# taz.de -- „Ride of Silence“ des ADFC: Fahrt zu den Geisterrädern | |
> Mehrere hundert Radfahrende erinnern mit einem Fahrradkorso an getötete | |
> RadlerInnen – und fordern mehr Engagement von der Politik. | |
Bild: Bei der Gedenkminute für eine 2021 getötete Radfahrerin auf der Karl-Ma… | |
Der Mann im weißen T-Shirt sucht in den Tiefen seines Lastenrads. „Sind | |
leider nur noch kleine Größen übrig“, teilt er einer älteren Frau bedauer… | |
mit. Was er da gegen eine Spende von 10 Euro abgibt, sind weiße T-Shirts | |
wie das, das er selbst trägt – genau genommen tragen es die meisten der | |
mehreren hundert RadfahrerInnen, die sich am Mittwochabend vor dem Roten | |
Rathaus versammeln. Darauf zu sehen ist das Logo der Demonstration, die der | |
Berliner ADFC jedes Jahr um diese Zeit anmeldet: „Ride of Silence – | |
Gedenken an verunglückte Radfahrende“. | |
Als sich der Korso in Bewegung setzt, mögen es 300 oder 400 TeilnehmerInnen | |
sein, die erst zum Alexanderplatz, dann zum Volkspark Friedrichshain | |
rollen. Im Gegensatz zu sonstigen Fahrraddemos, bei denen sich alle Mühe | |
geben, die Geräuscharmut ihres Fortbewegungsmittels durch anhaltendes | |
Klingeln zu kompensieren, geht es diesmal sehr ruhig zu, die meisten fahren | |
schweigend. | |
Nur an bestimmten Stellen fangen alle an zu klingeln: Dann passiert der | |
Ride of Silence gerade einen Punkt, an dem in den vergangenen Jahren ein | |
Mensch auf dem Fahrrad ums Leben gekommen ist, in vielen Fällen [1][von | |
einem abbiegenden Lkw überrollt] wurde. Um die Orte zu signalisieren, | |
stellt der ADFC dort schon seit Jahren weiß angemalte Fahrräder – | |
„Geisterräder“ – auf, die immer bis zum Totensonntag stehen bleiben. | |
## Stumme Mahnung | |
Neben diese Räder, aber auch an Stellen, wo sich die tödlichen Unfälle | |
schon vor längerer Zeit ereignet haben, platzieren sich bei der Demo | |
ADFC-Ehrenamtliche mit einem kleinen Schild, auf dem das Alter der Toten | |
und das Datum des Unfalls stehen. Zehn „Geisterräder“ kamen im Jahr 2021 | |
hinzu, in den Jahren zuvor waren es mal mehr (2020: 18 getötete | |
Radfahrende), mal weniger (2019: 6 Fälle). | |
Seit 2018 gilt das Mobilitätsgesetz, in das die „Vision Zero“ | |
eingeschrieben ist: das Ziel, Toten und Schwerverletzte im Straßenverkehr | |
perspektivisch auf Null zu reduzieren. Dass das so schnell nicht gehen | |
wird, weiß der ADFC natürlich. Er warnt auch davor, bei jedem Ausschlag der | |
Kurve nach oben – wie zwischen 2019 und 2020 – der Politik Totalversagen | |
vorzuwerfen: „So einfach ist es nicht“, heißt es auf der Website des | |
Vereins. Schließlich habe der Radverkehr in diesem Intervall um fast 14 | |
Prozent zugenommen, die Zahl der Unfälle mit Radfahrenden-Beteiligung | |
dagegen nur um 0,2 Prozent und die Zahl der Schwerverletzten um 2,7 | |
Prozent. | |
Trotzdem ist jede Tote und jeder Verletzte eineR zu viel, daran erinnern | |
zwei RednerInnen bei einer Zwischenkundgebung auf der Karl-Marx-Allee – wo | |
der Korso mittlerweile nach einem Schlenker zur Holzmarktstraße und zurück | |
über die Warschauer Straße angekommen ist. Der Ort: eine mit gelben Linien | |
vorläufig gekennzeichnete Fahrradspur auf Höhe des U-Bahnhofs | |
Samariterstraße. Hier kam vor fast genau einem Jahr [2][eine junge | |
Künstlerin ums Leben], die einem auf der Spur parkenden Geldtransporter | |
auswich und von einem Lastwagen erfasst wurde. | |
## „Das darf nicht sein!“ | |
Bis heute habe keine Verhandlung zu diesem Fall stattgefunden, sagt SuSanne | |
Grittner, stellvertretende ADFC-Landesvorsitzende. Sie hebt lobend hervor, | |
dass die Unfallkommission sich schnell die Örtlichkeit angesehen habe, | |
obwohl das Mobilitätsgesetz dies nominell nur nach schweren Unfällen an | |
Kreuzungen vorschreibt. Auch habe die Verkehrsverwaltung zügig reagiert und | |
die unübersichtliche Verschwenkung des alten Hochbordradwegs auf die neue | |
Radspur korrigiert. Aber ohne Kontrolldruck gehe es nicht: „Ein paar Tage | |
später wurde hier schon wieder auf der Spur geparkt“, sagt Grittner, „das | |
darf nicht sein!“ | |
Anschließend geht es weiter über Prenzlauer Berg, Wedding und Mitte bis zum | |
Brandenburger Tor, wo die Abschlusskundgebung stattfinden soll. Auch oder | |
gerade als weitgehend stumme Geste hinterlässt der Ride of Silence Eindruck | |
bei vielen PassantInnen, die die Demonstration fotografieren oder filmen. | |
Flankiert wird der Korso von einer Einheit der Fahrradstaffel der Polizei. | |
Die BeamtInnen achten darauf, dass der Korso auch auf breiten und für den | |
restlichen Verkehr gesperrten Straßen nicht die Spuren in der Gegenrichtung | |
benutzt (ist Vorschrift, erklärt einer auf Nachfrage), sie stoppen aber | |
auch manch einen angetrunkenen Fußgänger, der die Fahrbahn queren will, | |
oder verscheuchen Mopedfahrende, die sich eben mal in den Korso einreihen, | |
um nicht warten zu müssen. | |
„Gibt halt so’ne und solche Polizisten“, sagt ein Mitfahrer anerkennend zu | |
seinem Nebenmann. Und manch einer ist offenbar stolz auf die eigene | |
Disziplin: „Ist doch auch mal nett, mit normalen Leuten unterwegs zu sein, | |
wa?“, ruft er einer Polizistin mit blondem Pferdeschwanz zu, als die ihn | |
überholt. Sie nickt. | |
19 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
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