# taz.de -- Politikerin über ihr Leben mit Behinderung: „Ich bin eine Luxusb… | |
> Katrin Langensiepen hat keine Speichen in den Unterarmen. Mit ihrem | |
> Erfahrungswissen will sie für die Grünen ins Europaparlament einziehen. | |
Bild: Will anderen Menschen mit Behinderung Mut machen, in die Politik zu gehen… | |
taz: Frau Langensiepen, fühlen Sie sich behindert? | |
Katrin Langensiepen: Ich empfinde dieses Wort nicht mehr als negativ. Ich | |
wurde früher oft gefragt: „Kann man da nicht was gegen machen, das | |
operieren?“ Aber wenn die Operation schiefgeht? Das Risiko gehe ich nicht | |
ein. Es ist ein Teil von mir. Ich möchte mir die Arme nicht abhacken und | |
lange Arme dran machen. Dann wäre ich nicht mehr ich. Auch wenn es gerade | |
in der Kindheit und Pubertät hart war. | |
Fühlen Sie sich denn von der Gesellschaft behindert? | |
Beispiel: Im Hotel packen sie die Brötchen am Buffet ganz oben in so einen | |
Korb, sind aber ein barrierefreies Hotel. Da krakeele ich und bin in dem | |
Moment echt sauer. Ich muss nicht immer freundlich meinen Mund halten und | |
sagen, ach ja, die wissen das ja nicht besser. Oft ist das Argument: „Wenn | |
du da nicht rankommst, dann sag doch Bescheid.“ Ja klar, ich gehe mit fast | |
40 gerne zur Rezeption und sage: „Du, Onkel, kannst du mir das Brötchen mal | |
runterholen?“ Auf Hilfe angewiesen zu sein, ist ein Risiko. Ich muss immer | |
die Angst haben, dass dann niemand da ist. | |
Warum haben Sie verkürzte Arme? | |
Ich habe eine ziemlich seltene Erbkrankheit, das TAR-Syndrom. Mir fehlen | |
die Speichen in den Unterarmen. Meine Ellen sind da. Und ich habe eine | |
Blutkrankheit. Mir fehlen die Blutplättchen. Wenn ich blute, verblute ich, | |
wenn ich keine Blutspende bekomme. | |
Hatten Sie schon einmal einen schweren Unfall? | |
Gleich nach meiner Geburt war ich vier Monate im Krankenhaus, dazu kamen | |
zahlreiche Armbrüche. Den Tod habe ich ausgetrickst als Kind. | |
Hab Sie mal mit Ihrem Schicksal gehadert? | |
Ja. Aufgrund meiner vielen Krankenhausaufenthalte bekam ich aus meinem | |
Umfeld großes Unverständnis ab. Ich war oft krank und hatte deshalb viele | |
Probleme mit der Schule. Die Lehrer wussten nicht, wie sie mich bewerten | |
sollten. Ich hatte Glück, wenn mir jemand die Hausaufgaben gebracht hat. | |
Auf was für einer Schule waren Sie? | |
Auf einer Regelschule. | |
Hatten Sie dort Freunde? | |
Ja, aber ich konnte immer wenig mit den anderen Kindern anfangen, weil ich | |
andere Sachen erlebt habe. Die Ängste vor dem nächsten | |
Krankenhausaufenthalt kann man einem anderen Siebenjährigen nicht erklären. | |
Wurden Sie gehänselt? | |
Gar nicht. Es ist nicht so, dass die auf dem Schulhof den Finger | |
ausstrecken und dich auslachen. Oft ist es eine subtile Diskriminierung. | |
Man wird nicht ernst genommen und immer ein bisschen bemitleidet. Die | |
Katrin kann das ja nicht. Schrei-ben zum Beispiel. | |
Warum denn das? | |
Wegen meiner Hände war es für die Lehrer klar, dass ich nie Schreiben | |
lernen würde. Meine Mutter meinte nur: „Wieso, sie kann doch malen, dann | |
kann sie doch auch schreiben.“ | |
Halten Sie eine inklusive Beschulung für richtig? | |
Ja, und zwar auch in den weiterführenden Schulen. Ein Kind mit Downsyndrom | |
kann natürlich zum Gymnasium gehen. In Spanien hast du Leute, die machen | |
Abitur und studieren. Hier sind sich alle immer sofort sicher, dass das | |
unmöglich ist. | |
Das Gegenargument ist, dass Kinder auf einer Förderschule besser betreut | |
werden können. | |
Ein Parallelsystem aufrechtzuerhalten ist gaga. Du bindest das Personal und | |
den Raum. Nur weil das praktisch ist, kann man Kinder nicht in eine | |
geschützte Einrichtung stecken. Die Frage ist doch, warum müssen behinderte | |
Menschen geschützt werden? Dann bleibt es im Café auch immer komisch, mit | |
behinderten Menschen umzugehen, weil der Kontakt fehlt. | |
Werden Menschen unsicher, wenn sie Sie treffen? | |
Ich bin eine Luxusbehinderte. Ich kann sprechen, ich kann gucken, ich kann | |
hören. Ich bin für nichtbehinderte Menschen nicht so unheimlich, dass da | |
eine große Hürde ist. Ich höre auch oft: „So behindert bist du aber gar | |
nicht.“ Der Umgang mit behinderten Menschen ist aber auch insgesamt | |
selbstverständlicher geworden. | |
Eine rote Linie gibt es in unserer Gesellschaft aber schon noch: die Liebe. | |
Das ganze Thema Frauen mit Behinderung, Sexualität, Kinder kriegen, kommt | |
überhaupt nicht in den Köpfen der Menschen vor. Dass ein Paar mit | |
Downsyndrom ein Kind groß zieht, ist selten. | |
Aber auch wenn ein gesunder Mensch auf jemanden mit Behinderung steht, muss | |
er sich einiges anhören, oder? | |
Ja, das wird nicht als gleichberechtigte Partnerschaft wahrgenommen. Da | |
wird gefragt: „Stehst du auf sowas?“ oder „Sparst du dir einen Pfleger?“ | |
Haben Sie das erlebt? | |
Gott sei Dank nicht. Ich habe einen Partner ohne Behinderung und das wurde | |
von keiner Seite infrage gestellt. | |
Wollten Sie je Kinder? | |
Nein. Mein Partner hat einen Jungen, das finde ich super. Aber ich habe mir | |
überlegt, wie es wäre, wenn ich mit dem Kind als behinderte, lange | |
arbeitslose Frau alleinerziehend geworden wäre. So mutig war ich nicht. | |
Haben Sie jemals in einer Einrichtung gelebt oder in einer Werkstatt | |
gearbeitet? | |
Nein. Aber es war knapp. Nach der Realschule wusste die Ausbildungsberatung | |
nicht, was sie mit mir machen sollte. Mir wurde eine Bildungseinrichtung in | |
Berlin vorgeschlagen, in der ich einen Ausbildung zur Bürokauffrau hätte | |
machen können. Erst dachte, ich dass das toll klingt. Dann hieß es jedoch, | |
ich bekäme 400 DM Taschengeld im Monat und ab 22 Uhr dürfte ich nicht mehr | |
rausgehen. In so einer Einrichtung wollte ich nicht versenkt werden. Ich | |
musste mir dann von einem der Mitarbeiter anhören, dass ich nie irgendwo | |
eine Stelle bekommen würde. Ich sollte noch dankbar dafür sein, dass mich | |
die nicht-behinderte Gesellschaft so toll unterstützt. | |
Haben Sie solche Erlebnisse politisiert? | |
Ja, aber ich war auch schon immer ein politischer Mensch. Ich stamme aus | |
einem sehr liberalen Elternhaus. Mein Vater hat FDP gewählt. Als ich ihm | |
gesagt habe, dass ich zu den Grünen gehen, hat er gesagt: „Ach du Scheiße.�… | |
Warum sind Sie in die Partei eingetreten? | |
Damals ist gerade Stuttgart 21 passiert, Menschen wurden durch die | |
Wasserwerfer verletzt. Es gab so eine gesellschaftliche Unruhe. Persönlich | |
war ich wegen meiner Arbeitslosigkeit sehr unzufrieden. Ich hatte viel | |
gemacht und es wird dir ja auch vermittelt, wenn du einen guten Abschluss | |
und einige Praktika hast, dann bekommst du einen Topjob. Das stimmt aber | |
nicht. Ich stehe hier für eine verarschte Generation, nicht nur in | |
Deutschland, auch in Griechenland, Spanien oder Italien. | |
Haben Sie Jobs wegen Ihrer Behinderung nicht bekommen? | |
Ja. Wenn die Chefs aufgrund deiner Qualifikation am Telefon ganz begeistert | |
sind und dann eine lange Leere kommt, wenn man sagt, dass man eine | |
Behinderung hat, weiß man, was los ist. Ich habe nur immer mal wieder Jobs | |
im Callcenter angeboten bekommen, aber das war das Schlimmste, was ich je | |
gemacht habe. | |
Warum? | |
Nach meiner Ausbildung habe ich vierzehn Tage im Callcenter gearbeitet, | |
über eine Zeitarbeitsfirma. Fünf Euro Netto die Stunde. Danach war ich vier | |
Wochen krank. Ich habe nicht mehr geschlafen und war die ganze Zeit nervös | |
am Zittern. Da werden die Leute verschlissen. | |
Was arbeiten Sie heute? | |
Ich bin Ratsfrau in Hannover und arbeite im niedersächsischen Landtag bei | |
den Grünen. | |
Warum gibt es in der Politik kaum Menschen mit Behinderung – außer | |
vielleicht Wolfgang Schäuble? | |
Das politische Geschäft ist kein Nine-to-Five-Job. Die Belastung schreckt | |
bestimmt Menschen ab. Wir sind ja keine Superhelden. Es fehlt an Vorbildern | |
und auch die Barrierefreiheit ist ein Problem. Wenn die Ortsvereinssitzung | |
bei einem Mitglied zu Hause stattfindet, ist es dort oft nicht | |
rollstuhlgerecht. | |
Warum wollen Sie für das EU-Parlament kandidieren? | |
Ich habe in Holland studiert, in Marseille als Au-pair gearbeitet und in | |
sogenannten Banlieues, den Armenvierteln, gelebt. Dort habe ich gesehen, | |
wie soziale Ungerechtigkeit und Stigmatisierung aussehen kann. Ich bin | |
Europäerin. Es besorgt mich, dass wir wieder Kräfte haben, die meiner | |
Lebensweise als behinderter Frau am liebsten den Garaus machen würden. All | |
das, was wir uns an Menschenrechten erkämpft haben, müssen wir verteidigen. | |
Auch für die Grünen sitzt niemand mit Behinderung in Brüssel. Warum hat | |
auch Ihre Partei da Defizite? | |
Man muss die Menschen mit Behinderung erst einmal erreichen. Ich suche | |
immer wieder das Gespräch mit den Leuten in den Werkstätten und es ist ein | |
Kampf, dass da nicht die Geschäftsführerin daneben sitzt. Viele Menschen | |
mit Behinderung haben nicht mal das Wahlrecht, wenn sie eine Vollbetreuung | |
haben. Ich hoffe, dass ich selbst ein Vorbild sein kann und dann jemand | |
denkt, das kann ich auch. | |
Was ist Ihr Ziel? | |
Deutschland hat sein Veto gegen die Antidiskriminierungsrichtlinie der EU | |
eingelegt. Wenn ich die Bundesregierung dazu treiben kann, dass sie die | |
Richtlinie umsetzt, wäre ein großes Ziel erreicht. Wir brauchen ein | |
soziales Europa. | |
3 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Andrea Maestro | |
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