# taz.de -- Tanzszene Berlin in der Corona-Zeit: Von der Praxis abgeschnitten | |
> Keine Aufführungen, kein Training, keine Berührungen, kaum Perspektive. | |
> Die Covid-19-Maßnahmen haben die Tanzszene besonders hart getroffen. | |
Bild: Als Tanz noch kuscheln durfte: „The Nature of us“ von Angela Schubot … | |
Ich wüsste jetzt nicht, wen es besonders kalt erwischt hat, außer alle“, so | |
bringt Simone Willeit, Geschäftsführerin [1][der Uferstudios, der größten | |
Berliner Tanzproduktionsstätte,] die Lage der Szene auf den Punkt. Der | |
zeitgenössische Tanz ist fast ausschließlich in freien Strukturen ohne | |
feste Anbindung an subventionierte Häuser organisiert. | |
Eine Choreografie wird von bis zu zehn internationalen Spielstätten | |
koproduziert. Das heißt: Wenn der Verwaltungsaufwand in der Szene schon | |
immer ein Wahnsinn war, dann ist er in Folge der Veranstaltungsabsagen | |
durch die Covid-19-Maßnahmen zu einer unentwirrbaren Matrix geworden. | |
Trotzdem fühlen sich in Berlin lebende Tänzer_innen privilegiert. [2][Mit | |
den 5.000 Euro für Soloselbstständige aus dem Soforthilfe-Programm II] hat | |
der Senat immerhin etwa zwei Dritteln der Szene über den ersten Schock | |
hinweggeholfen. | |
„Alles abgesagt, aber boo hoo, nicht alles verloren“, [3][so fasst es der | |
Choreograf Jeremy Wade] a.k.a. the battlefield nurse zusammen: „Dank sei | |
dem Tanzbüro, dem Landesverband (LAFT), dem Verein Zeitgenössischer Tanz | |
Berlin, und den unumstößlichen Kulturbewegern und -aufmischern, die sich | |
für uns starkgemacht haben. Dank sei den Institutionen, die uns bezahlt | |
haben, ob die Show stattfand oder nicht. Dank sei denen, die dort arbeiten, | |
und zwar zweimal so hart wie sonst!“ | |
## Verluste im Verschiebepuzzle | |
Solidarität, dafür ist die Tanzszene bekannt. So haben die Uferstudios mit | |
Einsetzen der Maßnahmen alle Stornierungsregelungen zum Buchen von Studios | |
und Bühnen – die Grundlage des eigenen Geschäftsmodells – außer Kraft | |
gesetzt. Simone Willeit trägt das Risiko in der Hoffnung darauf, dass | |
Institutionen eher überleben als Einzelkünstler_innen. | |
Diese Haltung der Uferstudios, die auch für Institutionen wie unter anderen | |
die Sophiensaele, das Radialsystem oder das HAU Hebbel am Ufer gilt, weiß | |
auch die [4][Choreografin Modjgan Hashemian] sehr zu schätzen. Überhaupt | |
spürt sie Solidarität: „Calm your egos – das tut echt gut!“ Was nichts | |
daran ändert, dass der Probenraum aufgrund verschobener Projekte und des | |
Schichtsystems selbst für Kleinstbesetzungen im Herbst noch knapper ist als | |
sonst. | |
„Das Problem liegt im Detail“, bemerkt der Total-Brutal-Gründer [5][Nir de | |
Volff]. Die 5.000 Euro hätten ihn gerettet, nur wie es mit seiner | |
verschobenen Premiere in Zusammenarbeit mit Geflüchteten weitergehe, sei | |
unklar. Sein engagierter Spielort, das Dock 11, kann ihm im | |
Verschiebepuzzle erst 2021 wieder einen Termin anbieten, die Projektgelder | |
der Senatsförderung müssen allerdings bis Ende 2020 aufgebraucht sein. | |
„Das ist wie erst mal lächeln, aber unter dem Tisch dann doch ein paar | |
Hindernisse bereithalten“, meint de Volff. „Trotzdem kann ich nicht sagen: | |
Hallo Senat, ihr seid sooo böse. Das, was passiert, ist keine Bigotterie. | |
Es ist die Situation. Berlin ist nicht Zürich und wir sind hier Tausende | |
guter Künstler_innen.“ | |
Laut Nir de Volff könnten es bald noch mehr werden: „Viele, vielleicht | |
Tausende, wollen nach Berlin, nachdem sie von den Hilfsmaßnahmen erfahren | |
haben. Aber was machen wir mit all den Leuten? Wir können nicht sagen: Das | |
ist eine deutsche Stadt, Tanz ist eine deutsche Kunst. Berlin ist ein Label | |
für Tanz geworden. In der internationalen Wahrnehmung komme ich nicht mehr | |
aus Tel Aviv. Ich komme aus Berlin. Aber was sich hier abspielt, ist nicht | |
nur ein deutsches Problem. Wie können wir darauf aufmerksam machen, dass | |
die Gelder aus den Eurobonds auch in anderen Ländern in die Kulturszene | |
fließen müssen?“ | |
Gerade für international erfolgreiche Choreograf_innen sei das Wegbrechen | |
der Gastspiele ausschlaggebend. Eine Covid-19-Ausfallhonorarregelung habe | |
es fast nur in Deutschland gegeben. | |
## Bereicherung für Berlin | |
So wichtig die internationalen Gastspiele für Choreograf_innen sind, so | |
unentbehrlich können die Berliner Produktionsmittel für internationale | |
Tänzer*innen sein. Bis zu 90 Prozent kommen für Produktionen des | |
[6][Choreografen Christoph Winkler] aus dem Ausland. Die bezahlten | |
Probenzeiten trügen gerade für nichteuropäische Künstler_innen dazu bei, | |
die Aktivitäten der lokalen Communities mitzufinanzieren. Die Ästhetiken, | |
die sich dadurch entwickeln, bringen wiederum neue Ideen und Sichtweisen | |
nach Berlin. | |
Wobei Nothilfe anderswo weit existenzieller sei. So habe der Tänzer Robert | |
Sempija erst einmal Nahrungspakete für Bedürftige in Kampala gesammelt. | |
„Man muss wegkommen vom Fokus auf Europa beziehungsweise Deutschland“, | |
meint auch Winkler. | |
Was nicht heißt, dass es im Auge des Orkans sicher ist. Das Geld aus dem | |
Nothilfeprogramm ist erschöpft, die Zeit der Ausfallhonorare vorbei. Die | |
Möglichkeit zum Nebenerwerb für alle, die in der Fördergelderlotterie | |
durchfallen, extrem minimiert. | |
## Training, Workshops, System kollabiert | |
Ein bereits existenzielles Problem der Tänzer_innen ist das Wegfallen von | |
Training, Unterricht und Workshops – eines der Themen, für das sich der | |
Dachverband Tanz derzeit einsetzt. Fast alle Tanzschaffenden sind | |
trainierende Virtuosen und gleichzeitig Lehrende und Forschende, die | |
Unterricht geben, nehmen und ein ausgeprägtes psychosomatisches | |
Fürsorgesystem unterhalten. Dieser ganze Bereich einschließlich seiner | |
Ökonomie ist kollabiert. „Das Schlimmste ist, dass ich keine Körperarbeit | |
machen kann. Ich vermisse die Arbeit im sistering, einem Ort für Frauen, | |
und würde selbst alles für eine Körpersession von Lea Kieffer geben“, so | |
die [7][Choreografin Angela Schubot]. | |
„Die Künstler_innen sind in diesem Sinn wirklich ‚locked‘“, sagt Ricar… | |
Carmona, Tanzkurator im HAU Hebbel am Ufer. „Sie sind von ihrer Praxis | |
abgeschnitten.“ Der künstlerische Leiter des Radialsystems, Matthias Mohr, | |
ergänzt: „Der zeitgenössische Tanz hat sehr viel Wissen dahingehend | |
entwickelt, wie ein anderes Miteinander imaginiert, erspürt und realisiert | |
werden kann. Er ist ein wichtiges Forum, das Marginalisierungen innerhalb | |
unserer Gesellschaft verhandelt. Dass diese Expertise nun, da sie besonders | |
gebraucht wird, nicht angewendet werden kann, ist doppelt tragisch. Wir | |
müssen Künstler_innen dafür Räume öffnen, ohne sie dabei in irgendwelche | |
Formate zu zwängen.“ | |
Was geht und was nicht? Mit dieser Frage steht die Szene alleine da. | |
Gesundheitsämter haben sich bislang als wenig ansprechbar erwiesen. | |
Strategien werden aufgrund der Empfehlungen von (neu engagierten) | |
Betriebsärzt_innen, Aerosole-Expert_innen und des HKI ausgearbeitet. Das | |
Verantwortungsgefühl im Tanzbereich ist hoch, die eigene Gesundheit und die | |
anderer ein hohes Gut. Von daher herrscht im Allgemeinen eher eine | |
Atmosphäre des Insichgehens als eine lauter Forderungen. | |
Dass ohne Forderungen jedoch schnell die Gefahr besteht, übersehen zu | |
werden, das weiß die viel bewegende Berliner Kulturmanagerin Madeline | |
Ritter, der die Szene einiges zu verdanken hat. Sie fordert „Unterstützung, | |
auch wenn nichts gemacht, nichts präsentiert werden kann“. Als | |
Tanzproduzenten-Team Diehl & Ritter setzt sie sich derzeit zusammen mit | |
Joint Adventures aus München und dem Dachverband Tanz auf politischer Ebene | |
für ein pandemiebedingtes Förderprogramm speziell für den Tanz ein. | |
Was, da sind sich alle darauf Angesprochenen einig, nicht die Lösung sein | |
kann: Streamen. „Es braucht so viel andere Fähigkeiten, um online in einen | |
‚Float‘ zu kommen und nicht im digitalen Schleim unterzugehen“, so der | |
Choreograf Sergiu Matis. „Ich versuche mit verkörperter Technologie zu | |
leben und die wechselseitigen Einflüsse von digitaler und analoger Sphäre | |
wahrzunehmen. Live-Performances haben weichere Grenzen, sie können die | |
Betrachter mit hineinziehen und mitverwandeln.“ Und die battlefield nurse | |
Jeremy Wade fügt zur Deutlichkeit hinzu: „Hört auf, eure Schlafzimmertänze | |
zu streamen! Die Welt brennt!“ | |
7 Jun 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Archiv-Suche/!5367188&s=Astrid+Kaminski+Uferstudios&SuchRahmen=Pri… | |
[2] /Freiberufler-und-Coronakrise/!5675887&s=Soforthilfe+Soloselbst%C3%A4nd… | |
[3] /Archiv-Suche/!5241546&s=Astrid+Kaminski+Jeremy+Wade&SuchRahmen=Pri… | |
[4] /Archiv-Suche/!5238538&s=Modjgan+Hashemian&SuchRahmen=Print/ | |
[5] /Archiv-Suche/!5432143&s=Nir+de+Volff&SuchRahmen=Print/ | |
[6] /Archiv-Suche/!5620698&s=Christoph+Winkler&SuchRahmen=Print/ | |
[7] /Archiv-Suche/!5477400&s=Angela+Schubot&SuchRahmen=Print/ | |
## AUTOREN | |
Astrid Kaminski | |
## TAGS | |
Tanz | |
Kultur in Berlin | |
Tanz | |
Theater | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Tanztage-Kurator über Coronazeiten: „Am Rand eines Burn-outs“ | |
Mitten in der Coronapandemie wurde Mateusz Szymanówka neuer Kurator der | |
Tanztage Berlin. Ein Gespräch über die Herausforderungen der Stunde. | |
Theater in Zeiten nach Corona: Alles muss anders und neu werden | |
Wie könnten sich Theater nach der Erfahrung der Entschleunigung aus der | |
Pandemie neu aufstellen? Eine Ideenskizze für ein Ganztagstheater. | |
Tanztheater-Premiere in Dresden: Alltag im Warteslot | |
Die Bürgerbühne am Staatsschauspiel Dresden wagt sich an die Freiluft: | |
„Veduta – Stadtansichten“ – eine der wenigen Premieren dieser Spielzeit. |