# taz.de -- Ukraine in der Gegenoffensive: Ein Dorf nach der Befreiung | |
> Gusariwka ist vorerst gerettet – die russischen Truppen konnten | |
> zurückgedrängt werden. Doch die Spuren der Zerstörung sind überall. | |
Bild: Der Eingang zu einem der Keller, in dem verkohlte sterbliche Überreste a… | |
GUSARIWKA taz | Aus Lagerhäusern, die von Granaten getroffen wurden, steigt | |
Rauch auf. Am Straßenrand liegen Panzerminen. Aufgeschreckte Hühner und | |
Enten laufen in alle Richtungen. Dann tauchen zwei alte Männer auf, | |
offensichtlich die letzten noch verbliebenen Bewohner in dieser Straße. | |
Einer von ihnen kommt auf mich zu, sein Gesicht ist tränenüberströmt. Er | |
nimmt mich an der Hand. Das Aufnahmegerät solle sofort ausgeschaltet | |
werden, fordert er schroff, seinen Namen will er nicht nennen und sich auch | |
nicht fotografieren lassen. „Du nimmst mich jetzt auf und schon morgen | |
können sie mich töten.“ Dann entsteht eine lange Pause. „Die Russen werden | |
nicht wieder hierherkommen, oder?“, fragt er. „Ich glaube nicht. Und wenn, | |
dann schlagen wir sie wieder zurück“, sage ich. „Meinst Du das ernst? Mach | |
Dein Telefon aus, nimm das nicht auf! Sie haben meinen Sohn getötet. Dort | |
in der Grube.“ | |
Wir laufen dorthin, auf der Straße ist es menschenleer. In diesem Moment | |
scheint der Lärm der Angriffe leiser zu werden, nur das Knarzen unserer | |
Sohlen auf dem Schotter und ein starkes Rauschen des Windes sind zu hören. | |
Das Gebiet Charkiw und die Stadt Izjum, die an der Grenze zu der Regionen | |
Charkiw und Donezk liegt, sind seit Wochen unter Beschuss. Doch die Lage | |
hat sich geändert. Die [1][ukrainischen Streitkräfte haben eine | |
Gegenoffensive gestartet] und mehrere Ortschaften zurück erobert – darunter | |
auch das hiesige Dorf Gusariwka im Izjumer Gebiet. Die feindlichen | |
Stellungen sind vier bis fünf Kilometer von hier entfernt. Bis zum Zentrum | |
der nächsten, von russischen Truppen besetzten, größeren Stadt Balaklija | |
sind es mit dem Auto nur 14 Minuten. Angriffe mit Mörsern oder Artillerie | |
könnten jederzeit beginnen, warnt ein Polizist einer ukrainischen | |
Spezialeinheit, der mich durch Gusariwka begleitet. | |
Trotz des ständigen Beschusses von drei Seiten gleichzeitig sind wir an den | |
Rand des Dorfes gefahren, zur Petrusenko-Straße, wo wir den beiden Rentnern | |
begegnet sind. | |
Zusammen mit ihnen kommen wir an 20 Häusern vorbei, aus jedem scheint uns | |
jemand anzusehen. Irgendwie ist noch Leben zu spüren, die Häuser sind noch | |
warm von der Anwesenheit ihrer Besitzer. Doch dieser Eindruck trügt. Hier | |
ist niemand mehr – außer uns und ein paar Hühnern. Der alte Mann zeigt auf | |
die Häuser seiner Söhne Aleksandr und Witali Gawrisch, sie stehen einander | |
gegenüber. „Sascha ist verschwunden“, sagt er. | |
Ganz in der Nähe steht das schönste Haus in dieser Straße: Gelb | |
angestrichen und zwei Stockwerke hoch. Während der Besatzung hatten die | |
Russen hier ihr Hauptquartier eingerichtet. Im Nachbarhaus, das etwas | |
ärmlicher aussieht, wurden Gefangene festgehalten, nachdem die Besitzer | |
hinausgeworfen worden waren. Wir stehen in der Nähe des ausgebrannten | |
Kellers im Hinterhof dieses Häuschens. Nach dem Abzug der Russen wurden | |
hier die Überreste von drei verkohlten Leichen gefunden, in einem weiteren | |
Keller ebenfalls zwei verbrannte Körper. | |
Ein russischer Hauptmann habe den Einheimischen befohlen, die Kühe zu | |
füttern. „Sechs Leute taten sich zusammen, um diese Aufgabe zu erledigen. | |
Sie waren schon auf dem Weg nach Hause, als sie angehalten und mitgenommen | |
wurden“, erzählt der alte Man. Nur einer sei zurückgekommen. Von den fünf | |
anderen fehle jede Spur. | |
Im Haus seines vermissten Sohnes Aleksandr Gawrisch scheint alles so | |
geblieben zu sein wie vor dem Krieg. Im Hof steht ein altes Auto, ein | |
„Schiguli“, auch tummelt sich dort allerlei Getier. Doch das Haus steht | |
schon seit zwei Monaten leer. Eine Granate hat Gebäude in der Nähe | |
zerstört. | |
„Sie haben alte Autoreifen in den Keller geworfen, um die Leichen zu | |
verbrennen“, sagt der 73-Jährige. Ermittler haben DNA-Tests durchgeführt, | |
um die Toten zu identifizieren, auch bei dem mutmaßlichen Sohn von | |
Aleksandr Gawrisch. Ein Ergebnis ist erst in zwei Monaten zu erwarten. Bis | |
dahin heißt es hoffen und bangen. | |
Den Besatzern zu verzeihen, daran denkt hier niemand. „Die Hälfte meiner | |
Verwandtschaft lebt in Russland. In Moskau habe ich Brüder und Schwestern. | |
Ich habe angerufen und sie haben gesagt: Was für ein Krieg? Wer hat Euch | |
angegriffen, was quatschst du da? – Würdest Du deinem Bruder oder deiner | |
Schwester so etwas verzeihen? Sie haben meinen Sohn getötet!“, sagt der | |
alte Mann und bricht wieder in Tränen aus. | |
Die Russen hätten alles geplündert, was ihnen in die Hände gefallen sei, | |
erzählen die beiden Rentner. „Sie haben kein Geld genommen, dafür aber | |
Ringe und Gold. Sie liefen herum, nackt und barfuß. Dann haben sie sich | |
Hosen genommen und sie angezogen“, sagt der Vater von Aleksandr Gawrisch. | |
Auch der Dorfvorsteher Juri Doroschenko berichtet davon. „Diese | |
Plünderungen, es war schrecklich. Sie haben alles genommen: Kartoffeln, | |
Konserven, einfach alles. Bei einem Nachbarn haben sie sogar eine | |
Sommer-Dusche mitgenommen“, sagt Doroschenko. | |
Nach dem Einmarsch der Russen sei Gusariwka immer leerer geworden, erzählt | |
der Dorfvorsteher. Von 1.140 Bewohnern seien nur etwa 280 übrig geblieben – | |
vor allem Alte und Menschen, die nicht woanders hätten hingehen können. | |
Sieben Menschen aus dem Dorf seien verschwunden. Zwei seien tot aufgefunden | |
worden, fünf weitere gelten als vermisst. Die meisten hier glauben, dass es | |
die fünf aufgefundenen verbrannten Körper in den Kellern sind. | |
Indessen bleibt die Furcht vor Luftangriffen. „Im Dorf ist es immer noch | |
laut, von seinem Keller entfernt sich niemand“, sagt Doroschenko. „Am | |
schlimmsten sind die Hubschrauber. Sie steigen auf und zerstören alles. | |
Vorgestern wurde eine Frau getroffen und verletzt. Dann noch eine. Wir | |
haben sie nach Krasni Donez gebracht. Auch ein alter Mann wurde vorgestern | |
aus den Trümmern geborgen. Er ist Jahrgang 1936. Sein Haus gibt es nicht | |
mehr“, sagt Doroschenko. | |
Die Soldaten, die uns begleiten, unterbrechen das Gespräch mit dem | |
Dorfvorsteher. Offensichtlich habe unsere Gruppe Aufmerksamkeit erregt und | |
wir müssten den Ort sofort verlassen, heißt es. In der Ferne ist Staub zu | |
erkennen, der kaum merklich vom Boden aufsteigt. „Sie bringen ihre | |
Ausrüstung in Stellung. Jetzt geht es los. Höchstwahrscheinlich hat man uns | |
von einer Drohne aus gesehen“, sagt ein Kommandeur der Spezialeinheit. | |
Wir suchen das Weite. Im Zentrum von Gusariwka halten wir kurz an, neben | |
einem zerstörten Schützenpanzer und der Leiche eines russischen Soldaten. | |
Die Einheimischen sagen, dass die Leiche dort schon einen Monat liege, aber | |
bisher niemand versucht habe, sie zu bergen. In diesem Moment hören wir den | |
Lärm eines Hubschraubers. Der Kommandeur brüllt, alle sollten sofort in | |
Deckung gehen – doch wohin, auf dieser Dorfstraße? Die Anwohner, die das | |
Geräusch ebenfalls gehört haben, sind augenblicklich verschwunden. | |
Mein Zufluchtsort ist ein wackeliger Holzzaun inmitten von hohem Gras und | |
einem Haufen von gefährlichen Splittergranaten, die nicht explodiert sind. | |
Der sicherste Unterschlumpf wäre jetzt wohl der zerstörte Schützenpanzer | |
mit der verkohlten Leiche, weil er aus Eisen ist, doch dorthin läuft | |
niemand. | |
Doch offensichtlich haben sie uns nicht bemerkt. Der russische Hubschrauber | |
dreht bei. Wir haben unglaubliches Glück. Schließlich erreichen wir das | |
Dorf Donez (früher Krasni Donez). Dort treffen wir Kirill Sakun, | |
Polizeileutnant und Ermittler der regionalen Izjumer Polizeiverwaltung. Er | |
war als erster in diesen schrecklichen Keller in Gusariwka hinab gestiegen. | |
Dort, in der Petrusenko-Straße Nummer 3, wo die sterblichen Überreste | |
gefunden worden seien, habe ein Mann gewohnt, den die Russen vertrieben | |
hätten. | |
„Er war nach Hause gekommen, um ein paar Sachen abzuholen. Die Russen haben | |
ihm gesagt: Wir lassen dich nicht herein, wir halten hier Gefangene fest. | |
Er ging wieder. Nachdem Gusarowka befreit worden war, kam er zurück und | |
sah, dass etwas mit dem Keller nicht stimmte. Der war komplett | |
ausgebrannt.“ Davon habe er den Soldaten berichtet. „Wir passten einen | |
günstigen Moment ab, um dort hinzufahren, weil in der Nähe immer noch | |
Kämpfe stattfanden. Als wir ankamen, haben wir zunächst das Haus und | |
dahinter einen geschlossenen Keller gefunden.“ | |
Sie gingen mit einem Experten hinein und fingen an, Körperteile zu | |
identifizieren, Knochen mit Fleisch. „Dort waren eindeutig drei Schädel, | |
eine rechte Hand und ein linkes Bein. Und eine Art Jacke. Darin fanden wir | |
den Pass einer Person“, sagt der Polizeioffizier. Aufgrund dieses Dokuments | |
konnte die Identität eines Toten festgestellt werden. Es stellte sich | |
heraus, dass er nie Wehrdienst geleistet hatte. „Höchstwahrscheinlich haben | |
die Russen, um Spuren von Folter und Gewalt zu verwischen, Gummi in den | |
Keller geworfen und ihn dann angezündet“, sagt Sakun. | |
Alle Beweise seien gesammelt worden, jetzt liefen die Ermittlungen gemäß | |
des Artikels über die Verletzung von Gesetzen und Regeln der Kriegsführung. | |
Die Hinrichtung von Zivilisten sei ein Kriegsverbrechen, das nicht | |
verjähre. „Das ganze Material ist den Ermittlern des ukrainischen | |
Sicherheitsdienstes übergeben worden“, sagt Sakun. „Wenn es jedoch nötig | |
sein sollte, werden die Unterlagen über die Morde an friedlichen Einwohnern | |
von Gusariwka dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zur | |
Verfügung gestellt.“ | |
Der Autor ist Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz-Panter-Stftung | |
Aus dem Russischen Barbara Oertel | |
11 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Juri Larin | |
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