# taz.de -- Theaterstück zu Plattenbau in Hannover: Stimmen aus dem Klotz | |
> Jona Rauschs Bühnen-Erstling „Betonklotz2000“ macht beklemmende Enge | |
> spürbar: Das Stück kreist ums Leben im Ihme-Zentrum Hannover. | |
Bild: Es gibt auch Momente der Geborgenheit: Aufenthalt auf den Dächern des Ih… | |
Hannover taz | Fantastisch sind die Szenen, in denen die Öffentlichkeit als | |
eine Art Kamerateam den Kindern des Ihme-Zentrums auf den Pelz rückt. Um | |
die dreht sich Jona Rauschs Bühnen-Erstling „Betonklotz 2000“. | |
Die Uraufführung gab’s am 20. September in der Spielstätte Ballhof 2 des | |
Staatsschauspiels Hannover. Und da hat also Regisseurin Goldie Röll dafür | |
gesorgt, dass, mit Handkamera, grellem Scheinwerfer und Mikrofon-Angel, | |
drei der vier Akteur*innen auf die verbliebene Person eindrängen. | |
Die hockt in einem der Gefache: Wie ein Sperrholz-Großregal, allerdings | |
verwinkelt und tröstlich pink angemalt, sieht das abstrakte Modell von | |
Hannovers verschrienstem Bauwerk aus, das Bühnen-, Video- und | |
Kostümbildnerin Naomi Kean in den Raum geklotzt hat. | |
Rausch hat ihre Figuren schlicht durchnummeriert. Im Ballhaus 2 werden sie | |
von Aniela Ebel, Alrun Hofert und Max Koch belebt. Tom Scherer spielt die | |
in die Ecke gedrängte Nummer 4. | |
## Kindheit in Armut | |
Die muss jetzt, als wäre sie Protagonistin in einem voyeuristischen | |
[1][Reality-TV-Format, Bekenntnisse ablegen]: „Wir Kinder sind mit Gewalt | |
aufgewachsen“, sagt sie zum Beispiel, um dann zu beteuern: „Ich will nichts | |
rechtfertigen / Wir sind nicht gewalttätig / Nur weil unsere Väter das | |
waren“. | |
Schon hat das Kamerateam, was es wollte. Es zieht ab, formiert sich neu: | |
Also wird 4 Beleuchter, 1 liegt in der Koje. Der Puschel vom Mikro kitzelt | |
ihm an der Nase, das weiße Licht des Strahlers blendet ihn. Sein Gesicht | |
wird in Ultranahaufnahme auf die Fassade projiziert, von ihr fragmentiert, | |
während er gesteht: Die meisten Nachmittage der Kindheit hier seien mit | |
Fernsehengucken angefüllt gewesen. | |
Ha!, Unterschicht, hab ich dich!, immer nur Fernsehen: Oder eben, noch | |
schlimmer, noch besser, mit Fanta-Korn-Trinken, draußen, auf dem verbotenen | |
Dach, und doch mitten im Herzen des verfluchten Betongebirges, in der Stadt | |
in der Stadt, also in der Sonder-City, auf welche die Bürgerinnen und | |
Bürger der sie umgebenen sauberen Landeshauptstadt mit sanftem Grusel und | |
aus sicherer Distanz schauen. | |
Nein, aus deren Sicht liegt kein Segen auf dem Klotz. Und es fällt | |
offenkundig leicht, diese Sicht zu teilen. „Peinlich seit den 70er-Jahren | |
steht er da“, heißt es gleich im ersten Bild des Stücks. „Ja, da wohnen | |
tatsächlich Menschen.“ Das macht den Klotz zweideutig, auch für die, die in | |
ihm leben. | |
Dass er nicht nur eine Art Gefängnis, sondern auch Heimat sei, bleibt hier | |
mehr Behauptung: Rausch hat das Stück zwar in Wien geschrieben. Aber den | |
Sozialwohnhungsbau-Block des Mega-Komplex' kenn Rausch aus eigener | |
Erfahrung, hat vier Jahre der Kindheit im Sozialwohnungsbau-Block des | |
Mega-Komplex’ zugebracht; ist später dann dorthin zurück gezogen, in eine | |
WG. Dennoch finden sich im Stück nur selten Momente der Geborgenheit oder | |
des Glücks in der unabreißbaren Ruine. | |
Sehr gut gelingt es hingegen, die spezifische Komik einzufangen, die sich | |
aus der baulichen Situation ergibt. Zum Beispiel: Alle Plattenbauerfahrenen | |
kennen ja das Befremden, Menschen im Treppenhaus zu treffen, deren Familie | |
man nur vom Kopulationsgeräusch her kennt. | |
Wie soll man sie ansprechen? „Guten Tag / Ich hab da Ihrer Mutter letzte | |
Nacht beim / Ficken zugehört“? Eher doch wohl nicht. Es sich mit | |
Kumpel*innen auszumalen, macht aber total Spaß. | |
Das paradoxe Gefühl von schrecklicher Nähe und zugleich unüberwindbarer | |
Distanz erlaubt schöne Bilder, wenn sich die vier Akteur*innen simultan | |
im Sperrholzklotz einnisten. Es hätte sicher mehr Potenzial gehabt. Dass es | |
kaum zur Entfaltung kommt, liegt weniger am herrlich temporeichen Spiel der | |
vier Akteur*innen, denn an Rauschs offenkundigem Anliegen: Eher als um den | |
seit 1970 sich verzweigenden Skandal Ihme-Zentrum geht es ihr darum, den | |
Skandal der Armut zu erzählen. | |
Aber die hat den Drang, zu entindividualisieren, dem Rausch bereitwillig | |
folgt. Mit dem Vermögen wächst auch das Vermögen, feine Unterschiede zu | |
markieren. Armut hingegen hat keinen Anspruch auf persönliche Erfahrungen. | |
Die malt sich unsere Gesellschaft lieber nur in Kollektiverfahrungen aus. | |
Die stehen, auch wenn sie tatsächlich gemacht werden, in einem | |
ungeschriebenen Katalog der zulässigen Stereotypen, der Kleinkriminalität, | |
Sprayer-Späße, frühe Drogenerfahrung, Bildungsaufstiegsversuchen, | |
Sportschuh- und Schulausflugbeschämungen umfasst. Dieselben Geschichten | |
gäbe es auch aus den Wohnanlagen von Mümmelmannsberg in Hamburg, von der | |
Grohner Düne in Bremen oder der Elmstraße in Sahlkamp-Mitte zu erzählen, | |
[2][im ärmsten Stadtteil von Hannover]. | |
Rausch nutzt die Prominenz des Ihme-Zentrums, um sie zu auf die Bühne zu | |
bringen. Das ist politisch klug. Und nein, so wenig wie die | |
Gentrifizierungspläne der [3][Zukunftswerkstatt Ihme-Zentrum] auch nur ein | |
Wort über den Sozialwohnungsbestand in der Anlage verlieren, so wenig ist | |
sie verpflichtet, deren Ideen für Urban Farming und produktive Stadtlabore | |
als Lösungsansätze zur Kenntnis zu nehmen. | |
## Scheinbar unversöhnliche Gegensätze | |
Bloß: Es wäre für beide Seiten, und auch für die Stadt spannender und erst | |
Recht theatral sowie literarisch ergiebiger, die Konfrontation zu denken, | |
in die sich das utopische Moment des Ihme-Zentrums verwandelt hat. | |
Ursprünglich sollten auf Europas mutmaßlich größtem zusammenhängenden | |
Betonfundament einst die Lebensbereiche Arbeiten, Shoppen, Freizeit | |
[4][harmonisch ineinander übergehen, Luxuseigentumbehausungen und sozialer | |
Wohnungsbau in Frieden Wand an Wand bestehen]. | |
Jetzt sorgen sie stattdessen als scheinbar unversöhnliche Gegensätze für | |
einen internen Dauerkonflikt, der auch allem Sanieren in die Quere kommt. | |
Aber haben Devestoren wie Lars Windhorst und Kreditzocker wie Gebhard | |
Dirksen (NLB) damit denn nichts zu tun? Werden Armut und bauliche Misere | |
nicht von denen produziert, die Hypotheken aufs entwertete Objekt ziehen, | |
um sich dann in die Zahlungsunfähigkeit [5][zu verabschieden]? | |
Wissen, sagt man, ist Macht. Dort aber, wo die Spekulationsgeschichten in | |
Zusammenhang mit dem eigenen Erleben gebracht werden könnten, beschränkt | |
sich die Autorin auf Wikipedia-Infos und fragt bloß, was uns diese bringen | |
sollen. Es zähle schließlich nur, „was jetzt ist“. Statt für Empowerment… | |
sorgen, reicht es so leider nur für Empörung. Die aber immerhin ist | |
ehrlich, echt und mitreißend. | |
29 Sep 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Forscher-ueber-Umgang-mit-Armut/!5937498 | |
[2] https://www.hannover.de/Service/Presse-Medien/Landeshauptstadt-Hannover/Akt… | |
[3] https://www.ihmezentrum.info/ | |
[4] /Ihme-Zentrum-in-Hannover/!5924337 | |
[5] /Hannovers-Ihme-Zentrum-pleite/!5960533 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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