# taz.de -- Russischer Angriffskrieg in der Ukraine: Ein geschützter Raum | |
> Was tun gegen die russischen Angriffe? In Cherson stellen zwei junge | |
> Männer aus Odessa mobile Bunker an Plätzen und Bushaltestellen auf. | |
Bild: In den mobilen Bunkern gibt es Strom, Ventilatoren, manchmal Wlan | |
Am schmucken Ortseingangs-Schriftzug von [1][Cherson] rauscht ein Lastwagen | |
vorbei, beladen mit einem in dunkle Folie gewickelten Steinkasten. Es ist | |
Mitte April 2023, mit dem Lkw bekommt die südukrainische Frontstadt gerade | |
den siebten mobilen Betonbunker, der die noch verbliebenen Einwohner vor | |
dem täglichen russischen Beschuss schützen soll. | |
Diese Schutzräume, die wie Haltestellenhäuschen an besonders belebten Orten | |
aufgestellt werden können, sind für die Stadt kostenlos. Sie kommen vom | |
Hilfsprojekt „Safeplace4UA“, initiiert von Nikita Besrukawyj und seinem | |
Freund Ilja Blochin aus Odessa. | |
## Vom Tennisplatz in den Bunker | |
Im März sitzt Besrukawyj in einem Berliner Café und erinnert sich: „Die | |
Idee entstand nach dem russischen Raketenangriff in Winnytsa im letzten | |
Juli, bei dem mehrere Menschen einfach so mitten in der Stadt getötet | |
wurden.“ Besrukawyj ist mit seinem Vater nach Berlin gekommen, der hier | |
medizinisch behandelt werden muss. Gleichzeitig will er hier das | |
Bunker-Projekt vorantreiben. | |
„Ich bin Jude, habe nach dem russischen Überfall erstmal als Freiwilliger | |
in der jüdischen Gemeinde geholfen und jüdische Familien aus dem | |
Kriegsgebiet evakuiert“, erzählt er. Vor dem Krieg hatte Besrukawyj ein | |
Taxi-Unternehmen in Odessa. | |
„Meine Eltern und ich haben früher einige Zeit in Israel gelebt, ich | |
erinnere mich an die Metall-Schutzräume dort, die man bei Luftalarm | |
aufsucht.“ Während eines seiner Tennis-Turniere, erzählt er, musste er | |
einmal mehrere Stunden in solch einem Mini-Bunker einen Luftalarm abwarten. | |
„Der war aus Metall, ganz klein, für nur zwei Personen.“ | |
[2][Ukrainische Städte, die regelmäßig von russischen Truppen bombardiert | |
werden] und eine schwächere Flugabwehr haben, brauchen aber stabilere | |
Schutzräume. Besrukawyj beriet sich also mit Konstrukteuren in Israel, die | |
sich mit dem Bau der dortigen Schutzräume auskannten. Dort, so erfuhr er, | |
würden die Schutzräume auch oft von Unternehmen finanziert. | |
Das Team erstellte Entwürfe für die Ukraine-Bunker und gründete eine | |
Stiftung, mit der sie nun auch Spenden und Sponsoren akquirieren. Bisher | |
konnten sie beispielsweise ein odessitisches Pharmazieunternehmen gewinnen, | |
die kommerzielle ukrainische Post „Nowa Poschta“ sowie eine | |
Supermarktkette. | |
Innerhalb von 15 Tagen könne die Baufirma in Odessa einen Bunker | |
produzieren, das koste etwa 10.000 Dollar, der spezielle Transport von | |
Odessa nach Cherson mit Lkw und Kran zum Aufstellen noch einmal etwa 2.000 | |
Dollar. Diese Kosten sollen die Spenden decken, um die kriegsgebeutelten | |
Städte zu entlasten. | |
## Cherson unter täglichem Beschuss | |
Die ersten zwei Schutzräume stellten sie in Mikolajiw auf, das bis Herbst | |
2022 täglich Ziel heftiger Raketeneinschläge war. Im Spätherbst drängte das | |
ukrainische Militär die russischen Truppen im Süden deutlich zurück, | |
befreite im November gar die acht Monate lang besetzte Großstadt Cherson. | |
Hunderte Menschen tanzten damals auf den Straßen. Seitdem jedoch ist | |
Cherson praktisch Frontstadt − die nächsten russischen Einheiten stehen am | |
anderen Ufer des Dnipro. Regelmäßig dröhnt Artilleriebeschuss durch die | |
sich leerenden Straßen, zunehmend auch Geräusche von Kampffliegern. | |
Russische Scharfschützen verhindern, dass Arbeiter der Wasser- und | |
Stromversorgung beschädigte Leitungen reparieren können. Stadtgärtner | |
arbeiten in kugelsicheren Schutzwesten. Jeden Tag werden Tote und Verletzte | |
gemeldet. | |
Rund 320.000 Menschen lebten einst in Cherson, Mitte Februar 2023 sollen es | |
laut Stadtverwaltung noch etwa 50.000 gewesen sein. Wöchentlich verlassen | |
mehr als 1.000 Menschen den Ort, Evakuierungen werden kostenlos angeboten, | |
mit Zügen und Bussen, meist über Odessa in Richtung Zentralukraine. | |
Wer noch da ist, will oder muss bleiben. Ist oft arm, schlecht ausgebildet, | |
kann kaum laufen oder pflegt bettlägerige Angehörige. Die Behörden sorgen | |
sich um die Zukunft der Stadt, fürchten steigende Armuts- und | |
Kriminalitätsraten. Und natürlich Spionage oder Sabotage. Die ersten | |
Gerichtsverfahren wegen Kollaboration während der Okkupationszeit laufen | |
schon gegen Verdächtige, die meist nach Russland geflohen sind. | |
Die Straßen der Stadt sind leer. In Cherson wird nicht spaziert. Menschen | |
bewegen sich schnell, besser mit Fahrrad, Moped oder Auto, um zum | |
Einkaufen, zur Arbeit oder zur Lebensmittelausgabe für Bedürftige zu | |
kommen. In Cherson gilt jeden Moment Luftalarm. Russische Artillerie kann | |
jeden Winkel der Stadt erreichen, ohne jede Vorwarnung. | |
Ende Februar wurde im Stadtgebiet eine Rentnerin direkt von einem Geschoss | |
getroffen und getötet. Angriffsziele sind auch immer wieder Krankenhäuser, | |
Märkte, Bushaltestellen und Spendenausgaben. An jeder Ecke sind | |
Einschlagkrater auf der Straße oder zerstörte Gebäude zu sehen. Wenige | |
Geschäfte sind geöffnet. | |
## Schutz vor Splittern, aber nicht vor Raketen | |
Die Scheiben des zentralen „Silpo“-Supermarkts sind zerstört, im Sitz der | |
Regionalverwaltung gegenüber hat eine russische Rakete einen Flügel | |
weggeschossen. Dazwischen steht ein weißer Betonkasten, bemalt mit | |
orthodoxer Ikone, aufmunterndem Psalmspruch und Aufschrift: „Ukryttja“ − | |
Schutzraum. Der erste mobile Bunker, den Besrukawyj und Blochin im Januar | |
im Chersoner Zentrum aufstellen konnten. | |
„Als wir den liefern wollten, wurden wir vom Militär an der Stadtgrenze | |
gestoppt“, erinnert sich Besrukawyj. „Es drohte Beschuss. An diesem Tag | |
wurde der Hauptplatz der Stadt beschossen, genau da, wo wir unseren | |
Schutzraum aufstellen wollten. Am 24. Dezember war dort schon eine | |
Passantin getötet worden.“ Also wurde der Bunker erst am folgenden Tag | |
installiert. „Daneben lagen noch Geschossteile vom Vortag, als wir | |
ankamen.“ | |
Ein mobiler Schutzraum ist für bis zu 25 Menschen ausgelegt, berichtet | |
Besrukawyj. Er besteht aus einem einteiligen Betonkasten, wiegt 42 Tonnen. | |
25 Zentimeter dicke Wände, 15 Zentimeter Boden, gepanzerte Tür und eine | |
35-Zentimeter-Decke, weil die besonders viel abhalten muss. Es gibt Strom | |
per Generator, Ventilatoren, manchmal auch Wlan. Die Tür ist immer offen. | |
„Die Stadtverwaltung hat uns um insgesamt 20 solcher Schutzräume gebeten, | |
um die wichtigsten Orte abzusichern, wo Menschen sich trotz aller Risiken | |
aufhalten“, sagt Besrukawyj und zeigt ein Anschreiben der Stadt Cherson an | |
seine Organisation. „Einen direkten Raketeneinschlag wird der Schutzraum | |
vielleicht nicht aushalten, aber vor Granaten, kleinen Minen, | |
Gewehrbeschuss und vor allem Splittern von Einschlägen in der Nähe schützt | |
er sicher.“ | |
## „Die Ukraine ist wirtschaftlich ausgepresst“ | |
Vier Monate später stehen immerhin schon sieben mobile Bunker in Cherson. | |
Während Blochin in der Ukraine ist, nutzt Besrukawyj seine familiäre Reise | |
nach Deutschland, um Unterstützer zu suchen. „Die Ukraine ist | |
wirtschaftlich ausgepresst“, sagt er, da könne kaum mehr jemand große | |
Summen investieren. Erst recht keine Städte wie Cherson, die ständige | |
Zerstörung erlebten. | |
Besrukawyj hat auch persönlich seine Rolle in dem Bunker-Projekt gefunden: | |
Mit der russischen Großinvasion, sagt er, habe sich seine Weltsicht | |
verändert. „Ich bin eigentlich ein Liberaler, war für gute | |
Wirtschaftsbeziehungen in alle Richtungen, auch zu Russland. Aber seit den | |
Explosionen bei uns in Odessa ist das vorbei.“ Als Freiwilliger bei der | |
Territorialverteidigung sei er abgelehnt worden, weil er keine | |
Kampferfahrung habe. „Ich bin auch eher der humanitäre Typ, mit dem | |
Volunteering kann ich am meisten für mein Land tun.“ | |
Weil die ehrenamtliche Initiative aber mehr Zeit braucht, als das unter | |
Beschuss stehende Cherson hat, will das Ukrainische Rote Kreuz nun auch | |
zehn Betonschutzräume für je 10 bis 15 Personen an belebten Orten in der | |
Stadt aufstellen. Anfang Mai meldete die Militärverwaltung einen großen | |
neuen Schutzbunker an einer Spendenausgabe. | |
[3][Am Mittwoch wurde die Stadt wieder schwer beschossen]: Am Bahnhof, in | |
einem Supermarkt und in einem Einkaufszentrum starben nach Behördenangaben | |
insgesamt 21 Menschen, 48 wurden verletzt. Am selben Tag wurde für dieses | |
Wochenende eine Ausgangssperre verhängt. | |
6 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Suedukraine-unter-Beschuss/!5910244 | |
[2] /Getoeteter-Journalist-in-der-Ukraine/!5927745 | |
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## AUTOREN | |
Peggy Lohse | |
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