# taz.de -- Russische Luftangriffe auf die Ukraine: Leben unter Dauerbeschuss | |
> Tag für Tag greift Russland die Millionenstadt Charkiw an. Unser Autor | |
> lebt dort und erzählt von einem Alltag ohne Strom und unter | |
> Dauerbeschuss. | |
Bild: In einem Wohngebiet von Charkiw nach Beschuss mit russischen Gleitbomben … | |
CHARKIW taz | Dmytro ist mental am Ende, aber für ein paar ironische | |
Bemerkungen reicht seine Kraft gerade noch: „Man darf keine russischen | |
Ölraffinerien angreifen. Und [1][Taurus-Marschflugkörper] sind nicht | |
notwendig. Damit es um Gottes Willen keine Angriffe auf Moskau damit gibt. | |
Man darf Putin ja jetzt nicht provozieren – sonst greift er am Ende noch | |
an. Was, er hat schon angegriffen? Na ja, okay, wir schicken euch 100.000 | |
Verbandskästen. Moralisch stehen wir aber auf eurer Seite, stark und | |
unverbrüchlich.“ | |
Am 22. März hat die russische Armee mehr als 20 Raketen auf zwei | |
Heizkraftwerke im Charkiwer Gebiet und auf drei große Umspannwerke in der | |
Stadt selbst abgeschossen, und damit praktisch die komplette | |
[2][Energieversorgung] der Region zerstört. Entsprechend befindet sich die | |
Stadt, die mit 1,5 Millionen Einwohnern etwa so groß wie München ist, schon | |
seit drei Wochen in einer Art Halbdunkel. Eine schnelle Lösung bei der | |
Energie ist nicht in Sicht. Denn allen ist klar, dass es einfach sinnlos | |
wäre, die Energieanlagen bei einem fast völligen Fehlen einer | |
ernstzunehmenden Luftabwehr wieder instand zu setzen. | |
„Ich kann jetzt nicht nach Hause zurück, weil es in unserem Zuhause kein | |
Licht mehr gibt. Mit zwei Kleinkindern kann man dann einfach nicht leben“, | |
klagt Lilija, 35-jährige Mutter, die wegen des Beschusses gezwungen war, in | |
einen Vorort umzusiedeln. Sie erzählt, dass es in ihrer Stadtwohnung weder | |
Gas noch warmes Wasser gibt. Im März war auch die Heizung ausgefallen. Die | |
Russen haben Bedingungen geschaffen, die [3][das Leben mit kleinen Kindern | |
in Charkiw] unmöglich machen. | |
Deshalb müssen Familien jetzt getrennt leben, wie schon zu Beginn des | |
Großangriffs vor zwei Jahren. Die Männer bleiben zum Arbeiten in der Stadt, | |
während die Frauen versuchen, mit den Kindern eine etwas sicherere | |
Wohnmöglichkeit außerhalb zu finden. „Sie verjagen die Kinder quasi aus | |
Charkiw, sie nehmen der Stadt damit ihre Zukunft“, meint Lilija. | |
Bomben, die in jede Ecke der Stadt fliegen können | |
Außer Einrichtungen der Energieinfrastruktur beschießen die russischen | |
Streitkräfte in Charkiw jetzt auch Wohngebiete mit Raketen. Am 27. März kam | |
es zum ersten Mal seit Kriegsbeginn zu einem Angriff mit Gleitbomben, also | |
einfachen Fliegerbomben, die mit Flügeln und einem rudimentären | |
Navigationssystem nachgerüstet wurden und die nach dem Abwurf durch | |
Kampfjets bis zu 40 Kilometer selbstständig zum Ziel gleiten. Das | |
verschlechtert die Sicherheitslage in Charkiw massiv, weil die Bomben quasi | |
in jede Ecke der Stadt fliegen können. | |
Die Zerstörungskraft dieser russischen Waffen ist aktuell ebenso groß wie | |
die Straffreiheit für deren Einsatz. Die russischen Piloten fliegen bis an | |
die Stadtgrenze und werfen von dort die Bomben ab, sehr häufig auf | |
Wohngebiete. In den letzten zwei Wochen sind durch russischen Beschuss | |
Dutzende Zivilisten verwundet und einige getötet worden, darunter ein | |
14-jähriger Teenager. | |
„Seit sie Charkiw mit Gleitbomben beschießen, ist es wirklich furchtbar | |
geworden, noch in die Stadt zu fahren. Man weiß absolut nicht, wohin sie | |
fliegen“, sagt Lilija und fügt hinzu, dass eine dieser Bomben auf einer | |
Distanz von nur 150 Meter an ihrer Charkiwer Wohnung vorbeigeflogen ist. | |
Die Detonation zerstörte die Balkontür. | |
Oksana, eine 29-jährige Verkäuferin, sagt, sie selbst leide nicht so sehr | |
unter Stromausfällen, weil sie bei der Arbeit Generatoren habe. Für die | |
Kinder hingegen gibt es ohne Strom keinen Schulunterricht mehr, [4][denn | |
der war ja schon lange online]. „Der Schulunterricht wird dadurch stark | |
beeinträchtigt. Das macht mir eigentlich am meisten Sorgen. Die Lehrerin | |
reagiert sehr flexibel, versucht den Unterricht entsprechend zu | |
verschieben, aber das Problem bleibt“, sagt Oksana. | |
## Ein Leben unter ständiger Anspannung | |
Die Verschärfung der Angriffe hat Oksana wohl bemerkt, aber ihr Verhalten | |
ändert sie deswegen überhaupt nicht. Absichtlich hat sie keine | |
Telegram-Kanäle abonniert, die über Raketenabschüsse oder Fliegerbomben auf | |
Charkiw informieren. Es mache sie müde und ängstlich, sie wolle nicht mehr | |
unter dieser ständigen Anspannung leben. Sie hat auch nicht vor, Charkiw zu | |
verlassen, weil sie ja einen Job in der Stadt hat. | |
Oleksandr arbeitet als Dreher in einer der großen Charkiwer Fabriken. Der | |
27-Jährige weiß, dass die russischen Streitkräfte am 9. April sein Werk mit | |
zwei Fliegerbomben beschossen und dabei Werkstätten zerstört haben. Einige | |
seiner Kollegen wurden verletzt. „Ich habe echt am Geräusch erkannt, dass | |
das keine Raketen waren. Raketen klingen ganz anders. Wenn es jetzt | |
Luftalarm gibt, suche ich sofort irgendwo Schutz. In einem Hauseingang, | |
einer Grube, irgendwo. Jeder hier erlebt das ja unterschiedlich, aber wir | |
alle müssen uns jetzt öfter in Sicherheit bringen“, sagt er. | |
Gleichzeitig ist Oleksandr auch sehr besorgt über den Beschuss der | |
Energieinfrastruktur von Charkiw. „Nach einem der Bombardements hatte ich | |
über einen Monat lang kein Gas. Erst seit kurzem geht es wieder. Ständig | |
Fast Food, das kostet viel mehr, als selber zu kochen. Und es drückt auf | |
die Moral. All diese Abschaltungen und Blackouts, dazu der Beschuss“, | |
bekennt er. Aber auch er hat nicht vor, Charkiw zu verlassen. | |
„Ich hätte nie gedacht, dass ich so was mal sagen würde, aber ich will zur | |
Arbeit gehen. Ich will noch nicht weg. Charkiw gefällt mir, es ist cool | |
hier. Ob was durch die Luft fliegt oder nicht, hier kommt meine Seele zur | |
Ruhe. Wenn ich irgendwo anders hingehe, kommen neue Probleme und Aufgaben | |
auf mich zu. Ich werde nicht fortgehen“, sagt der 27-Jährige. | |
## Hoffen auf Flugabwehrsysteme aus Europa | |
Die Menschen möchten in Charkiw leben, obgleich Russland immer neue | |
Anstrengungen unternimmt, um alle lebenserhaltenden Systeme der Stadt zu | |
zerstören. Und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kam am 9. | |
April persönlich nach Charkiw und versicherte, dass die Regierung daran | |
arbeite, Flugabwehrsysteme aus Europa zu bekommen. | |
In der Tat müsste Europa dazu in der Lage sein, wie EU-Chefdiplomat Josep | |
Borrell diese Woche beim Europäischen Nueva Economia Forum in Barcelona | |
ausführte. „Ich habe vor einigen Tagen mit dem ukrainischen Außenminister | |
Dmytro Kuleba gesprochen, und er bat dringend um sieben | |
Patriot-Flugabwehrsysteme zur Verteidigung seines Landes. | |
Es kann kein überzeugendes Argument sein, dass wir sie nicht bereitstellen | |
können, wenn man bedenkt, dass die europäischen Armeen etwa hundert solcher | |
Systeme haben. Und trotzdem sollen wir keine sieben davon liefern können, | |
obwohl sie so eindringlich darum bitten?“, sagte der Hohe Vertreter der EU | |
für Außen- und Sicherheitspolitik. | |
„Die Ukrainer sind nicht in der Lage, die Zerstörungen zu verhindern. Wir | |
müssen schneller mehr tun, damit sie dazu in die Lage versetzt werden | |
Aus dem Russischen Gaby Coldewey | |
13 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Juri Larin | |
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