# taz.de -- Staatskrise in Peru: Diskreditierte Demokratie | |
> Peru torkelt seit Jahren von einer Krise zur nächsten. Nun erhebt die | |
> junge Generation ihre Stimme für eine Reform des politischen Systems. | |
Bild: Demonstration in Lima während der Wahl von Francisco Sagasti zum Überga… | |
Für Salomón Lerner ist der 9. November eine Zäsur und zugleich ein Déjà-vu. | |
Das Misstrauensvotum gegen den bis dahin amtierenden Präsidenten [1][Martín | |
Vizcarra], dem die Abgeordneten „moralische Unfähigkeit“ attestierten, ist | |
eine Neuauflage des Konflikts um die Macht zwischen Legislative und | |
Exekutive. „In [2][Peru] hat sich das Parlament erneut selbstständig | |
gemacht und unserer ohnehin fragilen Demokratie einen weiteren Tiefschlag | |
versetzt“, meint der 75-jährige Philosoph, der zu Beginn dieses | |
Jahrtausends die Wahrheitskommission leitete. | |
Die Kommission sollte die Menschenrechtsverbrechen während des schmutzigen | |
Kriegs gegen die Guerilla des Leuchtenden Pfads und der MRTA (Revolutionäre | |
Bewegung Túpac Amaru) dokumentieren und den demokratischen Neuanfang unter | |
der Regierung von Alejandro Toledo begleiten. Toledo, Perus erster | |
Präsident mit indigenen Eltern, galt damals als geeigneter Mann für den | |
Neuanfang. Der Wirtschaftswissenschaftler mit Ausbildung an der | |
renommierten US-Universität Stanford, Arbeitserfahrung bei dem | |
UN-Kinderhilfswerk sowie der OECD (Organisation für wirtschaftliche | |
Zusammenarbeit und Entwicklung) galt als der richtige Mann, um sowohl die | |
Wirtschaft wieder anzukurbeln als auch das Land zu versöhnen. | |
Heute sitzt der Heilsbringer von einst in Auslieferungshaft in den USA, | |
weil stichhaltige Beweise vorliegen, dass er über 20 Millionen US-Dollar | |
vom brasilianischen [3][Odebrecht-Baukonzern] für die Bewilligung von | |
Staatsaufträgen kassiert hat. Damit befindet sich Alejandro Toledo in | |
erlesener Gesellschaft, denn auch sein Vorgänger Alberto Fujimori und alle | |
seine Nachfolger im Präsidentenamt konnten den prall gefüllten Umschlägen | |
der Brasilianer nicht widerstehen. | |
Die unterhielten eine ganze Abteilung für das systematische Schmieren von | |
Politkern, um an lukrative Aufträge im Straßenbau, für Stadien oder | |
sonstige öffentliche Infrastruktur zu kommen. Nicht nur in Peru, sondern | |
lateinamerikaweit. Doch in Peru waren die Odebrecht-Manager mit ihren | |
Geldkoffern besonders erfolgreich. Das hat Gründe, die nicht nur in der | |
Amtszeit des autoritär, mit Geld und Erpressung agierenden Fujimori-Clans | |
liegen, sondern vor allem in einer Unternehmenskultur, wo Selbstbedienung, | |
Vetternwirtschaft und Bestechung gang und gäbe sind, so Carlos Monge. Der | |
Lateinamerika-Koordinator des Natural Resource Governance Institute in Lima | |
kennt die Spielregeln, wie Verträge zustande kommen, und weiß nur zu gut, | |
dass die Kultur des Handaufhaltens auch in der Politik weit verbreitet ist. | |
Das belegen Recherchen investigativer Medien wie IDL Reporteros oder Ojo | |
Público, die nicht nur den Odebrecht-Skandal ausleuchteten, sondern auch | |
die Netzwerke zwischen Politik, Justiz und Unternehmen, die Mitte 2018 Peru | |
erschütterten und ein kleptokratisches System der Vetternwirtschaft | |
offenlegten. | |
Damals war Martín Vizcarra erst ein paar Monate im Amt, aufgerückt, nachdem | |
der gewählte Präsident Pedro Pablo Kuczynski wegen mutmaßlicher Bestechung | |
durch den Odebrecht-Konzern zurücktreten musste. Vizcarra zögerte, dann | |
reagierte er. Er initiierte Reformen, brachte ein Referendum auf den Weg | |
und sorgte dafür, dass etliche Richter und Staatsanwälte gehen mussten. Sie | |
hatten Urteile gegen prall gefüllte Briefumschläge angeboten. Das sorgte | |
dafür, dass der eher farblose Ingenieur aus Lima in der Bevölkerung an | |
Popularität gewann, nicht aber in den Amtstuben und im Parlament. Dort | |
warfen ihm die Abgeordneten Knüppel in Serie zwischen die Beine. Die | |
Legislative probte den Aufstand gegen die Exekutive, bis Vizcarra der von | |
Korruptionsverfahren gebeutelten Parteienallianz von Apra und der | |
Fujimori-Partei Fuerza Popular den Stecker zog. Er löste das Parlament auf | |
und ordnete Neuwahlen für den Januar 2020 an, um mit anderen, | |
verantwortungsbewussten Abgeordneten den initiierten Reformprozess | |
vorantreiben zu können. | |
Dieses Experiment ging jedoch gründlich in die Hose. Die Ursachen dafür | |
liegen in den politischen Strukturen des Landes. Perus Parteienspektrum ist | |
aufgebläht, mehr und mehr Wahlbewegungen mit einer Halbwertzeit von einer, | |
maximal zwei Legislaturperioden prägen die politische Landschaft. Für die | |
im April 2021 anstehenden Präsidentschaftswahlen haben sich 24 Parteien | |
beim Wahlgericht registrieren lassen, darunter so illustre Parteien wie | |
Podemos oder Alianza por el Progreso, die von privaten | |
Universitätsbetreibern gegründet wurden und nichts anderes im Sinne führen, | |
als die von Vizcarra initiierte Kommission für die Kontrolle von | |
Bildungsstandards wieder außer Kraft zu setzen. Etliche Parteien sind reine | |
Interessenvertretungen von Multimillionären, kritisieren Analysten wie | |
Lerner oder Monge und sind damit nicht allein. | |
Das belegen auch die massiven Proteste gegen die Entlassung des Präsidenten | |
Vizcarra. Die wurden von der Jugend getragen, nicht von der politischen | |
Opposition oder den Gewerkschaften. Skater, Gamer, Internet-Nerds und | |
Studenten marschierten in der ersten Reihe, protestierten gegen ein | |
diskreditiertes Parlament und für Reformen, die Vizcarra zumindest | |
teilweise schon auf den Weg gebracht hat, wie die Reform des Wahlgesetzes, | |
die dafür sorgen könnte, dass nicht 24, sondern nicht mehr als 6 bis 8 | |
Parteien bei den Präsidentschaftswahlen am 11. April 2021 antreten werden, | |
und für die Reform der Verfassung. | |
Diese Reformvorhaben liegen nun in der Hand von Francisco Sagasti, dem | |
neuen Präsidenten, der nicht für die Amtsenthebung Vizcarras stimmte und | |
nicht zum korrupten Parlamentsklüngel gehört, der Vizcarra stürzte. Das ist | |
positiv. Noch positiver ist allerdings die Tatsache, dass in Peru eine neue | |
Generation die Stimme erhoben hat – sie könnte mit ihren Märschen dafür | |
sorgen, dass die Reformagenda weiterverfolgt wird. Ein Hoffnungsschimmer | |
für die Zukunft eines zutiefst diskreditierten politischen Systems. | |
4 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Knut Henkel | |
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