# taz.de -- Theaterstück von Milo Rau: „Theater ist ein Marionettenspiel“ | |
> Der Regisseur will scheinbar die Geschichte des Mörders Marc Dutroux | |
> erzählen. Doch er zieht auch eine Linie zur Kolonialgeschichte Belgiens. | |
Bild: Starker Auftritt: Kinder spielen, wie der Kongo sich von den Kolonialiste… | |
Sieben Kinder zwischen 8 und 13 Jahren stellen auf der Bühne das Casting | |
nach, das sie zu dieser Inszenierung gebracht hat: Elle Liza gibt eine | |
Kostprobe eines John-Lennon-Songs, Winne tanzt ein paar Takte zu Erik | |
Satie, Pepijn begleitet am Klavier. Könige wollen sie spielen, Helden, | |
Polizisten. Auf keinen Fall: einen Mörder, einen Kinderschänder. | |
Aber im Theater hat der Spielleiter das Sagen – und der hält ein Foto von | |
Marc Dutroux hoch. „Wisst ihr, wer das ist?“ fragt der (erwachsene) | |
Schauspieler Peter Seynaeve in der Rolle des Regisseurs. Klar, das weiß in | |
Belgien doch jeder! Die Geschichte des Mörders gibt nun den Inhalt vor für | |
die fünf Übungen, die die Kinder auf der Bühne absolvieren – die „Five E… | |
Pieces“, so betitelt nach Strawinskys Klavieretüden. | |
In Belgien war die Empörung groß, als bekannt wurde, dass der Schweizer | |
Dokumentartheatermacher Milo Rau die Dutroux-Geschichte mit Kindern auf die | |
Bühne bringt. Die Mordserie der 1990er ist hier noch immer ein Schandfleck, | |
der für die Zerrissenheit des Landes, eine miserable Verbrechensaufklärung | |
und eine korrupte Elite steht. | |
Bei der Brüsseler Uraufführung im Mai löste sich die Anspannung dann in | |
Begeisterungsstürme auf – denn natürlich ist Rau viel zu klug, um schlicht | |
Gewaltexzesse abzubilden oder Kinder allzu plump auszustellen. Ob bei | |
seinen Arbeiten zum Genozid in Ruanda, zu den politischen Zuständen in | |
Russland oder beim „Kongo Tribunal“: An Reflexionsebenen hat es Rau nie | |
fehlen lassen. | |
## Wie wird man eine Figur? | |
„Five Easy Pieces“ gastierte nun an den Sophiensaelen, einem der wichtigen | |
Berliner Off-Theater, bevor die Produktion in weitere 30 (!) Länder reist. | |
Rau will viel in dieser Inszenierung – vielleicht zu viel. Da wäre zunächst | |
die politisch-historische Dimension: Weil die Familie Dutroux in den | |
1950ern in Belgisch-Kongo lebte, zieht der Regisseur die Verbindung zur | |
Kolonialgeschichte Belgiens. Die Kinder schlüpfen in die Szene, in der 1960 | |
der Kongo seine Unabhängigkeit erklärt. Diese dokumentarischen Sequenzen | |
verlaufen immer gleich: Ein Video zeigt professionelle Schauspieler, die | |
den historischen Moment nachspielen, also „reenacten“, die Kinder kopieren | |
die Darstellung auf die Bühne. | |
Der Ausflug in den Kongo wird jedoch nicht fortgeführt – wie überhaupt das | |
ganze Unterfangen, den Fall Dutroux als belgische Nationalkrise zu | |
erzählen, früh stecken bleibt. Denn Rau will darüber hinaus „mit Kindern | |
einige der Grundfragen von Performance bearbeiten“, wie er vorab sagte. Wie | |
erzeugt man Gefühle auf der Bühne? Im Film? Wie wird man eine Figur? Was | |
ist Theater? Jedes dieser Themen wäre einen Abend wert. Auf die letzte | |
Frage antwortet Polly: „Theater ist ein Marionettenspiel – nur eben mit | |
Menschen.“ Einer zieht die Fäden. Dieses spürbare Ausgeliefertsein der | |
Kinder erzeugt die bedrückendsten Szenen des Abends. Wenn Peter Seynaeve | |
etwa bei Rachel nachhakt, ob sie wirklich alles fürs Theater tun würde. | |
Oder wenn er Polly befragt, ob sie bereit wäre, auf der Bühne jemanden zu | |
küssen. „Wenn es das Stück verlangt“, antwortet die betont professionell. | |
Und während man sich vergegenwärtigt, dass ein Kuss zwischen einem | |
erwachsenen Mann und einem Mädchen auf der Bühne eben doch nicht nur | |
Theater wäre, sondern ein tatsächlicher Übergriff (dass Theater mit Kindern | |
also Realität erzeugt), beginnt die Übung zur „Unterwerfung“: Rachel spie… | |
die entführte Sabine, die im Dutroux-Verlies sitzt und einen Brief an ihre | |
Eltern verfasst. Alle „Übungen“ werden gefilmt und projiziert. | |
## Vor die nackte Brust | |
Für die Rolle soll sie sich ausziehen, Seynaeve drängt sie, „so wie in der | |
Probe!“, Rachel stockt, zieht ihren Pulli aus, schließlich die Hose, zögert | |
wieder. Als sie ihr Leibchen über den Kopf streift und die Knie vor die | |
nackte Brust zieht, verlässt eine Zuschauerin den Saal. Wird hier die | |
Grenze überschritten? Ist Rachels Scham gespielt – und macht das einen | |
Unterschied? Braucht es diese Szene wirklich, um „grundsätzliche Fragen | |
über inszenatorische Gewalt“ zu stellen? | |
Rau streift viele spannende Motive, hechtet aber immer gleich zum nächsten | |
weiter. Ob in jedem Kind eine amoralische Grausamkeit liegt, ob ein Stück | |
Dutroux in uns allen wohnt, reißt der kleine Willem nur an, wenn er | |
erzählt, dass er gern Insekten verbrennt. Und der Fall Dutroux scheint dem | |
Regisseur eher Aufhänger für das übergreifende Sujet Schauspielen zu sein. | |
Während man selbst am Ende nicht wirklich weiß, wohin einen der Abend | |
führen wollte – die Kinder jedenfalls wissen, was sie wollen: spielen! Und | |
dabei sind sie eine echte Wucht, sieben ganz unverwechselbare Typen. | |
8 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Barbara Behrendt | |
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