | |
Europäische Asylsystem besteht nun aus drei Richtlinien: Asylverfahren, | |
Anerkennung/Qualifikation, Aufnahmebedingungen. Auf diesen EU-Richtlinien | |
beruht inzwischen auch das deutsche Asylgesetz. Hinzu kommt die | |
Dublin-III-Verordnung, die regelt, welcher EU-Staat für das Asylverfahren | |
zuständig ist (meist der Staat der Einreise). | |
Der Schutz für Flüchtlinge ist heute deutlich höher als vor 1993, denn das | |
EU-Asylrecht vermeidet zahlreiche Schwächen des deutschen Grundrechts auf | |
Asyl. So gilt das EU-Recht auch für geschlechtsspezifische Verfolgung, | |
schützt also auch Frauen, die aus Angst vor Beschneidung und | |
Zwangsverheiratung fliehen. Zweitens schützt das EU-Recht generell vor | |
nichtstaatlicher Verfolgung etwa durch die Taliban in Afghanistan – während | |
das deutsche Grundrecht nur bei staatlicher Verfolgung galt. Drittens und | |
vor allem aber schützt das EU-Recht nicht nur Menschen, die vor gezielter | |
Verfolgung flüchten, sondern auch Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge. | |
Scheindebatte statt Aufklärung | |
Obwohl das deutsche Grundrecht auf Asyl also nur noch in einer kleinen | |
Nische Relevanz hat, spielt es in der öffentlichen Diskussion immer noch | |
eine erstaunlich große Rolle. Konservative fordern immer wieder seine | |
Abschaffung, als ob sich so die Zahl der Flüchtlinge spürbar senken ließe. | |
Grüne, Linke und Sozialdemokraten bekennen sich dagegen zum Grundrecht auf | |
Asyl, so als ob sich damit noch Humanität beweisen ließe. Manche haben | |
vielleicht wirklich keine Ahnung, andere finden es praktischer, eine | |
Scheindebatte zu führen, als den Wählern zu erklären, dass Deutschland | |
längst ein europäisches Asylrecht hat. | |
Nach 1993 ist also nicht das Grundrecht auf Asyl in Vergessenheit geraten, | |
sondern seine faktische Abschaffung. Dass hunderttausende Flüchtlinge nach | |
Deutschland kommen, obwohl das Grundrecht auf Asyl fast keine Rolle mehr | |
spielt, übersteigt die Vorstellungskraft vieler und zeigt, wie schwer es | |
ist, Verständnis für das Recht und die Mechanismen der EU zu schaffen. | |
Wahrscheinlich wäre es für den politischen Diskurs transparenter gewesen, | |
das deutsche Grundrecht auf Asyl ganz abzuschaffen, als es nur auf einen | |
kümmerlichen symbolischen Rest einzuschränken. AfDler könnten dann | |
jedenfalls nicht mehr maliziös darauf verweisen, dass ja „weniger als ein | |
Prozent“ der Flüchtlinge nach Artikel 16a anerkannt werde. Und | |
[3][Innenminister Horst Seehofer (CSU) könnte seine Zurückweisungspläne] | |
nicht mehr mit unpassenden Verweisen auf die (von EU-Recht verdrängte) | |
Drittstaaten-Regelung in Artikel 16a verteidigen. Und auch Kanzlerin Angela | |
Merkels Satz „Das Grundrecht auf Asyl kennt keine Obergrenze“ würde von | |
mehr Leuten als gut klingende, aber irrelevante Rhetorik erkannt. | |
Die Lust an der Diskussion über ein Grundrecht, das kaum noch Bedeutung | |
hat, lenkt ab. Die anachronistische Debatte verdeckt zum Beispiel, dass | |
seit zwei Jahren auf EU-Ebene über eine Änderung des wirklich relevanten | |
EU-Asylrechts diskutiert wird. Dabei soll vor allem die Weiterwanderung von | |
Flüchtlingen verhindert werden. Deutschland könnte dann zum Beispiel nicht | |
mehr hunderttausende Asylverfahren übernehmen, für die es nach den | |
Dublin-Regeln eigentlich gar nicht zuständig ist. In Deutschland wird das | |
jedoch kaum zur Kenntnis genommen. Ausgerechnet in der zentralen | |
Migrationsfrage verstellen Scheindebatten den Blick auf das Wesentliche und | |
schwächen so die Demokratie in Deutschland und Europa. | |
9 Aug 2018 | |
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## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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