| # taz.de -- Schottlands Energiepolitik: Gespaltene Klimabilanz | |
| > Schottlands Strom ist zu fast 100 Prozent öko, aber seine Ölexporte sind | |
| > wahre CO2-Schleudern. Die Regionalregierung hat eine unklare Meinung | |
| > dazu. | |
| Bild: Energiemix in Schottland: Viele Windräder und viel Ölförderung | |
| Ende August stellte Schottlands „First Minister“ Nicola Sturgeon ihre neue | |
| Regionalregierung mit einem breiten Lächeln vor – und ließ sie als | |
| Führungsfigur eines ebenso selbstsicheren wie umweltbewussten Landes | |
| erscheinen. Denn zu ihrem Kabinett gehören nun auch zwei Mitglieder der | |
| grünen Partei. Sturgeons [1][nationalistische Scottish National Party | |
| (SNP)] drängt ebenso wie die Grünen auf ein neues Referendum für die | |
| Unabhängigkeit der 5,5 Millionen Schott:innen vom Vereinigten Königreich. | |
| Ganz offensichtlich ist Schottland – das die Bewahrung seiner Natur und | |
| Umwelt zum wesentlichen Teil seiner Identität gemacht hat – ein Fremdkörper | |
| in einem von den Konservativen regierten Vereinigten Königreich. Der Wunsch | |
| nach Unabhängigkeit erscheint da nur logisch. Und es ist das erste Mal in | |
| der Geschichte, dass Mitglieder der Grünen Regierungsämter im Königreich | |
| übernehmen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ihre Politik in | |
| Schottland Zulauf hat. Schließlich spielt dort die starke und lukrative | |
| eigene Öl- und Gasindustrie eine zentrale Rolle – und ist sogar einer der | |
| Gründe für das Unabhängigkeitsstreben des Landes. | |
| Aber Schottland wandelt sich. [2][Die Beteiligung der Grünen an der | |
| Regionalregierung], die mehr eine Kooperation als eine echte Koalition ist, | |
| war eine Folge der Wahlen im Frühjahr 2021, bei der die SNP die absolute | |
| Mehrheit um einen Sitz verfehlte. Sie verschafft dem Land neues Prestige, | |
| denn es hat trotz seines Ölreichtums einiges im Kampf gegen den Klimawandel | |
| vorzuweisen. | |
| Schottland deckt 97 Prozent seines Strombedarfs mit erneuerbaren Energien, | |
| vor allem mit Wind- und Wasserkraft. Seine [3][starken Stürme] und die | |
| bewegte See haben Schottland zum Labor für neue grüne Technologien gemacht, | |
| darunter Gezeiten-, Wellen- und schwimmende Windkraftwerke. Schottland hat | |
| sich ambitionierte Klimaziele gesetzt und sich gesetzlich verpflichtet, bis | |
| 2045 klimaneutral zu werden. | |
| Die speziell auf die beiden neuen grünen Regierungsmitglieder | |
| zugeschnittenen Portfolios sind wie gemacht für diese Zeiten einer | |
| planetarischen Klimakrise. Lorna Slater, Co-Vorsitzende der schottischen | |
| Grünen, wird Ministerin für grüne Aus- und Fortbildung, Kreislaufwirtschaft | |
| und Biodiversität, während Patrick Harvie das Ministerium für klimaneutrale | |
| Gebäude, nichtfossilen Transport und Verkehr und Mieter:innenrechte | |
| leitet. Dazu gibt es einen Minister der SNP für eine sozial gerechte | |
| Transformation zur Klimaneutralität. Das Kooperationsabkommen zwischen SNP | |
| und den Grünen sieht vor, Energiegewinnung aus dem Meer und durch | |
| Offshore-Windkraft auszubauen und mindestens zwei Milliarden Euro in | |
| nichtfossile Heiztechnik und Energieeffizienz zu investieren. | |
| Doch Schottlands grünes Image bleibt ein Trugbild, falls es [4][der neuen | |
| Regierung] nicht gelingt, ein Ende der Öl- und Gasförderung herbeizuführen. | |
| Und das wäre für Schottland ein gewaltiger Schritt. Seit fünfzig Jahren | |
| haben die Exporte des Nordsee-Öls Beschäftigung gesichert und Steuern in | |
| den britischen Staatshaushalt gespült. Zugleich haben sie alle | |
| Befürchtungen zerstreut, das „arme“ Schottland könnte seine Ausgaben nicht | |
| finanzieren, sollte es das Vereinigte Königreich verlassen. Dies hat | |
| überhaupt erst das Erstarken der Unabhängigkeitsbemühungen ermöglicht. Die | |
| SNP spricht vor ihren Anhänger:innen stets nur von „unserem Öl“. | |
| Die Emissionen, die durch Schottlands petrochemische Exporte freigesetzt | |
| werden, hinterlassen einen gigantischen CO2-Fußabdruck. [5][Die Öl- und | |
| Gasförderung] hat sich zwar seit den 1990er Jahren deutlich verringert, | |
| doch die Menge entsprach 2019 immer noch 562 Millionen Barrel, deren | |
| Verbrennung das Sechsfache der in Schottland selbst entstandenen | |
| CO2-Emissionen erzeugte. Der Verkaufserlös von etwa 26 Milliarden Euro | |
| deckt ein Zehntel des schottischen Bruttoinlandsprodukts. Komplizierter | |
| wird es dadurch, dass die schottische Regierung gar keine Befugnisse über | |
| die Energiepolitik hat – die Abwicklung der Öl- und Gasförderung kann nur | |
| das britische Parlament beschließen. Aber Schottland könnte London ein | |
| starkes Signal senden, keine Kohlenwasserstoffe mehr aus der Nordsee zu | |
| fördern, und es gäbe damit einen Grund mehr, für die Unabhängigkeit zu | |
| streiten. | |
| In Schottland scheinen die Menschen zu begreifen, dass ihre Zukunft nicht | |
| im Öl und Gas liegt. Etwa zwei Drittel sagen laut Umfragen, das Vereinigte | |
| Königreich sollte die Nordseeförderung verringern und mehr Geldmittel für | |
| grüne Technologien bereitstellen. Doch bei den regierenden | |
| Politiker:innen ist niemand, auch nicht die lächelnde Nicola Sturgeon, | |
| bereit, ein Datum zu nennen, an dem das letzte Barrel aus dem Boden geholt | |
| wird. Die Grünen hatten gefordert, auf die Erkundung neuer Öl- und | |
| Gasfelder zu verzichten, konnten sich an diesem Punkt aber nicht | |
| durchsetzen. | |
| Nicola Sturgeon laviert in der Öl-Frage | |
| Die heiße Kartoffel ist dabei das gewaltige, 800 Millionen Barrel | |
| umfassende nordatlantische „Cambo“-Ölvorkommen in der Nähe der | |
| Shetlandinseln, für das auf die Genehmigung zur Förderung gewartet wird. | |
| Der britische Premierminister Boris Johnson ist dazu entschlossen, aber | |
| Sturgeon sagt weder Ja noch Nein. Sie hat es mehrfach abgelehnt, ein Ende | |
| neuer Ölbohrungen in der Nordsee zu fordern. Die schottischen Grünen | |
| brachten sie lediglich zu dem Zugeständnis, die Lizenzerteilung für „Cambo�… | |
| juristisch prüfen zu lassen. Die schottische Sektion des Umweltschutzbunds | |
| Friends of the Earth kritisiert zu Recht, dass die Ausbeutung der | |
| bestehenden Vorkommen in der Nordsee im Widerspruch zu den Pariser | |
| Klimazielen steht. | |
| Auch wenn Schottland vor einer schwierigen Entscheidung steht – es kann | |
| sich nicht ein grünes Mäntelchen umhängen und gleichzeitig an seiner | |
| Ölindustrie festhalten. Es geht darum, welches Schottland man sein will. | |
| Solange sich unser Planet schneller erwärmt, als das Pariser Klimaabkommen | |
| vorausgesehen hat, ist die Unabhängigkeit nicht jeden Preis wert. | |
| Übersetzung: Stefan Schaaf | |
| 7 Oct 2021 | |
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| [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Scottish_National_Party | |
| [2] /Neues-Regierungsbuendnis-in-Schottland/!5794967 | |
| [3] https://www.youtube.com/watch?v=xtbS_PdA198 | |
| [4] https://www.gov.scot/ | |
| [5] /Schottland-vor-der-Abstimmung/!5033015 | |
| ## AUTOREN | |
| Paul Hockenos | |
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