# taz.de -- Roman „Siegfried“ von Antonia Baum: Täterin, Gefühlstaube, En… | |
> Der Roman „Siegfried“ von Antonia Baum folgt drei deutschen | |
> Frauengenerationen. Gespiegelt sind sie über einen Bauunternehmer mit | |
> Heldennamen. | |
Bild: Bei der Ich-Erzählerin von „Siegfried“ geraten alle Sicherheiten ins… | |
Irgendwann sind alle Spiegel weg. Aus dem Bad, aus dem Flur, bloß ein | |
silbernes Tablett hat Hilde übersehen. Sie will ihrer Enkelin die | |
vermeintliche Eitelkeit austreiben. „Nur Mädchen und dumme Gänse gucken | |
sich im Spiegel an“, lautet ihre Devise. Überhaupt erinnern Aufenthalte bei | |
der trinkenden Großmutter an den Drill von Bootcamps: Schwimmtraining noch | |
vor dem Frühstück, Mathe pauken und essen, was auf den Tisch kommt. | |
Schlimmstenfalls die „Gedrängte Lage“, ein Gericht aus den Resten der | |
vergangenen Woche. | |
Höhepunkt der Zärtlichkeit: abends Hand in Hand die „Tagesschau“ gucken. | |
Dass Hilde dann auch noch die Spiegel versteckt, diese Instrumente der | |
Selbstvergewisserung, passt nur zu gut in ihr auf Abhärtung, vielleicht | |
sogar Ich-Auslöschung zielendes Erziehungskonzept. | |
Ihren vierten Roman „Siegfried“ hat Antonia Baum aus der Perspektive einer | |
Erzählerin geschrieben, die ihr in Eckdaten gleicht: Sie ist erfolgreiche | |
Schriftstellerin und Journalistin, geboren in den 1980er Jahren, lebt in | |
Berlin, ist Mutter eines Kindes. Der Roman startet mitten in einer Krise. | |
Die Ich-Erzählerin erwacht aus einem Traum, in dem ihr Stiefvater Siegfried | |
gestorben ist – tatsächlich hatte er wenige Wochen zuvor einen Herzinfarkt; | |
am Vorabend hat sie ihrem Partner Alex gestanden, dass sie ihn mit ihrem | |
Lektor betrogen hat. | |
Alle Sicherheiten geraten an diesem Morgen ins Wanken, so dass sie | |
beschließt, in eine Psychiatrie zu fahren. Auch später skizziert Baum das | |
Sitzen in der Klinik, das Warten auf den Arzt immer mal wieder, als | |
lockeren Rahmen ihrer Seelenerforschung. Oder auch ihrer Selbstbespiegelung | |
ohne Spiegel, mithilfe des Schreibens. | |
Der Stiefvater mit dem [1][germanischen Heldennamen], der als | |
Bauunternehmer vor allem Ostdeutschland bereist, ist eigentlich nur eine | |
Nebenfigur. Er bleibt, trotz seiner Körpergröße, seines Reichtums und | |
selbstsicheren Fahrstils, merkwürdig blass. Aber er ist der Bezugspunkt von | |
Frauen aus drei Generationen. | |
Seine Mutter Hilde, die er selbst verachtet (sie „sei schrecklich, | |
besessen, eine Fanatikerin, eine alte Nazisau, er könne ihre Anwesenheit | |
nicht ertragen“), vergöttert ihn. Seine Frau, die „schöne, traurige“ Mu… | |
der Erzählerin, „musste aufpassen, dass Siegfried sie nicht betrog, wenn er | |
auf Geschäftsreisen ging, und deswegen fuhr sie meistens mit“. | |
Währenddessen kann sie nicht auf ihre Tochter aufpassen – und beschützt sie | |
selbst dann nicht, als ihre Beziehung mit Siegfried gewaltsam in die Brüche | |
geht. Eine Ungeheuerlichkeit, über die Mutter und Tochter auch Jahre später | |
nicht offen sprechen können. | |
## Lust am Bezahlen | |
Weil ihre Mutter ausfällt, wird der ihr gegenüber stets beherrschte | |
Stiefvater auch für sie zum Maßstab, nicht nur, was „vorteilhaft | |
geschnittene“ Kleider oder die Lust am Bezahlen angeht. Obwohl sie gegen | |
ihn aufbegehrt, sein Geld nicht will, sein geschenktes Auto nicht fährt, | |
seine Überzeugungen sickern doch immer wieder in ihr Leben. | |
Ist der jüngere, „herzensgute“ Alex, eine typische Berliner Existenz | |
zwischen Filmstudiumsplänen und Job in einer Bar, nicht auch ihr insgeheim | |
zu weich? Zumal jetzt, wo sie eine gemeinsame Tochter haben, Johnny, und | |
sie sich nach einem materiellen Zuhause sehnt: „Ich dachte immer, da sei | |
nichts, […] es gab ja kaum Gerüche und Spuren in den Räumen, in denen | |
Siegfried und meine Mutter sich bewegten, aber das stimmte nicht. Es gab | |
dort Ordnung, Reihenfolgen, glatte Flächen, nichts lag herum, und mit | |
Johnnys Geburt fing es an, dass ich das auch wollte, […] während die Angst | |
immer stärker wurde, eine brutale Angst, Angst von der miesen Sorte.“ | |
Diese Angst wirkt sich auch auf ihr Schreiben aus, treibt sie schließlich | |
in die Arme ihres Lektors. Seine gediegene Bobo-Wohnung verkörpert all das, | |
was der scheinbar geschichtslose Alex nicht bieten kann. | |
## Am Leben entlangschreiben | |
Es ist ein intimer, eindringlicher Ton, den die Ich-Erzählerin anschlägt | |
und mit dem sie die Leser:innen in ihre Selbsterforschung hineinzieht; | |
[2][Baum-Leser:innen ist er selbst aus ihren journalistischen Texten] | |
vertraut, die eine ungewohnt literarische Anmutung haben. Sehr konkret und | |
offen schreibt ihr erzählendes Ich an ihrem Leben und ihren Erinnerungen | |
entlang, fächert Gefühle in allen Facetten auf und reflektiert noch diesen | |
Vorgang: „Ich muss aufpassen, es ist verlockend, hart und verächtlich zu | |
sein mir selbst gegenüber. Weil das als Ausweis besonderer Redlichkeit und | |
Integrität gilt, aber auch weil ich es lange geübt habe, mit Hilde als | |
Lehrerin.“ | |
Gleichzeitig hält sie sich mit Deutungen zurück, geht nicht aktiv | |
analytisch vor, nimmt einen mit in ihre eigene Ratlosigkeit, so dass man | |
eine ganze Weile in permanenter Erwartung des Schlimmsten am Text klebt: | |
Kommt nicht gleich doch noch eine Missbrauchsenthüllung? | |
Es wird verdammt viel „ich“ gesagt in „Siegfried“: Womöglich lauter | |
Versuche, doch noch in einen der Spiegel zu schauen, die die Familie | |
versteckt hat. Aber „Siegfried“ erzählt letztlich mehr als eine private | |
Vateraustreibung. | |
So unausgesprochen wie exemplarisch porträtiert Antonia Baum drei deutsche | |
Nachkriegsgenerationen: die noch unmittelbar von Krieg, Hunger und | |
Täterideologien geprägte Hilde-Generation, deren Kinder, die ihren | |
materiellen Wohlstand mit Unfreiheit und emotionaler Taubheit bezahlen – im | |
kleinbürgerlicheren Osten, der in Gestalt von Alex’ Plattenbaueltern ins | |
Spiel kommt, letztlich genauso wie im Westen –, und schließlich die Enkel, | |
denen inzwischen ganz andere Möglichkeiten der Selbstverwirklichung | |
offenstehen. Und die dann doch plötzlich von Ängsten und Wünschen | |
heimgesucht werden, denen sie schon entkommen zu sein glaubten. | |
1 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Neuer-Roman-von-Felicitas-Hoppe/!5801098 | |
[2] /Antonia-Baum-ueber-Eminem/!5731061 | |
## AUTOREN | |
Eva Behrendt | |
## TAGS | |
Roman | |
Schriftstellerin | |
Generationen | |
Frauen | |
Literataz | |
Literatur | |
Simone de Beauvoir | |
Literatur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Roman über Freundschaft im Kulturbetrieb: Rettung in die Kunst | |
Die Dramatikerin Olga Bach erzählt von drei hochbegabten Außenseitern im | |
Berliner Kulturbetrieb. Ihr Roman „Kinder der Stadt“ ist unsentimental. | |
Debütroman über häusliche Gewalt: Abgründe aus gutem Hause | |
In „Liebe ist gewaltig“ erzählt Claudia Schumacher von häuslicher Gewalt. | |
Der Debütroman mündet in einen Ausbruch aus dem Familiengefängnis. | |
Roman „Die Unzertrennlichen“: Eine Geschichte über Freundschaft | |
Posthum erscheint ein Roman der französischen Schriftstellerin Simone de | |
Beauvoir. Eine leidenschaftliche Erzählung über die Rebellion junger | |
Frauen. | |
Erzählband von Eva Schmidt: Blicke aus dem Fenster | |
In „Die Welt gegenüber“ versuchen Frauen aus den Care-Berufen der | |
Einsamkeit zu entkommen. Eva Schmidt wählt dafür eine ruhige, unprätentiöse | |
Prosa. |