| # taz.de -- US-Historikerin über Trump und Mamdani: „Es braucht eine neue Fo… | |
| > Victoria de Grazia über den fragilen Zustand der USA unter Präsident | |
| > Trump. Gibt es Hoffnung nach der Wahl von Mamdani zum New Yorker | |
| > Bürgermeister? | |
| Bild: Protest gegen die ICE-Polizei im Viertel Ukrainian Village von Chicago, N… | |
| Victoria de Grazias Akku ist leer. Angelehnt an ihr Fahrrad zeigt die | |
| Historikerin auf ihr schwarzes Handydisplay. Wir stehen vor den | |
| gusseisernen Toren zum Campus der Columbia-Universität in New York. Dem | |
| Ort, an dem de Grazia von 1994 bis 2024 als Professorin Geschichte lehrte | |
| und der seit seiner gewaltsamen Besetzung durch antiisraelische | |
| Protestgruppen im Frühjahr 2024 abgeriegelt ist wie ein Gefängnis. | |
| QR-Codes, die uns Einlass verschaffen sollen, sind auf de Grazias | |
| akkuleerem Handy. Glücklicherweise erinnert sich eine Security-Frau an die | |
| ehemalige Professorin und gewährt Einlass. „Verrückte Zeiten“, sagt de | |
| Grazia, während sie ihr Rad auf den Campus schiebt, „peinlich mit diesen | |
| Sicherheitskontrollen.“ | |
| De Grazia und ich haben uns schon einmal getroffen. Anfang 2024 in Berlin, | |
| damals war die deutsche Übersetzung ihres Buches „Der Perfekte Faschist“ im | |
| Wagenbach Verlag erschienen. Darin beschreibt sie die Geschichte des | |
| Faschisten Attilio Teruzzi, eines Prototyps des totalitären Systems in | |
| Italien und eines Mannes voller Widersprüche. | |
| Seither ist viel passiert: Trumps Wiederwahl, die Zerreißprobe Gaza, und | |
| jetzt der Höhepunkt einer neuen Manie der Öffentlichkeit, die Wahl des | |
| jungen Sozialisten Zohran Mamdani zum Bürgermeister von New York. Über all | |
| das wollen wir sprechen. Allerdings müssen wir das gar nicht, so scheint | |
| es, denn alles spielt sich direkt vor unseren Augen ab: De Grazia schaut | |
| plötzlich über meine Schulter und ruft, „Mahmood! Bist du das wirklich?“ | |
| Auf einen Krückstock gestützt hinkt uns ein alter Mann – zerschlissene | |
| Softshell-Weste, Jogginghose – entgegen. Es ist Mahmood Mamdani, Vater des | |
| Neubürgermeisters Zohran. Als Professor für Anthropologie war er nicht nur | |
| langjähriger Kollege von de Grazia, mit seinen apologetischen Thesen zum | |
| islamistischen Terror sorgte er nach 9/11 auch als öffentlicher | |
| Intellektueller für Kontroversen. | |
| „Er hat es geschafft!“, sagt de Grazia mit Tränen in den Augen, „Zohran … | |
| es geschafft!“ Sie umarmt Mamdani. „Ja“, antwortet der erschöpft. „Abe… | |
| habe Hüftprobleme, ich war gerade beim Arzt.“ Die Historikerin mustert | |
| ihren Kollegen noch kurz, schüttelt ungläubig den Kopf, als stünde ein | |
| lebendiges Stück Geschichte vor ihr, dann lässt sie Mamdani davonhumpeln. | |
| Der dreht sich noch mal um und sagt: „Schreib weiter über Amerikas Kriege – | |
| das musst du tun!“ De Grazia nickt. Zeit für unser Gespräch. | |
| taz: Was ist mit den USA passiert, seitdem Donald Trump erneut Präsident | |
| ist? Was mit New York, dieser Insel in Trumps politischem Hochwassergebiet? | |
| De Grazia: Das einzig Gute an Trumps Wiederwahl war, dass sie das | |
| Oppositionsgefühl gestärkt hat: moralische Empörung, eine breite | |
| Beteiligung. Das hat sich [1][mit Mamdanis Sieg] erstmals auch anhand von | |
| Wahlergebnissen gezeigt. Davor ließ sich das nur an einer eher diffusen | |
| Form von Widerstand ablesen: [2][Anti-Trump-Proteste wie Third Act oder No | |
| Kings; die Interventionen gegen ICE in vielen Städten]. Ja, die | |
| Zivilgesellschaft in den USA ist resilient. Und diese Tatsache erfährt | |
| jetzt mehr Aufmerksamkeit. | |
| taz: Auch außerhalb von New York wurde am 4. November gewählt. | |
| De Grazia: Ja, zum Beispiel in New Jersey. Viele Demokraten hatten Angst, | |
| dass ihre moderate Kandidatin, Mikie Sherrill, nicht gewinnen könnte – dass | |
| der MAGA-Zug immer noch kraftvoller sein könnte. Aber sie hat gewonnen. | |
| Genauso Abigail Spanberger in Virginia. Das ist fast schon ein Linksruck. | |
| taz: Was ist mit Gavin Newsom, dem demokratischen Gouverneur von | |
| Kalifornien? Er inszeniert sich als Linkspopulist. Wie bewerten Sie das? | |
| De Grazia: Er muss das tun! Als Strategie. Sehen Sie, im historischen | |
| Antifaschismus zum Beispiel musste man immer unterscheiden zwischen Haupt- | |
| und Nebenwiderspruch. Priorisieren. Popularität zurückgewinnen ist jetzt | |
| Priorität. Was dabei schwierig werden könnte, ist, die Mitte der | |
| Demokratischen Partei von diesem Kurs zu überzeugen. Die hat andere | |
| Prioritäten, als die Opposition breiter aufzustellen. Deshalb verweigern | |
| sie auch Mamdani die Unterstützung. | |
| taz: Denken Sie, dass sich das jetzt, nach seinem Wahlerfolg, ändern wird? | |
| De Grazia: Ich kann mir nicht vorstellen, wie. Die Parteiführung – Chuck | |
| Schumer beispielsweise – ist gegen Veränderung. Das war schon bei den | |
| populistischen Wahlkampagnen von Bill Clinton und Barack Obama so. Auch | |
| damals haben wir erwartet, dass nach deren Erfolgen die Basis breiter, die | |
| Partei zu einer Art sozialer Bewegung wird. Geändert hat sich trotzdem | |
| nichts. Es bleibt also unklar, ob die Demokratische Partei die | |
| Mamdani-Bewegung unterstützen wird. Die Partei ist gespalten. | |
| taz: Inwiefern? | |
| De Grazia: Die USA ist regional sehr unterschiedlich. Jeder Ort ist anders, | |
| auch politisch. In Virginia und New Jersey regiert jetzt das konservative | |
| Establishment der Demokraten und in New York bildet sich mit Mamdani ein | |
| neuer Typ Partei. Seit Kurzem gibt es dort dieses Aktionsprojekt, dessen | |
| Mitglied man werden kann – wie eine Bewegungspartei, wie bei den | |
| demokratischen Sozialisten, denen Mamdani angehört. | |
| taz: Oder wie bei Trump und seiner MAGA-Bewegung? | |
| De Grazia: Ja, allerdings weiß ich noch nicht, ob das bei den Demokraten | |
| genauso funktionieren wird. Trump als despotischer Präsident verfügt über | |
| viel mehr persönliche Macht. Er kann Menschen aufhetzen, wieder | |
| zurückbeordern, dann erneut Druck machen. Mit ICE hat er jetzt sogar eine | |
| Miliz. Außerdem schaffen solche Bewegungsparteien und ihre Polarisierung | |
| für Behörden große Probleme. Behörden arbeiten konservativ, sie haben feste | |
| Budgets oder sind auf Anleihen angewiesen. In der New Yorker | |
| Kommunalverwaltung läuft fast alles über Anleihen. | |
| taz: Verfolgt Trump damit ein langfristiges politisches Ziel? | |
| De Grazia: Klar, er will demokratische Institutionen schwächen – seine | |
| Macht zentralisieren. Zugleich baut er ICE immer weiter aus, schafft neue | |
| militärisch-zivile Beziehungen – schickt Militär in die Städte. Er setzt | |
| auf Tempo, schwankende Manöver in der Ukraine und anderswo und verrückte | |
| nukleare Eskalationsspiele. Das erschüttert alle. | |
| taz: Er schafft also Verunsicherung. Ist das eine Taktik? | |
| De Grazia: Natürlich, Destabilisierung ist zentral für sein Regime. Auch | |
| wenn viele Kommentatoren in den USA und Europa sein Handeln als | |
| „inkonsistent“ bezeichnen. Ich stimme da nicht zu. Seine Inkonsistenz ist | |
| eine gefährliche Taktik. Als Historikerin kenne ich das. Unter Stalin | |
| bedeutete diese Verunsicherung brutale psychologische Kontrolle: Er konnte | |
| sonst was befehlen, alle folgten, dann befahl er das Gegenteil. So bewies | |
| er absolute Macht. Diese Taktik ist typisch für solche Regime. | |
| taz: Was für Regime? | |
| De Grazia: Das von Trump nenne ich populistischer Despotismus. | |
| taz: Ein neuer Begriff. Sie gelten als scharfe Kritikerin, wenn es um | |
| Faschismusvergleiche in der Gegenwart geht. Also, warum nicht Faschismus, | |
| wie Trumps Systemumbau in der US-Öffentlichkeit von immer mehr | |
| Kommentatoren bezeichnet wird? | |
| De Grazia: „Faschismus“ zu sagen, hat keinerlei analytischen Nutzen. Vor | |
| Trumps Wiederwahl sagten viele, er sei ein Faschist. Hat der Begriff | |
| irgendetwas vorhergesagt – seine Kanonenbootdiplomatie, ICE, die | |
| Luftangriffe in Venezuela? Nein. Faschismus ist das historische | |
| Hegemoniemodell einer bestimmten Zeit, circa von 1920 bis 1945, und einer | |
| Achse verschiedener Länder mit imperialen Bestrebungen, wie Deutschland und | |
| Italien. Die teilten die gleiche Fantasie einer globalen Hierarchie von | |
| „Rasse“ und die gleichen Feinde: alte und neue Imperien, wie die USA, | |
| Großbritannien und die Sowjetunion. Aber heute? Da wirkt der Begriff vor | |
| allem wie ein moralisches Label, der Superlativ einer Beleidigung. „Trump | |
| ist ein Faschist!“ Gemeint ist: „Trump ist ein Stück Scheiße.“ Nützlic… | |
| wäre es, festzustellen, dass ein gravierender ökonomischer Wandel | |
| stattfindet, eine Polykrise des globalen Systems, in der jedes Land | |
| versucht, zu überleben. Das gegenwärtige Modell eines populistischen | |
| Despotismus scheint besonders attraktiv zu sein, um eine kaputte | |
| Klassenstruktur zu kompensieren – die ausgehöhlten Mittelschichten, die | |
| neuen Klassenzusammensetzungen. | |
| taz: Das heißt, historische Vergleiche vermeiden? | |
| De Grazia: Der Vergleich geht nur in einem Bereich auf: Regime wie das von | |
| Trump brauchen Streitkräfte jenseits der Armee – eine soziale | |
| Kontrollinstanz. Im Faschismus waren das paramilitärische Gauner wie | |
| Mussolinis Schwarzhemden und [3][Hitlers SA]. Trump hat ICE. Aber in den | |
| USA ist das so: Jedes Mal, wenn es Krieg gibt, wird die Polizei | |
| militarisiert. ICE verfügt jetzt schon über Hubschrauber und militärische | |
| Ausrüstung. Und ICE wird bleiben, auch unter einem neuen Regime. Die USA | |
| wird langfristig militarisiert. Trump verändert also das Verhältnis | |
| zwischen militärischen und zivilen Kräften. Gleichzeitig schwächt er | |
| gezielt Institutionen, die dieses Verhältnis in Balance halten: | |
| Anwaltskanzleien, Medien, Universitäten. | |
| taz: Und diesen Prozess Faschismus zu nennen, hilft nicht dabei, ihn | |
| aufzuhalten? | |
| De Grazia: Nein, der Begriff erklärt nicht, was wir wissen wollen: Ist | |
| Trump überhaupt fähig zu regieren? Sein Machtapparat ist diffus, | |
| ideologisch zerstritten, seine Popularität durch wirtschaftliche | |
| Fehlentscheidungen geschwächt. Und wenn man den Begriff „Faschismus“ ernst | |
| nimmt, impliziert das andersherum auch „Antifaschismus“. Historisch | |
| bedeutete der vor allem ein klares Programm – eine Avantgarde, die genau | |
| verstand, was Faschismus ist, und feststehende Volksfront-Parteien, die | |
| Widerstandsimpulse in Aktionspläne übersetzten. Heute ist das nicht mehr | |
| so. Deshalb müssen wir eine neue Form von Widerstand definieren. Und das | |
| geht nur, wenn wir verstehen, was genau sich vor unseren eigenen Augen | |
| entfaltet. Abstrakte Faschismusvergleiche helfen dabei nicht. | |
| 19 Nov 2025 | |
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| Jonathan Guggenberger | |
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