# taz.de -- Terror und Gewalt in den Medien: Wenn der Anstand verloren … | |
> Nach jeder Katastrophe, nach jedem Terroranschlag das Gleiche: grausame | |
> Opferfotos, unbestätigte Informationen und Twitter-Hysterie. | |
Bild: So geht‘s auch: Opfer des Terroranschlags in Brüssel, die nicht zu er… | |
BERLIN taz | Die Frau in der zerfetzten gelben Jacke ist zur Berühmtheit | |
geworden. Nicht „über Nacht“, sondern eher „über Minuten“. Das Foto, … | |
sie mit nacktem Bauch, staubbedeckt und blutverschmiert in der | |
Flughafenhalle und mit direktem Blick in die Kamera zeigt, jagte nach den | |
Anschlägen durch die sozialen Netzwerke. Kurze Zeit später machte bild.de | |
damit seinen Liveticker auf, am Mittwoch war es auf einigen Titelseiten | |
internationaler Zeitungen. | |
Wie sie das wohl findet? Gefragt wurde sie sicher nicht. Wer gäbe schon | |
seine Einwilligung, sich verletzt, entblößt, traumatisiert nach einem | |
Bombenattentat fotografieren zu lassen? Oder der junge Mann, der am | |
Mittwoch den taz-Titel schmückte: entrückter Blick, blutverschmiertes | |
T-Shirt, Zigarette im Mund. Ob er gern Posterboy ist? | |
Nach jeder Katastrophe, nach jedem Terroranschlag das Gleiche: eindeutige | |
Opferfotos, die nicht in die Öffentlichkeit gehören, Livetickerwahnsinn, | |
Twitter-Hysterie, Infos, die nicht mehr als Gerüchte sind. Es knallt, und | |
einige Medien scheinen komplett den Anstand zu verlieren, schmeißen | |
Pressekodex und journalistische Ethik über Bord. | |
Die sozialen Medien würden sie dazu treiben, argumentieren Journalisten | |
dann gern. Als Bild nach dem Absturz der Germanwings-Maschine im | |
vergangenen Jahr dafür kritisiert wurde, den Namen des Kopiloten | |
veröffentlicht zu haben, erklärten sich die Bild- und bild.de-Chefs Kai | |
Diekmann und Julian Reichelt [1][in einem Facebook-Eintrag]. Es sei | |
„abwegig, zu glauben, dass die traditionellen Medien in Zeiten von Social | |
Media Informationen kontrollieren, zurückhalten könnten“. | |
Damit haben sie natürlich recht: Was häufig bei Facebook geteilt wird, | |
erreicht wohl mehr Menschen als die Bild-Zeitung. Befreit sie das aber von | |
den journalistischen Pflichten zur Sorgfalt und zum Opferschutz? | |
Natürlich gehören Bilder von Verwüstung und Zerstörung zu den Berichten | |
über Terror dazu. Natürlich beschreibt das Foto von der eingestürzten | |
Flughafendecke die Situation nach der Bombenexplosion deutlicher als eines | |
von der Außenfassade. Aber Fotos, auf denen Opfer klar erkennbar sind, | |
unterliegen dem Persönlichkeitsrecht und gehören nicht in die | |
Öffentlichkeit, wenn der Gezeigte nicht seine Einwilligung gegeben hat – | |
egal ob diese Bilder auf Twitter oder auf Facebook kursieren. | |
Welchen Einfluss die sozialen Medien auf Katastrophenberichterstattung | |
haben, zeigen auch Liveticker. Gegen acht Uhr am Dienstagmorgen sollen die | |
Bomben am Brüsseler Flughafen explodiert sein. Um 8.10 Uhr stand der | |
Liveticker von bild.de, um 8.16 Uhr der von Focus Online, um 8.37 Uhr der | |
von tagesschau.de, um 8.47 Uhr der von sueddeutsche.de, um 8.54 Uhr der von | |
Spiegel Online und um 9.07 Uhr der von Zeit Online. | |
## Futter für den Liveticker | |
Keine Frage: Ein Terroranschlag in Brüssel ist einen Liveticker wert. Das | |
Problem ist nur: Liveticker brauchen Futter. Das sickert meist aber nur | |
langsam durch. Deshalb greifen die Redaktionen erst einmal auch auf Infos | |
aus den sozialen Netzwerken zurück. Die Folge: Spekulationen und | |
unbestätigte Infos. Eine oder mehrere Personen sollen etwas auf Arabisch | |
gerufen haben, schrieben etwa Spiegel Online und Bild.de, lange bevor | |
irgendetwas über die Täter bekannt war. Focus Online veröffentlichte ein | |
Video, angeblich von der Explosion am Brüsseler Flughafen, das jedoch eine | |
andere Detonation zeigte. Später entschuldigte sich die Redaktion für den | |
Fehler. | |
Denn auch das bringen die sozialen Netzwerke mit sich: Medienkritik in | |
Echtzeit. Dass sich die Bild-Chefs und im Übrigen [2][auch Mathias Müller | |
von Blumencron], Chef von faz.net, nach dem Germanwings-Absturz erklärten, | |
lag daran, dass die Empörung über die Berichterstattung so laut geworden | |
war – und zwar nicht auf den klassischen Medienseiten in Zeitungen, sondern | |
auf Facebook, Twitter, in Blogs und den Kommentarspalten der | |
Nachrichtenseiten. „[3][Jeder wird zum Medienkritiker]“, schrieb | |
Medienjournalist Stefan Niggemeier damals. | |
Allein: Das scheint nicht dazu beizutragen, dass sich die | |
Katastrophenberichterstattung ändert. Dieser Text hätte, so wie er ist, im | |
vergangenen Jahr mehrmals geschrieben werden können, nach dem | |
Germanwings-Absturz, nach den Pariser Attentaten. Die | |
Grenzüberschreitungen, das Ausschlachten der Opfergeschichten, die | |
Dramatisierung vor allem im Boulevard sind gleich geblieben. „Wir sind im | |
Krieg“, titelte Bild übrigens am Mittwoch. | |
24 Mar 2016 | |
## LINKS | |
[1] https://de-de.facebook.com/bild/posts/10153263784480730 | |
[2] http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/absturz-in-den-alpen/warum-faz-net-… | |
[3] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/germanwings-absturz-jeder-ist-… | |
## AUTOREN | |
Anne Fromm | |
## TAGS | |
Pressekodex | |
Persönlichkeitsrechte | |
Spekulation | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schwerpunkt Islamistischer Terror | |
Schwerpunkt Islamistischer Terror | |
Pressekodex | |
Opferschutz | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Medienberichte über Anschläge: Eine einfache Rechnung | |
Internetnutzer beschweren sich, dass viel über die Anschläge in Brüssel, | |
aber wenig über Lahore und Bagdad berichtet wurde. Das ist scheinheilig. | |
Terroranschläge in Brüssel: Das Grauen der Gewöhnung | |
Allmählich zieht der Terror ein in das alltägliche Leben Europas. Kann man | |
sich daran gewöhnen? Und ist das vielleicht sogar gut? | |
Reaktionen auf Brüssel im Netz: Make fries, not war | |
Trauer und trotziger Humor: Wie so oft nach Terroranschlängen ist das Netz | |
der Raum für Reaktionen und Verarbeitung. | |
Debatte um Pressekodex: Eine Frage der Ethik | |
Der Presserat diskutiert die Berichte über die Gewalt zu Silvester in Köln. | |
Es geht darum, ob Medien die Nationalität von Tätern nennen sollen. | |
Journalistische Ethik in Katastrophen: Der Schock im Bild | |
Ein Flugzeug stürzt ab, ein Krieg bricht aus. Und wieder stehen Medien vor | |
der Frage: Darf man die Opfer zeigen? Und wenn ja, wie? | |
Forscher über Migranten in Medien: "Journalisten ignorieren Verbote" | |
In den Medien werden Migranten durch pauschalen Abwertungen stigmatisiert. | |
Kommunikationsforscher Ruhrmann analysiert Stereotype im Wahlkampf und in | |
der Presse. | |
Mutmaßliche Bombenbauer: Das Gesicht des Terrors | |
Deutschlands Boulevardmedien greifen den Gerichten schon mal unter die Arme | |
- und zeigen einen mutmaßlichen Attentäter. Ohne sein Gesicht unkenntlich | |
zu machen. |