# taz.de -- Stolperstein für Bruno Lüdke: Der erfundene Serienmörder | |
> Bis in die 90er Jahre galt Bruno Lüdke als Serienmörder. Tatsächlich war | |
> der Mann mit kognitiver Behinderung ein Opfer der Nazis. Nun wird er | |
> rehabiliert. | |
Bild: Mario Adorf als Lüdke in „Nachts, wenn der Teufel kam“ | |
„Falsch. Falsch. Falsch. Leider falsch“, sagt [1][Mario Adorf]. Der | |
90-jährige Schauspieler sitzt am Montagabend auf der Bühne des Berliner | |
Kinos Zoopalast. Hier hat vor 64 Jahren seine Karriere begonnen mit der | |
Premiere des Films „Nachts, wenn der Teufel kam“. Auch heute wird der Film | |
gezeigt, nur geht es dieses Mal nicht ums Filmvergnügen. | |
Was Adorf nicht oft genug als „falsch“ bezeichnen kann, ist die Rolle, die | |
er selbst als 26-Jähriger in diesem Film gespielt hat. Er verkörpert darin | |
Bruno Lüdke, einen Berliner Kutscher mit einer kognitiven Behinderung. Ein | |
realer Mann, den Regisseur Robert Siodmak als Stoff für seinen Film nutzte. | |
Der Film erzählt von Lüdke als Serienmörder, der in der Weimarer Republik | |
und der NS-Zeit unzählige Femizide begeht und schließlich von einem | |
Kriminalkommissar überführt wird. Heute weiß man: Der reale Lüdke hat | |
keinen der Morde, die ihm angehängt wurden, begangen. Er selbst ist Opfer | |
der Nationalsozialisten. | |
## Ein Strauß gelber Rosen, Eimer und Spachtel | |
Doch das Bild von ihm als Massenmörder hat sich noch jahrzehntelang in der | |
Bundesrepublik gehalten. In den Medien, in der Justiz und in dem Film wurde | |
das Narrativ der Nazis einfach übernommen, bis vor ein paar Jahren. | |
Zwei Tage vor der Vorstellung im Zoopalast steht Adorf vor einem kleinen, | |
verwilderten Einfamilienhaus in Berlin-Köpenick. Neben ihm Bundespräsident | |
Frank-Walter Steinmeier, davor Pressevertreter:innen und neugierige | |
Anwohner:innen, die auf Rollatoren sitzen und ihre Hälse recken. | |
„Als Schauspieler des Bruno Lüdke löste die Entdeckung der Wahrheit in mir | |
ein tief empfundenes Bewusstwerden der Verantwortung aus“, sagt Adorf, | |
„Verantwortung für meine plötzlich fragwürdig gewordene Darstellung. Denn | |
es handelte sich ja nicht um eine fiktive Filmfigur, sondern um einen | |
realen Menschen.“ | |
## Die Polizei erpresste Geständnisse | |
Die Adresse, vor der Adorf steht, ist die Grüne Trift 32. Hier hat Bruno | |
Lüdke gewohnt, bevor er von den Nazis gefangen genommen und ermordet wurde. | |
Heute liegen hier ein Strauß gelber Rosen und Eimer, Spachtel, Sand. Und | |
ein goldenes Viereck, das im Sonnenlicht funkelt. An diesem Tag wird hier | |
ein [2][Stolperstein] für Bruno Lüdke verlegt. | |
Lüdke wurde 1908 geboren. Er ging wegen seiner kognitiven Behinderung auf | |
eine Hilfsschule. Als Erwachsener half er in der Wäscherei seiner Eltern | |
und arbeitete als Kutscher. Er galt als umgänglich, nur hin und wieder | |
klaute er Hühner und kleine Gegenstände, so lässt es sich aus frühen | |
Polizeiakten entnehmen. 1940 wurde Lüdke nach dem „Erbgesundheitsgesetz“ | |
zwangssterilisiert. Dass er „arbeitsfähig“ war, schützte ihn als Mensch m… | |
Behinderung davor, in der [3][„Aktion T4“] ermordet zu werden. | |
1943, nachdem in Köpenick eine Frauenleiche gefunden worden war, wurde | |
Lüdke von Kriminalkommissar Heinrich Franz verhaftet, weil er sich in den | |
Wäldern in der Nähe aufhielt. Systematisch versuchte Franz, Lüdke immer | |
mehr Frauenmorde anzuhängen, die nicht aufgeklärt waren. Die Polizei | |
brachte Lüdke an die Tatorte und erpresste mit Suggestivfragen | |
Geständnisse. | |
## „Das ist alles ein Fake“ | |
„Es ist unglaublich, was da an Fake News produziert wurde“, sagt die | |
Medienwissenschaftlerin Susanne Regener. „Man stellt ihn an eine | |
Reichsstraße beispielsweise, lässt ihn auf den vermeintlichen Tatort | |
zeigen, und behauptet mit dieser Fotografie, er sei der Täter.“ | |
Regener ist Medienwissenschaftlerin in Siegen, sie hat zusammen mit dem | |
Historiker Axel Doßmann 2018 das Buch „Fabrikation eines Verbrechers“ | |
veröffentlicht. Darin wird der Fall Lüdke bis ins kleinste Detail | |
aufgerollt. In den 1990er Jahren hatte der niederländische Kriminalist Jan | |
Blaauw jede einzelne Akte im Fall Lüdke nachgeprüft. | |
„Das sind etwa 400 Aktenordner aus der Zeit zwischen 1924 und 1943“, sagt | |
Regener, „und er ist zu dem Ergebnis gekommen: Das ist alles ein Fake, | |
Lüdke hat niemanden ermordet.“ Blaauws Forschungen waren die Grundlage für | |
Regener und Doßmann, das Narrativ, das von der Nazizeit bis tief in die | |
Bundesrepublik über Bruno Lüdke existierte, zu widerlegen. | |
## Verhöre als Rätselraten | |
Lüdke hatte zum Zeitpunkt seiner Verhaftung bereits eine Polizeiakte, | |
passte also in die Kategorie der „asozialen Berufsverbrecher“ der Nazis. | |
Erst letztes Jahr wurde diese NS-[4][Opfergruppe vom Bundestag anerkannt.] | |
Vor allem aber seine kognitive Behinderung und sein Aussehen waren Gründe | |
dafür, dass Lüdke zum Monster gemacht wurde. In Haft wurden kriminal- und | |
rassenbiologische Untersuchungen an Lüdke durchgeführt. Ein Lebendabdruck | |
seines Kopfes und seiner Hand wurde angefertigt. | |
„Es stellt sich die Frage nach der historischen Denk- und | |
Darstellungsweise, die Menschen als böse markiert“, sagt Regener. Seit dem | |
19. Jahrhundert gab es Pseudowissenschaften wie die Rassenbiologie, die | |
behaupteten, man könne vom Äußeren eines Menschen auf sein Inneres | |
schließen. Dafür wurden zum Beispiel Schädel vermessen. Das alles ist | |
widerlegt, existiert aber im kulturellen Unterbewusstsein weiter. | |
Es fanden Verhöre in 53 Mordfällen statt, Lüdke gestand alle. Bruno Lüdke | |
scheint die suggestiv geführten Verhöre als eine Art Rätselraten begriffen | |
zu haben, mutmaßt Doßmann. Er wollte herausbekommen, was der allwissende | |
Kommissar bereits wusste. Als Belohnung habe man Lüdke versprochen, dass er | |
Weihnachten wieder nach Hause dürfe. Im April 1944 wurde er bei | |
Menschenexperimenten in Wien ermordet. | |
## Der wirkliche Skandal | |
Die Inschrift des Stolpersteins endet mit Lüdkes Ermordung 1944. Man könnte | |
sich fragen, ob es nicht auch ein Denkmal für das geben sollte, das Lüdke | |
posthum angetan wurde. | |
„Der Umgang mit diesem Fall, nicht nur in den 1950er Jahren, sondern bis in | |
die 90er Jahre hinein, ist frappierend und muss erzählt werden“, sagt Axel | |
Doßmann. Denn erst nach der Niederlage der Nazis wurde das öffentliche Bild | |
Lüdkes geformt: Der Fall war in den 1940er Jahren geheim. Die | |
Öffentlichkeitsarbeit im Sinne der nationalsozialistischen Doktrin fand | |
erst in den 50er Jahren statt. „Das finde ich den wirklichen Skandal.“ | |
Im Spiegel gab es von 1954 bis 1970 eine Serie mit Anekdoten aus der | |
Nazi-Zeit. Auch der „Massenmörder“ Bruno Lüdke kam darin vor. Geschrieben | |
wurde sie von Bernd Wehner, einem hochrangigen Polizisten und ehemaligen | |
hohen Tier im NS-Reichskriminalpolizeiamt. Auch war Wehner erwiesenermaßen | |
Mittäter bei der Ermordung Lüdkes. | |
## Weiter als die meisten Historiker | |
Den Grund dafür, dass diese Art von Publizistik so gut ankam, sieht Axel | |
Doßmann darin, dass sich „die Mehrheit der Deutschen in den 1950er Jahren | |
und darüber hinaus als Opfer des Nationalsozialismus verstehen wollten“. | |
Aus heutiger Sicht wird eine Kontinuität sichtbar, sowohl personell in | |
Ämtern als auch im Denken der Nachkriegsgesellschaft. | |
Über den Spiegel und eine 1956er-Jahre-„True Crime“-Serie aus dem | |
Boulevardblatt Münchener Illustrierte kam der remigrierte jüdische | |
Regisseur Robert Siodmak auf die Geschichte des „Mörders“ Lüdke und fand | |
darin den Stoff für seinen „Anti-Nazi-Film“, wie er ihn nannte. Auch wenn | |
Siodmak einen antifaschistischen Film drehen wollte, findet Axel Doßmann | |
den Film zwiespältig. | |
Einerseits mache Siodmak „ein Geflecht von Täterschaft“ sichtbar, stellt | |
die Zusammenarbeit zwischen Justiz, Kriminalpolizei, Denunzianten und SS | |
heraus. „In dieser Hinsicht ist er weiter als die meisten Historiker in den | |
50er Jahren“, sagt Doßmann. | |
## „Ein übles Machwerk ist es nicht“ | |
Auf der anderen Seite unterstütze der Film ein entlastendes Bild der | |
Kriminalpolizei und der Bevölkerung. In einer Kritik nach der | |
Veröffentlichung von „Nachts, wenn der Teufel kam“ schrieb der | |
Filmhistoriker Enno Patalas im Magazin Filmkritik: „Allzu deutlich sind die | |
Gegenspieler gegen die Nazis abgesetzt, als habe es 1944 in Deutschland nur | |
erklärte Nazis und heimliche Widerstandskämpfer gegeben.“ | |
Die Schwestern von Bruno Lüdke versuchten in den 1950er Jahren juristisch | |
gegen „Nachts, wenn der Teufel kam“ vorzugehen. Es gab schließlich kein | |
Urteil, das Lüdke als Mörder verurteilt hatte. Der Richter, ein ehemaliges | |
NSDAP-Mitglied, besah Lüdke-Akten aus der NS-Zeit und entschied: Sie würden | |
eindeutig darlegen, dass es sich bei Lüdke um einen Mörder handele. Er wies | |
die Klage ab. | |
Was soll also mit einem Film wie „Nachts, wenn der Teufel kam“ passieren? | |
„Ein übles Machwerk ist es nicht. Es ist ein Stück Zeitgeschichte, das auf | |
falschen Voraussetzungen fußte“, sagt Regisseur Dominik Wessely auf der | |
Bühne des Zoopalasts, der den Dokumentarfilm „Die Erfindung eines Mörders“ | |
über Lüdke gedreht hat. | |
## Bruno Lüdke als Projektionsfläche | |
„Ich glaube, die Frage, die uns wirklich weiterführt, ist nicht die | |
Frage:,falscher Film' oder,richtiger Film' “. Axel Doßmann plädiert dafür, | |
den Film künftig im Kontext seiner Entstehung zu präsentieren und zu | |
kommentieren. „Dann lässt sich daran was erkennen und lernen, das | |
Filmkunstwerk hätte eine gute Zukunft.“ | |
Bei der Stolpersteinverlegung in der Grünen Trift steht ein Foto auf dem | |
Boden. Man sieht Lüdke lächelnd neben einem Pferd, vor dem Haus seiner | |
Eltern. Es wurde irgendwann in den 1930er Jahren aufgenommen und ist eins | |
von nur zwei privaten Bildern, die es noch gibt. | |
Die unzähligen anderen haben Nazis gemacht, als Lüdke in Haft war. Auf | |
diesen Bildern ist er als Mörder in Szene gesetzt. Eines müsse man sich | |
bewusstmachen, findet Doßmann. Den echten Bruno Lüdke, seine Gedanken und | |
Gefühle, kennen wir nicht: „Bruno Lüdke war allein Projektionsfläche. Stets | |
sprachen andere über ihn oder bildeten ihn rassistisch ab.“ | |
3 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Emeli Glaser | |
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