# taz.de -- Unerklärliche Verzögerung: Ermitteln? Abwarten! | |
> Vor einem Jahr wurde eine Frau getötet. Verdächtig ist ihr Mann, der in | |
> die Türkei floh: Sozialamt und Polizei nahmen Hinweise auf ein Verbrechen | |
> nicht ernst genug | |
Bild: Als die Polizei nach dem Tatverdächtigen suchte, war dieser schon längs… | |
Vor einem Jahr, am 23. März 2015, fand die Polizei die Leiche einer Frau in | |
ihrer Wohnung in der Neustadt. Sie war nach bisherigem Ermittlungsstand zu | |
dem Zeitpunkt seit einer Woche tot. Dabei hatte es erste Hinweise darauf, | |
dass Luna M. etwas zugestoßen sein könnte, unmittelbar nach ihrem | |
gewaltsamen Tod gegeben: Der Kindergarten ihres Sohnes hatte am 17. März | |
2015 das Amt für soziale Dienste alarmiert, das wiederum die Polizei. Die | |
wusste seit dem 19. März 2015 von dem Fall. Fragt man heute nach, was | |
zwischen dem 17. und 23. März geschah, zeigt sich, dass Polizei und | |
Sozialamt zu zögerlich gehandelt haben. | |
Zum Hintergrund: Laut Staatsanwaltschaft war die damals 44-jährige Mutter | |
zweier Kinder zwischen dem 13. und 15. März durch Strangulieren getötet | |
worden. Der Tat dringend verdächtig ist ihr Ehemann Shakhwan S. M., von dem | |
sie getrennt lebte. Von ihm fehlt jede Spur – und auch von den gemeinsamen | |
Kindern Lalesh, die jetzt vier Jahre alt ist, und Kawa, dessen siebter | |
Geburtstag am Sonntag war. | |
Ob er ihn gefeiert hat? Mit wem? Wie geht es ihm, dem autistischen Jungen, | |
der vielleicht mit angesehen hat, wie der Vater die Mutter tötete? Und | |
seiner kleinen Schwester? | |
## Wo sind die Kinder? | |
Ob die Kinder noch leben und wo, ist unbekannt. Die Staatsanwaltschaft | |
vermutet Vater und Kinder im Irak, sagt deren Sprecher Frank Passade. „Die | |
Ermittlungen laufen.“ | |
Mittlerweile weiß die Staatsanwaltschaft, dass die damalige Hoffnung, Vater | |
und Kinder mittels der Veröffentlichung von Namen und Fotos finden zu | |
können, vergeblich war. Denn bereits am 16. März, sagt Passade, seien sie | |
über Bremen in die Türkei ausgereist. An dem Tag also, an dem der Vater | |
morgens im Kindergartens seines Sohns angerufen und behauptet hatte, dieser | |
sei krank. So hatte es die Polizei auf der Pressekonferenz am 25. März 2015 | |
berichtet. | |
## Polizei riet zum Abwarten | |
Dort hieß es auch, dass die Polizei erstmals am 19. März über den Fall | |
informiert worden sei, an dem Tag aber „keinerlei Hinweise auf ein | |
Verbrechen gehabt“ habe, wie der [1][Weser-Kurier damals schrieb]. Erst in | |
den folgenden Tagen hätten sich, steht in dem Artikel, „weitere | |
Verdachtsmomente ergeben“. Am 23. März habe das Sozialamt schließlich eine | |
Vermisstenanzeige gestellt, die dazu führte, dass die Wohnungstür geöffnet | |
wurde. | |
Was diese „weiteren Verdachtsmomente“ waren, wurde nie präzisiert. Selbst | |
wenn es sie – wofür nichts spricht – gegeben hat: Warum ermittelte die | |
Polizei dann nicht von sich aus wegen des Verdachts auf eine Straftat – | |
anstatt zu warten, bis das Sozialamt nach dem Wochenende Vermisstenanzeige | |
stellte? | |
Es fehlt in der Darstellung der zeitlichen Abläufe eine entscheidende | |
Information: Das Sozialamt, das die Familie wegen der schwierigen Situation | |
der Kinder betreute, war nämlich schon am 19. März bereit, eine | |
Vermisstenanzeige zu stellen. Das bestätigt Bernd Schneider, Sprecher von | |
Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne), die die Aufsicht über das Amt hat. | |
Laut Schneider hatte die Sozialamtsmitarbeiterin am 19. März den | |
zuständigen Kontaktbereichspolizisten erreicht, was sie auch schon am 18. | |
März erfolglos versucht hatte. Das Amt wiederum war am 17. März vom | |
Kindergarten des Jungen alarmiert worden. | |
## Vater war gewalttätig | |
Dass die Erzieherinnen sich um das Wohl von Mutter und Kindern sorgten, | |
hatte mehrere Gründe: Zum einen lebte der autistische Junge bei der Mutter, | |
der Vater hatte keinen Kontakt zum Kindergarten. Dass ausgerechnet er ihn | |
krank gemeldet hatte, erschien den Erzieherinnen seltsam – zumal die als | |
zuverlässig geltende Mutter weder am 16. noch am 17. März ans Telefon ging, | |
um die Krankmeldung zu bestätigen. | |
Zum anderen war der Vater als gewalttätig bekannt. Das Amtsgericht hatte im | |
Herbst 2014 entschieden, dass er sich weder seiner Frau noch ihrer Wohnung | |
nähern durfte. Diese Gewaltschutzordnung wurde auf Bestreben der Mutter | |
aufgehoben, weil sie fürchtete, den Kontakt zu ihrer Tochter zu verlieren, | |
die beim Vater lebte. Noch am 13. März hatte es ein Treffen der Eltern im | |
Amt gegeben, bei dem es um diese schwierige Sorgerechts-Konstellation ging. | |
In dem Gespräch habe sich der Vater „nicht kooperativ“ gezeigt, sagt | |
Behördensprecher Schneider, es sei aber ansonsten sachlich und ruhig | |
gewesen. | |
Dennoch nahm die Amtsmitarbeiterin den Hinweis des Kindergartens so ernst, | |
dass sie das Familiengericht um eine Einschätzung bat, das ebenfalls einen | |
Anruf bei der Polizei für geboten hielt. | |
Doch die Polizei riet, so sagt Schneider, von einer Vermisstenanzeige ab. | |
Die solle, fand die Polizei, besser erst am 23. März rausgehen, wenn es bis | |
dahin weiter nicht gelingen sollte, Vater oder Mutter zu sprechen. | |
## Unerklärliche Verzögerung | |
Eine Begründung für diese abwartende Haltung kann Schneider in den Akten zu | |
dem Fall nicht finden. Nur so viel: „Der Kontaktbereichspolizist war nach | |
unseren Aufzeichnungen am 19. vor Ort und hat jemand getroffen, der die | |
Frau noch am Wochenende gesehen hat.“ Danach vergingen allerdings vier oder | |
fünf Tage, in denen sie von niemandem mehr gesehen oder gesprochen wurde. | |
Bot das nicht genug Grund zur Sorge? Warum ist das Sozialamt mit seinem | |
Wissen um die Vorgeschichte der Familie dem Rat der Polizei zur | |
Zurückhaltung gefolgt? Behördensprecher Schneider kann das nicht erklären. | |
Man habe sich auf die Fachlichkeit der Polizei verlassen, sagt er. Aber | |
auch: „Es wäre rückblickend wünschenswert gewesen, wenn unsere fachlichen | |
Bedenken stärker ins Gewicht gefallen wären.“ | |
Die Polizei kann sich zu dem Fall nicht äußern, weil die Ermittlungsakten | |
an die Staatsanwaltschaft gegangen sind. Und dort kann erst nächste Woche | |
wieder jemand hineingucken, weil der zuständige Staatsanwalt im Urlaub ist. | |
Vor fünf Wochen, bei einer ersten Nachfrage der taz, hatte der Sprecher der | |
Staatsanwaltschaft gesagt, für die Ermittlungen des Tötungsdelikts seien | |
Fragen danach, wer wann die Polizei angerufen habe, irrelevant. | |
13 May 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://www.weser-kurier.de/bremen/bremen-stadtreport_artikel,-Ehemann-mit-K… | |
## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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