# taz.de -- Theaterdoppel aus Dortmund und Berlin: Ganz großer und teurer Senf | |
> Kay Voges hat für das Schauspiel Dortmund und das Berliner Ensemble eine | |
> aufwändige Doppelproduktion inszeniert: die „Parallelwelt“. | |
Bild: Vier Leinwände auf der Bühne, doppelte Protagonisten | |
92 Jahre ist es her, dass Werner Heisenberg Nacht um Nacht mit Niels Bohr | |
diskutierte und dabei die Frage stellte: „Kann die Natur denn wirklich so | |
absurd sein, wie es uns in unseren Experimenten erscheint?“ Seitdem bemüht | |
sich die Menschheit redlich, den beunruhigenden Aussagen seiner | |
Quantenphysik auf die Schliche zu kommen. | |
Ein Ausdruck davon ist die Versuchsanordnung „Die Parallelwelt“, mit der | |
der Dortmunder Schauspiel-Chef Kay Voges seine Vorreiterrolle im digitalen | |
Theater behauptet und äußerst aufwändig einen Schluss aus der | |
Unschärferelation bebildert: Wir leben im Multiversum. Was, wenn wir zu | |
unseren Doppelgängern in einem Paralleluniversum Kontakt aufnehmen könnten? | |
Mit einer Armada an Schauspieler*innen, Statist*innen und | |
Techniker*innen hat Kay Voges Paralleluniversen auf beiden Seiten des | |
Currywurst-Äquators entstehen lassen: in Berlin und Dortmund. Die | |
Hauptrolle in der Simultanaufführung spielt ein gut 420 Kilometer langes | |
Glasfaserkabel, das das Berliner Ensemble mit dem Schauspiel Dortmund | |
verbindet und den Darsteller*innen ermöglicht, fast ohne | |
Zeitverzögerung zu interagieren. Durch die Ähnlichkeit ihrer Kostüme und | |
Bühnenbilder verschwimmen die Unterschiede, den Zuschauern schwirrt der | |
Kopf. | |
## Keine Braut will die Kopie sein | |
Das Currywurst-Bild stammt aus dem Stück selbst, das Voges zusammen mit | |
Alexander Kerlin und Eva Verena Müller entwickelt hat; der Text neigt zu | |
Kalauern und anderen mauen Witzen, um seine kopfschwere Kost aufzulockern. | |
Die Lebensgeschichte des Erdenbewohners Fred, die in Dortmund rückwärts | |
(also mit dem Tod beginnend) und in Berlin vorwärts erzählt wird, | |
kulminiert in der parallel gespielten Hochzeitsszene, bei der sich die | |
Figuren über Wandmonitore begegnen. | |
Obwohl Braut und Bräutigam vor dem Traualtar extra gefragt werden, ob sie | |
Paradoxien als wesentlichen Bestandteil alles Realen gelten lassen, mündet | |
die Begegnung mit den Doppelgängern in einen Zickenkrieg: Sowohl Annika | |
Meier in Berlin als auch Bettina Lieder wollen selbstredend die Hauptrolle | |
auf ihrer Hochzeit spielen und realer sein als ihre Kopie im | |
Paralleluniversum. | |
Am Ende des Spektakels bleiben in Berlin Oliver Kraushaar und in Dortmund | |
Andreas Beck als lakonische Hochzeitsgäste übrig, die über das Glaskabel | |
einen Wurst-Dialog halten und dabei quantenphysikalische Fragen zu äußerst | |
welthaltigen formen: Kann man eine Berliner Currywurst über eine | |
Einstein-Rosen-Brücke ins Ruhrgebiet schicken, wenn man in Salzgitter-Bad | |
den Raum faltet? „Wenn wir Würste wären, ging es immer nur um uns und wir | |
könnten zu allem unseren Senf dazu geben“, lautet ihr Nichtwissen | |
kaschierendes Nichtfazit. | |
## Theoretische Physik im Alltagstest | |
„Die Parallelwelt“ ist Kay Voges ganz großer und teurer Senf zur ungelöst… | |
Frage, was die Erkenntnisse der theoretischen Physik für unser alltägliches | |
Leben bedeuten könnten. Es ist ein großer Mindfuck, aufgeladen mit | |
Textschnipseln von Aristoteles, Newton, Beckett, Breton, Sebald, Heiner | |
Müller und natürlich aus der Bibel. In der langen, parallelen Geburts- und | |
Sterbeszene zur Eröffnung ist das Stück pathetischer Fernsehfilm und man | |
stöhnt insgeheim: „Der ganze Aufwand, um Netflix Konkurrenz zu machen?“ | |
Später mag man die Inszenierung wohlwollender in Referenzsysteme von David | |
Lynch bis Christopher Nolan einordnen. Die Bühne ist viergeteilt und zeigt | |
gleichrangig Videobilder und Spielszenen. Voges’ Kamera-Team arbeitet mit | |
Überblendungen und Überlagerungen, oft wissen die Zuschauer tatsächlich | |
nicht mehr, welches Bild gerade vorne live auf der Bühne produziert wird. | |
Die Entfernung zwischen Berlin und Dortmund, für deren Überbrückung das | |
Ruhrgebietstheater im komplizierten Probenprozess ganze 187 Bahnfahrkarten | |
gebucht hat, ist nicht mehr existent – ein exzellentes Bild für eine | |
globalisierte Welt der Gleichzeitigkeit und absoluten Erreichbarkeit in | |
jedem Winkel. | |
Das Stück ist aber auch anstrengend in seinem Versuchscharakter, dem die | |
spärliche Handlung komplett unterworfen ist. Es fragt nicht nur nach den | |
Erkenntnissen der theoretischen Physik, sondern auch nach der | |
Notwendigkeit einer jahrtausendealten Voraussetzung des Theatererlebnisses: | |
der physischen Präsenz der Schauspieler*innen und ihres Publikums an | |
einem Ort. Man freut sich doch, wenn am Ende das real anwesende Ensemble | |
zum Applaus antritt. Zumindest in Dortmund wird es frenetisch bejubelt. | |
18 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Max Florian Kühlem | |
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