| # taz.de -- Radrennsport in der DDR: Die Tour de France des Ostens | |
| > Die Friedensfahrt galt als härtestes Amateur-Radrennen der Welt. In der | |
| > DDR war sie extrem beliebt. Nach deren Ende ging es trotzdem steil | |
| > bergab. | |
| Bild: Aushängeschild des DDR-Sports: Radrennfahrer Olaf Ludwig nach dem Friede… | |
| Berlin taz | Operetten können irren. „Jedes Jahr im Mai“, heißt ein | |
| Bühnenstück, das 1954 im Ost-Berliner Metropol-Theater uraufgeführt wurde. | |
| Es handelte von der Internationalen Friedensfahrt, dem großen | |
| Radsportereignis, das in vielen Etappen durch Polen, die Tschechoslowakei | |
| und die DDR führte. Jedes Jahr im Mai – bis ins Jahr 2006. Aber da gab es | |
| ja auch keine DDR oder ČSSR mehr. | |
| Die realsozialistische Friedensfahrt wurde im Westen als das „härteste | |
| Amateurrennen der Welt“ bezeichnet, manchmal auch als „Tour de France des | |
| Ostens“. Die Tour de France gibt es noch, sie läuft seit diesem Samstag, | |
| und auch sie war schon einmal in Berlin gestartet – 1987 in West-Berlin. | |
| Zu Recht wird aber an die Friedensfahrt häufiger erinnert als an die | |
| merkwürdige Episode, die Tour de France anlässlich der damals mit viel | |
| Trara inszenierten Berliner 750-Jahr-Feier am Ku'damm losgehen zu lassen. | |
| 59 Friedensfahrten gab es zwischen 1948 und 2006, in Kleinmühlingen in | |
| Sachsen-Anhalt steht ein privates Friedensfahrtmuseum, jedes Jahr wird in | |
| einigen Orten noch die „Kleine Friedensfahrt“ ausgetragen, ein Radrennen | |
| für Kinder. | |
| Und in Prenzlauer Berg hatte jetzt die Helle Panke, das Berliner | |
| Bildungswerk der linksparteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung, zu einer | |
| Veranstaltung „anlässlich des 70. Jahrestages des ersten Sieges eines | |
| DDR-Radsportlers bei der Friedensfahrt“ eingeladen – zusammen [1][mit der | |
| sozialistischen Tageszeitung nd], die aus dem SED-Zentralorgan Neues | |
| Deutschland hervorgegangen ist. | |
| ## „Das Rennen hat die Leute fasziniert“ | |
| Die Friedensfahrt gehörte im Osten zu den sportlichen Höhepunkten des | |
| Jahres. „Das Rennen hat die Leute fasziniert“, sagt Jirka Grahl, Sportchef | |
| des nd. Und er fügt hinzu: „Die Friedensfahrt war auch ein politisches | |
| Ereignis.“ | |
| An der Friedensfahrt hängen unglaublich viele Erzählungen. Das wird auch | |
| bei der Veranstaltung Mitte vergangener Woche noch einmal deutlich. Viele | |
| Ostdeutsche erinnern sich, wo sie irgendwann in den 1960ern oder 1970ern | |
| standen, als die Friedensfahrer durch ihren Ort kamen. | |
| Sie diskutieren über die eine Etappe, als in der Slowakei ein | |
| Wintereinbruch kam und die Fahrer sich mit ihren Rädern durch den Schnee | |
| kämpfen mussten. Sie tauschen sich über den Schwierigkeitsgrad der „Steilen | |
| Wand von Meerane“ aus: ein beinahe aus dem Nichts auftauchender Berg in | |
| Sachsen – 340 Meter Fahrstrecke mit 32 Metern Höhenunterschied. | |
| Als Jirka Grahl kurz die Fanfare der Friedensfahrt einspielt und sagt, dass | |
| sie täglich im DDR-Fernsehen lief, meldet sich ein Fan. „Ich möchte das | |
| ergänzen“, sagt er, „die lief auch im Radio.“ | |
| ## Täve Schur und die Weltliteratur | |
| Solche Fans erinnern sich natürlich auch an viele Namen. [2][Gustav Adolf | |
| Schur, genannt „Täve“, ist der berühmteste.] Zweimal gewann er die Fahrt, | |
| 1955 und 1959, und seine Bedeutung ist nicht nur daran zu erkennen, dass | |
| Helle Panke und nd an das Jubiläum seines ersten Sieges erinnern. Schur, | |
| inzwischen 94, langjähriger SED-Abgeordneter der Volkskammer, später | |
| Mitglied der PDS-Fraktion im Bundestag, gehört zentral zur DDR-Geschichte. | |
| Selbst in die Weltliteratur hat er es geschafft. | |
| Der Schriftsteller Uwe Johnson hat 1961 „Das dritte Buch über Achim“ | |
| vorgelegt, einen Schlüsselroman über Schur und den Sport der DDR. „Der | |
| Staat liebte ihn, er liebte den Staat: er hatte es selbst gesagt“, heißt es | |
| da. | |
| In [3][der Johnson eigenen Sprache] formuliert er die Frage, die bis heute | |
| über Schur, der Friedensfahrt und dem DDR-Sport hängt: „Wie erklärt von den | |
| hohen schwarzen Buchstaben auf Weiß zuckten schreiende Personen am Rand der | |
| Bahn wie genährt aus der Schriftzeile: DER SPORT IST EIN MITTEL DER | |
| SOZIALISTISCHEN ERZIEHUNG. Der faserige Rand der Zeitung, ihre verstellte | |
| Sprache. Das muß doch herauszukriegen sein.“ | |
| ## Der jubelnde Generalsekretär | |
| Mehrfach endete die Friedensfahrt in Ost-Berlin. 1982 feierte sie ihr | |
| Finale am Alexanderplatz. Den 87 Fahrern aus 16 Ländern, die nach über | |
| 1.900 Kilometern ins Ziel kamen, wurde allerspätestens auf den letzten | |
| Metern klargemacht, dass man sie in die „Hauptstadt der DDR“ gelotst hatte: | |
| Vom Strausberger Platz über die Karl-Marx-Allee waren die Balkone mit | |
| Fahnen behangen, viele Menschen standen am Rand, eine Tribüne war aufgebaut | |
| für die, die sich wichtig wähnten. | |
| Als der DDR-Fahrer Olaf Ludwig über die Ziellinie fuhr – er wurde | |
| Gesamtsieger der Tour – schwenkte das Staatsfernsehen schneller auf Staats- | |
| und Parteichef Erich Honecker, als Ludwig die Arme hochreißen konnte. Der | |
| Generalsekretär der SED gab sich als Fan. | |
| Honecker jubelte dem Sport zu, und zwar nicht jenem von solcher Sorte, die | |
| zu oft als „nur Sport“ beschrieben wird. Die Friedensfahrt sollte bessere | |
| Werte symbolisieren. Es ging nicht um Geld, es gab keine Sponsoren, es war | |
| länderübergreifend und grenzüberquerend, und es war für den Frieden – mit | |
| der weißen Taube als Symbol. | |
| Zur Wahrheit gehört: In der durchmilitarisierten, bis an die Zähne | |
| bewaffneten und munter Rüstungsgüter in alle möglichen Kriegsgebiete | |
| liefernden DDR gehörte die [4][staatliche Dauerberieselung mit hohlen | |
| Phrasen der Friedenspropaganda] zum Alltag wie die leeren Regale in den | |
| Kaufhallen außerhalb Ost-Berlins. | |
| ## Wackeliger Mythos | |
| Wenn man genau hinschaut, symbolisierte die Friedensfahrt so ziemlich | |
| alles, was im Ostblock geschah. Schon der Mythos von mehreren Ländern, die | |
| sich nach dem Krieg des Friedensgedankens wegen zusammentaten, steht | |
| wackelig da. 1947/48 hatten zwei Sportjournalisten unabhängig voneinander | |
| die Idee einer Etappenfahrt von Warschau nach Prag – oder umgekehrt. | |
| Zygmunt Weiss von der polnischen KP-Zeitung Trybuna Ludu und Karel Tocl vom | |
| tschechoslowakischen KP-Organ Rudé Právo kooperierten, aber konnten sich | |
| nicht einig werden, und am 1. Mai startete in Warschau die eine Premiere, | |
| in Prag die andere. Die erste Friedensfahrt hatte zwei Sieger, zwei | |
| Gesamtwertungen, zwei Streckenführungen, zwei Zielorte. | |
| Erst ein Jahr später gab es ein gemeinsames Rennen. 1950 war auch die DDR | |
| dabei. Sehr viel später, Mitte der 1980er Jahre, wollte auch die | |
| Sowjetunion zu den Ausrichtern gehören. Um das zu unterstreichen, wurde die | |
| Friedensfahrt 1986 in Kiew gestartet – elf Tage nach Tschernobyl und ohne | |
| westliche Teams, die alle wegen des Reaktorunglücks abgesagt hatten. Die | |
| DDR schickte wie selbstverständlich ihre Radsportler dorthin. | |
| Aber eine sich unter Michail Gorbatschow wandelnde Sowjetunion wollten die | |
| DDR-Funktionäre trotzdem nicht in der Friedensfahrtorganisation dabei | |
| haben. Auch der Plan, 1988 in Kooperation mit der französischen KP-Zeitung | |
| L'Humanité eine Fahrt Paris-Moskau zu organisieren, wurde abgelehnt. | |
| ## Sportchef mit Nachrichtenmonopol | |
| In der DDR war es übrigens ebenfalls das Zentralorgan, das die | |
| Friedensfahrt organisierte: Der [5][damalige Sportchef des Neuen | |
| Deutschland, Klaus Huhn], wurde zum Cheforganisator, und weil mit diesem | |
| Sportereignis auch für internationale Anerkennung des ostdeutschen Staates | |
| getrommelt wurde, nannte sich die Rundfahrt bald offiziell „La Course de la | |
| Paix“. | |
| Huhn stellte sich als „Directeur“ und „Commissaire“ vor. Vor allem wurde | |
| er, wie Jirka Grahl sagt, zum Erzähler der Friedensfahrt: „Er hat über ein | |
| Rennen berichtet, das er selbst organisiert hat.“ Herausgekommen sind | |
| Geschichten über Sportler, die sich gegenseitig helfen, die weder Geld noch | |
| andere Gratifikation wünschen und aus vollem Herzen die von ihnen | |
| verlangten Friedensbotschaften vorlasen. „Huhn hatte das | |
| Nachrichtenmonopol.“ | |
| Nach 1990 versuchte die Friedensfahrt mit unterschiedlichen Konzepten und | |
| Sponsoren als Profirundfahrt zu überleben. Rein sportlich war das Konzept | |
| einer Dreiländertour immer noch attraktiv. Bemühungen, sie mal nach | |
| Brüssel, mal nach Hannover, mal nach Linz zu lotsen, waren trotzdem nicht | |
| erfolgreich. | |
| Am Ende war die einst stolze Friedensfahrt „nur noch ein drittklassiges | |
| Profirennen“, wie auch Jirka Grahl sagt. Immerhin, bis zuletzt fand sie | |
| stets im Mai statt. | |
| 6 Jul 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Martin Krauss | |
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