# taz.de -- Rechtsextremistisches Attentat von Hanau: Drei Jahre Trauer und Wut | |
> Der Anschlag von Hanau jährt sich zum dritten Mal. Die Angehörigen der | |
> Opfer von Hanau und München trauern gemeinsam. Ihre Wut bleibt groß. | |
Bild: Politiker*innen und Angehörige beim offizielles Gedenken in Hanau | |
HANAU taz | Rund ein Dutzend Polizisten stehen am Sonntagmorgen vor dem | |
Eingang des Hanauer Friedhofs. Emiş Gürbüz, Hayrettin Saraçoğlu, Cetin | |
Gültekin – nach und nach steigen die Angehörigen aus ihren Autos und laufen | |
im Regen auf die Ehrengräber am Ostende des Friedhofs zu. Die Polizei im | |
Hintergrund ist ständige Erinnerung, dass [1][auch sie Ziele eines | |
rechtsextremen Anschlags werden könnten]. So wie ihre Söhne, Brüder und | |
Schwestern. | |
Bevor der muslimische Gottesdienst auf dem Friedhof beginnt, spricht Emiş | |
Gürbüz, die Mutter des getöteten Sedat Gürbüz, vor jedem einzelnen Grab und | |
Denkmal ein kurzes Gebet. Sie hebt die Hände vor sich und streicht sich | |
anschließend übers Gesicht, über ihre Augen. Dann beugt sie sich über das | |
marmorne Denkmal ihres Sohns und streicht den Regen von dem kalten Stein. | |
Der Imam beginnt sein Gebet. Er rezitiert auf Türkisch Verse aus dem Koran | |
und spricht die Namen der Getöteten: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said | |
Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih | |
Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Der Regen wird stärker, die | |
Angehörigen teilen sich ihre Schirme. | |
Drei Jahre ist es nun her, dass ein rechtsextremer Attentäter in Hanau neun | |
Menschen aus rassistischen Motiven erschoss. Nur knapp zwölf Minuten dauert | |
die Tat. Anschließend erschießt der Täter seine Mutter und schließlich sich | |
selbst. | |
## Gemeinsame Trauer | |
Rund 150 Menschen haben sich heute am Friedhof versammelt. Unter ihnen sind | |
auch sechs Familien, die beim rassistischen [2][Anschlag am OEZ in München] | |
2016 ihre Kinder verloren. Rudolf Kollmann, der Vater von Giuliano Kollman, | |
ist angereist, um den Angehörigen den Rücken zu stärken. Er sieht die | |
Parallelen zwischen den Anschlägen in München und Hanau. Denn beide Täter | |
suchten sich ihre Opfer an Orten, an denen sie viele Menschen mit | |
Migrationshintergrund vermuteten, beide hatten sich mit intensivem | |
Schießtraining vorbereitet, beide hinterließen tief rassistische Manifeste. | |
„Hätten die Behörden den rechtsextremen Hintergrund der Tat in München | |
nicht so unter den Teppich gekehrt, dann hätte Hanau vielleicht verhindert | |
werden können“, sagt Kollman. | |
Auf dem Rückweg vom Friedhof kommt Hayrettin Saraçoğlu an dem Ort vorbei, | |
an dem sein Bruder Fatih starb. Saraçoğlu, dunkelgrauer Mantel, hellgrauer | |
Hoodie, zeigt auf eine Regenrinne, die immer noch Spuren der Schüsse trägt, | |
die seinen Bruder töteten. Er hatte am Abend des 19. Februar nur einen | |
Freund zur Arbeit im Hotel bringen wollen. Als er vor dem Hotel noch eine | |
Zigarette rauchte, kam der Attentäter aus der Bar La Votre, in der er kurz | |
zuvor Kaloyan Velkov erschossen hatte. Er tötete Fatih Saraçoğlu auf der | |
Straße, ging in die Shishabar Midnight und erschoss dort Sedat Gürbüz mit | |
einem Kopfschuss. | |
Saraçoğlu hat sich bis heute nicht vom Tod seines Bruders erholt. Nach dem | |
Anschlag verlor er seinen Job, mittlerweile lebt er getrennt von seiner | |
Frau. | |
Mittags beginnt auf dem Hanauer Marktplatz die offizielle | |
Gedenkveranstaltung. Vor dem barocken Rathaus und neben dem Denkmal der | |
Brüder Grimm hat die Stadt eine Bühne aufgebaut. In der ersten Reihe sitzen | |
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), Hessens Ministerpräsident Boris | |
Rhein (CDU) und Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD). Auf ihn | |
konzentriert sich heute die Wut der Angehörigen. | |
Denn drei Jahre nach dem Attentat sind für die Angehörigen zentrale Fragen | |
immer noch offen: Warum erreichte Vili Viorel Păun über die Notrufnummer | |
niemand, als er in der Tatnacht den Täter in seinem Auto verfolgte? Warum | |
war ein wichtiger Notausgang verschlossen? Und warum fehlt bis heute ein | |
Denkmal im Zentrum der Stadt, wie die Angehörigen es fordern? | |
## Streit um Denkmal | |
„Erinnern heißt verändern“, so schallt es an diesem Mittag immer wieder | |
über den Hanauer Marktplatz. Niemand bringt die [3][Unzufriedenheit mit der | |
bisherigen Veränderung] so sehr zum Ausdruck wie Emiş Gürbüz. Der 19. | |
Februar sei ein Schandfleck Deutschlands. Ihre Stadt, ihr Land schulde neun | |
Familien jeweils ein Leben. Und an Bürgermeister Kaminsky gerichtet sagt | |
sie: „Wenn Sie uns unsere Kinder schon nicht zurückgeben können, dann tun | |
sie, was in ihrer Macht steht. Errichten Sie ein Denkmal hier auf dem | |
Marktplatz von Hanau.“ | |
Der Bürgermeister dankt den Angehörigen für ihr Engagement, für ihre Stärke | |
an diesem schwarzen Tag. Er verweist auf das Zentrum für Demokratie und | |
Vielfalt, das in Hanau mit einer 3,4-Millionen-Förderung vom Bund entstehen | |
soll. Aber im Streit über das Denkmal will er nicht nachgeben. Die | |
Angehörigen wollen das Denkmal im Herzen der Stadt, auf dem Marktplatz. | |
Aber Kaminsky sagt: „Dieser Marktplatz wird bei diesem Denkmal nicht | |
ausgewählt werden.“ Der Hanauer Marktplatz sei seit vielen Jahrzehnten der | |
Ort, der den Brüdern Grimm gewidmet sei. Hier ein Denkmal an den | |
rechtsextremen Anschlag vom 19. Februar 2020 zu errichten würde bei der | |
Mehrheit der Hanauerinnen und Hanauer ein „Störgefühl“ hervorrufen. | |
Abfinden werden sich Emiş Gürbüz und die Familien von Hanau damit wohl | |
kaum. Bis heute geht Gürbüz jeden Tag auf den Friedhof in Dietzenbach. | |
Gürbüz zählt jeden Tag, seit ihr Sohn Sedat getötet wurde. 1.096 sind es | |
mittlerweile. Sie sagt: „Ich habe keine Ruhe. Und ich werde keine Ruhe | |
geben.“ | |
19 Feb 2023 | |
## LINKS | |
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[3] /Anschlag-von-Hanau/!5910968 | |
## AUTOREN | |
Mitsuo Iwamoto | |
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