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# taz.de -- Tübingens OB in Ungarn: Palmer allein unter Rechten
> Boris Palmer tritt bei einem Orbán-treuen Thinktank in Budapest auf. Das
> muss er sich eigentlich nicht antun, ist aber trotzdem interessant.
Bild: Fehl am Platz? Boris Palmer bei seinem Auftritt in Budapest
Karlsruhe taz | Boris Palmer bleibt auch ohne Grünen-Mitgliedschaft keine
Provokation schuldig. Nachdem er sich nach seinem skandalösen Auftritt bei
einer Frankfurter Migrationskonferenz im Mai [1][eine Auszeit samt
Coaching] genommen und [2][seine Partei verlassen hat], meldet sich der
schwäbische Kommunalpolitiker nun zurück – ausgerechnet mit einer Rede beim
Budapester Mathias-Corvinus-Collegium (MCC). Die milliardenschwere
Kaderschmiede, von Orbáns Partei und Regierung finanziert, gilt als
Instrument, um den Rechtsstaatsabbau in Ungarn intellektuell zu verankern.
Das muss man sich als Oberbürgermeister einer renommierten
Universitätsstadt und ehemaliger Grüner eigentlich nicht antun. Aber Palmer
reizt das offenbar. Zuerst hieß es, der Tübinger OB habe sich von einem
Professor in Tübingen die Unbedenklichkeit des MCC attestieren lassen.
Später gibt besagter Professor kleinlaut zu Protokoll, er habe das
Collegium mit der tatsächlich renommierten Corvinus-Universität
verwechselt. Nun ja, auch in Tübingen ist nicht immer der Weltgeist zu
Hause.
Kein Grund für Palmer, abzusagen, wie er ein bisschen stolz am
Dienstagabend in Budapest feststellt. Er mag auch nach seiner
vermeintlichen Läuterung den politischen Nahkampf. Und verbindet den
umstrittenen Auftritt mit dem Besuch einer ungarischen Partnerstadt
Tübingens.
Obwohl, sagt Palmer, der an diesem Abend in dunklem Anzug, Krawatte und
grau meliertem Vollbart einen neuen Ernst ausstrahlt: Als er vom Auftritt
des Trump-Propagandisten Tucker Carlson beim MCC gelesen habe, habe er kurz
gezögert. Carlson hatte bei seinem Auftritt in Budapest unwidersprochen die
These vertreten, dass die USA den Anschlag auf die Nord-Stream-Pipline
verübt hätten und Deutschland und Europa dies nicht wahrhaben wollen. Wenn
das MCC solche Thesen unwidersprochen lasse, sagt Palmer rustikal, müssten
seine Gastgeber akzeptieren „dass man sie dann für Deppen hält“.
## Kritik an „der Wokeness“
Spätestens hier kommt die Frage auf, ob sich nicht nur der Professor aus
Tübingen geirrt hat, sondern vielleicht auch die Gastgeber. Keineswegs,
sagt Palmer. Das MCC habe ihm versichert, es sei am kontroversen Dialog
interessiert. Sonst sind die Gemeinsamkeiten dann tatsächlich überschaubar.
Palmer beginnt seinen Vortrag mit der Schilderung der Geschichte eines
syrischen Flüchtlings von 2015, der, vor die Wahl gestellt, in einem Krieg
für ein Regime zu sterben, das er ablehnt, oder sich der Ungewissheit der
Flucht auszusetzen, sich 2015 auf den Weg nach Europa macht. Der Mann heißt
[3][Ryyan Alshebl] und ist im Frühjahr zum Bürgermeister der Stadt
Ostelsheim gewählt worden.
Palmer sagt nüchtern: „Wenn es nach Ungarn gegangen wäre, hätte Ryyan
Alshebl seinen Weg nicht nach Europa genommen und Ostelsheim vielleicht
einen weniger kompetenten Bürgermeister.“ Und er schließt spitz die Frage
an: „Kann es sein, dass auch an der ungarischen Flüchtlingspolitik nicht
alles richtig ist?“
Nein, man kann Palmer nicht vorwerfen, dass er sich beim Orbán-freundlichen
Publikum anbiedert. Ja, er sei für ein Kopftuchverbot bei Kindern, aber
nein, nicht gegen den Islam. Ja, Ungarn habe das Recht, ein homogener Staat
bleiben zu wollen, aber gar niemandem helfen zu wollen, wie das Orbán
vertritt, das sei nicht mit den europäischen Werten vereinbar.
Ja, „die Wokeness“ sei aus seiner Sicht eine Gefahr für die
Meinungsfreiheit, aber deutlich gefährlicher sei der rechtsradikale
Bodensatz, der jemanden wie ihm in seiner Jugend zugerufen habe, man habe
seinen Vater nur vergessen zu vergasen. Und nein, die AfD ist nicht
koalitionsfähig, sagt Palmer. „Mit denen ist kein Staat zu machen.“ So geht
es quer durch den politischen Gemüsegarten. Der Vortrag heißt ja auch
gewollt mehrdeutig: „Über die grüne Grenze“.
## Vergiftete Komplimente
Gar nicht verstehen könne er, sagt Palmer, warum Ungarn dem neuen
Grenzregime der EU nicht zustimmen will, obwohl der von
Flüchtlingsorganisationen kritisierte Kompromiss klar in Richtung Ungarns
Forderungen gehe. „Ist Ungarn wirklich mit 3.000 Geflüchteten aus einem
Verteilungsmechanismus überfordert?“
Und selbst vermeintliche Komplimente lassen die Gastgeber mutmaßlich (man
sieht im Stream das Publikum nur von hinten) süßsauer grinsen. Europa solle
mehr um Ungarn werben, sagt Palmer. Und schiebt dann nach: „Ehe ich dem
Emir von Katar oder einen saudischen Prinz die Hand reiche, dann doch
lieber Viktor Orbán.“ Da müsse man die Verhältnisse wahren. Und er lässt
auch die Korruptionsvorwürfe gegen den ungarischen Ministerpräsidenten
nicht unerwähnt.
Palmer sagt seinen Gastgebern auch offen, dass ein Auftritt beim
Mathias-Corvinus-Collegium für einen Politiker in Deutschland mit einem
Reputationsverlust verbunden sei. Das kann sich also nur einer wie Palmer
leisten. Aber an diesem Abend wirkt er zumindest für Unvoreingenommene, als
würde er sich einem Populisten-Lackmus-Test aussetzen. Hält man den
Tübinger OB mit seinen vielfachen Entgleisungen gegen ein echtes rechtes
Umfeld, wird klar: Palmer ist vielleicht kein Grüner mehr, aber er
verteidigt europäische Werte. Auch gegen Deppen.
6 Sep 2023
## LINKS
[1] /Ruecktritt-von-Boris-Palmer/!5931398
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## AUTOREN
Benno Stieber
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