| # taz.de -- Rassismus in Deutschland: Die Probleme sind nicht weit weg | |
| > Der Freedom Day, Juneteenth, in den USA ist in diesem Jahr brutal | |
| > aktuell. Auch in Deutschland muss über strukturellen Rassismus gesprochen | |
| > werden. | |
| Bild: „Stille ist Gewalt“ – Black-Lives-Matter-Demo am 6. Juni 2020 in K�… | |
| Der 19. Juni ist ein besonderer Tag für die Geschichte der Vereinigten | |
| Staaten. Als Gedenktag steht Freedom Day am 19. Juni, auch als Juneteenth | |
| bekannt, für die Sklavenbefreiung und die damit einhergehende Emanzipation | |
| Schwarzer Menschen von der weißen Gewaltherrschaft. | |
| Wir können in Deutschland nur erahnen, welche Kraft und Bedeutung ein | |
| solcher Tag für die schwarze Bevölkerung in den USA hat, die bis heute über | |
| Generationen hinweg einen kollektiven Traumaprozess durchlebt, der durch | |
| latenten und strukturellen Rassismus immer wieder aktiviert wird. | |
| Doch Juneteenth ist in diesem Jahr anders. Der Gedenktag hat sich durch den | |
| [1][Tod von George Floyd] nach rassistischer Polizeigewalt brutal | |
| aktualisiert. Er steht in einem ganz besonderen politischen Kontext. Denn | |
| die Situation Schwarzer Menschen ist wieder zu einer globalen politischen | |
| Frage geworden: #BlackLivesMatter. | |
| George Floyds gewaltsamer Tod und die anschließenden Massendemonstrationen | |
| der Zivilgesellschaft bewegen Menschen überall auf der Welt – und wirken | |
| bis in die internationale Politik hinein. Erst kürzlich forderten einige | |
| afrikanische Länder im UN-Menschenrechtsrat eine Untersuchung des | |
| „systemimmanenten Rassismus“ in den USA. Ein Tabubruch für einige | |
| US-Diplomaten. Sie waren empört über den Resolutionsentwurf. | |
| ## Globales Problem | |
| Leider haben Deutschland und andere EU-Staaten sich gegen die Forderung | |
| nach einem Untersuchungsausschuss für [2][Rassismus] in den USA gestellt. | |
| Mit dem Hinweis, dass es ein globales und kein rein amerikanisches Problem | |
| sei. Das Beispiel zeigt: Es formiert sich eine Bewegung zu dieser | |
| überwunden geglaubten politischen Frage, die Politik und Zivilgesellschaft | |
| zurecht emotionalisiert und politisiert. | |
| Und in Deutschland? In der Tat ist die Situation historisch hier eine | |
| völlig andere. Und genau deshalb ist es wichtig, dass die Kanzlerin in | |
| ihrer Reaktion auf den Mord an George Floyd und die Proteste betonte, dass | |
| Deutschland zuerst vor der eigenen Tür kehren müsse. Ein Satz der mit Blick | |
| auf den NSU-Terrorismus, den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten | |
| Walter Lübcke und den rechtsterroristischen Anschlag in Hanau im Februar | |
| diesen Jahres selbstverständlich sein müsste. | |
| Und dennoch: Merkel muss uns, und vielleicht auch sich selbst, immer wieder | |
| bewusst machen, dass Rassismus nicht nur ein Nebenschauplatz in diesem Land | |
| ist, sondern tagtäglich das Leben von Menschen bedroht, die Teil unserer | |
| Gesellschaft sind und mit uns leben. | |
| Der unsichtbar gemachte, geleugnete Rassismus, der wie Gift in alle | |
| Bereiche der Gesellschaft eingedrungen ist, hat dafür gesorgt, dass der | |
| Rechtsextremismus von der Regierung nicht rechtzeitig in seinem Ausmaß | |
| ernstgenommen wurde. Er hat dafür gesorgt, dass Menschen, die für | |
| Demokratie und ein gleichberechtigtes Zusammenleben in Deutschland | |
| einstehen, zu öffentlichen Zielscheiben organsierter Menschenfeindlichkeit | |
| werden konnten. | |
| ## Wichtiger Schritt | |
| Bei allem Lob für den Satz der Kanzlerin stelle ich mir die Frage, welche | |
| politischen Taten daraus folgen, dass wir „vor der eigenen Tür kehren“? Ein | |
| wichtiger Schritt war die Schaffung eines Kabinettsausschusses zur | |
| Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus nach den Morden in Hanau. | |
| Hier kommen Minister*innen zusammen, Menschen, die an den entscheidenden | |
| politischen Hebeln sitzen. | |
| Doch wichtiger wäre es, von Rassismus betroffene Menschen, die zugleich | |
| Expert*innen für die Thematik sind, zu Wort kommen zu lassen – auf | |
| allerhöchster Ebene. Es braucht einen Paradigmenwechsel beim Blick auf | |
| Rassismus. | |
| Das gilt auch für den Anti-Rassismusausschuss. Wir müssen den Menschen | |
| zuhören, die täglich überlegen müssen, ob der Heimweg für ihre Kinder durch | |
| ein bestimmtes Viertel zu gefährlich sein könnte. Die entscheiden müssen, | |
| ob sie bei einer Bewerbung ihren Namen angeben sollen. Die befürchten | |
| müssen, dass eine Anzeige wegen eines rassistischen Vorfalls nicht | |
| aufgenommen wird. | |
| Das neue Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz ist eine politische und | |
| menschenrechtlich richtige Antwort auf den strukturellen Rassismus und | |
| weitere Diskriminierungen. Es hat das Potenzial, den Blick neu zu | |
| justieren. Erstmals definiert ein Gesetz strukturellen Rassismus in | |
| Behörden als das, was er ist: Ein flächendeckendes Problem. | |
| ## Hoffnung auf Entschädigung | |
| Betroffene von rassistischer Polizeigewalt können auf Entschädigung hoffen | |
| und entsprechende Fälle bei einer Opferstelle innerhalb der Polizei melden. | |
| Hier und im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz müssen aber zusätzlich | |
| Definitionen von Anti-Schwarzem Rassismus und weitere | |
| Diskriminierungskategorien aufgenommen werden. Nur dann kann sichergestellt | |
| werden, dass Schwarze Menschen eine angemessene und professionelle | |
| Gleichbehandlung durch alle staatlichen Institutionen erfahren, | |
| einschließlich der Polizei. | |
| Die anschließende Debatte über das Gesetz hat jedoch gezeigt, dass viele | |
| Menschen es für unvorstellbar halten, dass Rassismus in einer deutschen | |
| Behörde überhaupt existieren könnte. Der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken wird | |
| gar die Eignung für ihr Amt abgesprochen und sie muss sich Vorwürfe aus den | |
| eigenen Reihen anhören, weil sie eine Untersuchung rechtsextremer Tendenzen | |
| in der Polizei fordert. | |
| ## Kohärente Maßnahmen | |
| Was das zeigt? Die weiße Mehrheitsgesellschaft kann und möchte vielleicht | |
| nicht sehen, dass Rassismus sich strukturell durch staatliche Einrichtungen | |
| zieht. Vielleicht sollten alle, die dieses Gesetz empört, sich bei den | |
| migrantischen und Schwarzen Communities einfach mal nach | |
| Rassismuserfahrungen erkundigen. | |
| Denn das Problem heißt auch in Deutschland: Rassismus. Und jeder ist dabei | |
| als Erstes mit seinem eigenen Rassismus konfrontiert. Innenminister Horst | |
| Seehofer und Familienministerin Franziska Giffey sind gefragt, kohärente | |
| Maßnahmen zu ergreifen, um strukturellen und Anti-Schwarzen Rassismus in | |
| allen Gesellschaftsbereichen zu bekämpfen und die Umsetzung der laufenden | |
| UN-Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft auch in Deutschland | |
| Wirklichkeit werden zu lassen. | |
| Wir sollten diesen Tag und die internationale Debatte nutzen, um unsere | |
| Institutionen, unsere Gesellschaft zu reflektieren und auf strukturellen | |
| Rassismus hin zu überprüfen. Die Regierung sollte dafür vor allem die | |
| zivilgesellschaftlichen Initiativen finanziell stärken, die den | |
| migrantischen und Schwarzen Communities in Deutschland eine eigene Stimme | |
| geben. | |
| Der oft übersehene Teil der Gesellschaft muss dauerhaft an die Tische, wo | |
| bislang andere Entscheidungen über das Leben dieses Teils treffen. Denn es | |
| reicht nicht, weiße Menschen zu sensibilisieren und Schwarze Menschen zu | |
| Wort kommen zu lassen ohne dass ihre Themen Teil der Agenda und sie selber | |
| Teil der Entscheidungsfindung sind. | |
| Die Probleme sind also nicht so weit weg, wie viele denken. Auch | |
| Deutschland steht als Einwanderungsland in der Verantwortung, allen | |
| Bürger*innen ein sicheres, chancengleiches und würdevolles Leben zu | |
| garantieren. Der Freedom Day am 19. Juni sollte uns auch hier zu Lande | |
| daran erinnern, dass Respekt und Toleranz Teil unseres Grundgesetzes sind | |
| und tatkräftige Menschen aller Couleur braucht, dies auch in Deutschland | |
| Realität werden zu lassen. | |
| 19 Jun 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Selmin Çalışkan | |
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