# taz.de -- Reise in die Ostukraine: Mein bester Kauf in diesem Krieg | |
> Unser Autor fährt nach dem Rückzug der russischen Truppen in seine | |
> ostukrainische Heimatstadt. Seine Oma kann er nicht zur Evakuierung | |
> überreden. | |
Bild: Nach der Befreiung: Straßenszene im ukrainischen Lymann im Dezember | |
Am 1. Oktober zogen die russischen Truppen aus meiner Heimatstadt Lyman ab. | |
Vier Monate hatte ich keine Chance, dort hinzukommen. Aber nun fahre ich | |
nach Hause. Der fast leere Bus bringt mich über eine Behelfsbrücke. Die | |
Trümmer der alten ragen aus dem Fluss Siwerskyj Donez. Auf beiden Seiten | |
der Straße ist Wald. Der Busfahrer sagt, dass er direkt durchs Fenster die | |
Pilze dort erkennen könne. Uns beiden ist klar, dass wir wohl kaum durch | |
diesen Wald laufen könnten, denn er ist total vermint. | |
Und dann erreicht der Bus etwas, das früher einmal eine Stadt war. Hier | |
fünfgeschossige Häuser mit schwarzen, ausgebrannten Fensterhöhlen, dort | |
weitere zerstörte Gebäude. Bahnhof, Schule, Kindergarten, | |
Lebensmittelgeschäft: alles ist kaputt. Ich steige an meiner Schule aus, | |
die keine Fenster und kein Dach hat. Dann gehe ich den Weg, den ich zehn | |
Jahre lang gegangen bin – und den ich kaum noch wiedererkenne. Überall | |
beschädigte Häuser, auf den zertrümmerten Eingangstüren die Aufschriften | |
„Kinder“, „Menschen“, „Zivilisten“. | |
Und dann kommt meine Straße, die zweite vor der Stadtgrenze. Hier sind die | |
Häuser entweder gleich ganz zerstört oder zumindest beschädigt. Mein Haus | |
hat da mehr Glück gehabt, aber einige Monate unter Besatzung, ohne Fenster | |
und ohne einen Teil des Daches haben es unbewohnbar gemacht. In allen | |
Räumen sind die Decken heruntergekommen, Kleidungsstücke und Bücher sind | |
durch Feuchtigkeit zerstört, der Fußboden ist mit einer Lehmschicht | |
bedeckt. Alle Wertsachen und technischen Geräte wurden gestohlen. | |
Ich suche zusammen, was ich mitnehmen kann: einige Bücher, Fotoalben, die | |
Ikone meines Vaters, das Kuscheltier meiner Nichte. Dann gehe ich. In | |
diesem Haus ist kein Leben mehr, nicht mal mehr ein Hauch der Erinnerung an | |
meine schöne, glückliche Kindheit. Das Haus hatte einst mein Großvater | |
gebaut, sechs Jahrzehnte später wurde es von russischen Soldaten zerstört. | |
Wie bin ich froh, dass weder mein Opa noch sein Sohn, mein Vater, es jetzt | |
so sehen müssen. | |
Aber ein Haus, das ist nichts verglichen mit einem Menschenleben. Ich war | |
hergekommen, weil ich versuchen wollte, meine alte Großmutter zur | |
Evakuierung zu überreden. Sie ist 84 Jahre alt, vor der russischen | |
Besatzung hatte sie sich geweigert, wegzugehen. Jetzt mache ich erneut den | |
schüchternen Versuch, ihr zu erklären, dass es ihr in Kyjiw besser gehen | |
würde, dass es dort Strom und Heizung gibt. Aber sie wehrt es ab. Sie sagt, | |
wenn sie ginge, würde auch dieses Haus geplündert. Ich bringe es nicht | |
übers Herz, ihr zu sagen, dass diese Evakuierung wohl dauerhaft sein würde. | |
Am Ende fahre ich alleine ab. | |
Während ich diesen Text schreibe, geschieht ein Wunder: Es gelingt mir, | |
eine Wagenladung Eichenbrennholz zu kaufen und meiner Oma liefern zu | |
lassen. Das ist mein bisher bester Kauf in diesem Krieg. | |
Aus dem Russischen von [1][Gaby Coldewey] | |
Finanziert wird das Projekt von der [2][taz Panter Stiftung]. | |
Einen Sammelband mit den Tagebüchern hat der [3][Verlag edition.fotoTAPETA] | |
im September herausgebracht | |
21 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Gaby-Coldewey/!a23976/ | |
[2] https://shop.taz.de/product_info.php?products_id=245248 | |
[3] https://www.edition-fototapeta.eu/ | |
## AUTOREN | |
Roman Huba | |
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