| # taz.de -- Polens Verfassungsgericht und der EGMR: Urteil eines Nicht-Gerichts | |
| > Das polnische Verfassungsgericht ist kein „Gericht“ im Sinne der | |
| > Menschenrechtskonvention. So lautet sein Urteil im Sinne der | |
| > Regierungspartei PiS. | |
| Bild: Das polnische Verfassungsgericht in Warschau | |
| Warschau taz | „Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten | |
| (…) oder über eine gegen sie erhobene Klage vor einem unabhängigen und | |
| unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren (…) | |
| verhandelt wird“, heißt es in Artikel 6 der Europäischen | |
| Menschenrechtskonvention. Sie verpflichtet 47 Staaten des Europarates, | |
| darunter auch Polen, das die Konvention im Jahre 1993 ratifizierte. Doch | |
| Polens Generalstaatsanwalt und Justizminister Zbigniew Ziobro hat die | |
| Vereinbarkeit der Menschenrechtskonvention mit der polnischen Verfassung in | |
| Frage gestellt. Und Polens Verfassungsgericht hat ihm am Mittwoch Recht | |
| gegeben. | |
| Das von der nationalpopulistischen [1][Regierungspartei Recht und | |
| Gerechtigkeit (PiS)] kontrollierte Gericht entschied, dass es kein | |
| „Gericht“ im Sinne der Menschenrechtskonvention sei. Somit müsse Polen ein | |
| bestimmtes Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes (EGMR) mit | |
| Sitz in Straßburg nicht umsetzen. | |
| Im konkreten Fall geht es um das Xero Flor-Urteil des | |
| Menschenrechtsgerichtshofes vom 7. Mai 2021. Die Firma Xero Flor hatte | |
| beanstandet, dass ihre Klage nicht – wie in Artikel 6 der | |
| Menschenrechtskonvention gefordert – von einem „unabhängigen und | |
| unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren (…) | |
| verhandelt“ wurde. Der EGMR gab dem Kläger Recht und sprach ihm eine | |
| Entschädigung zu. | |
| Denn das polnische Verfassungsgericht hatte es nicht nur abgelehnt, sich | |
| seines Falles anzunehmen. Vielmehr war unter den Richtern, die die | |
| Ablehnung unterschrieben hatten, ein illegal von Präsident Andrzej Duda | |
| ernannter Richter, einer von insgesamt drei sogenannten Doubles. | |
| ## Souveränität Polens als Priorität | |
| Schon einen Tag nach diesem Urteil behauptete Julia Przylebska, die | |
| Vorsitzende des polnischen Verfassungsgerichts in Warschau, dass das Urteil | |
| aus Straßburg „unrechtmäßig“ sei, „keinerlei rechtliche Folgen in der | |
| polnischen Rechtsordnung“ nach sich ziehe und überhaupt „gar nicht | |
| existiert“. Polens Generalstaatsanwalt Ziobro war anderer Ansicht als | |
| Przylebska und befürchtete gar eine „normative Neuheit“, die das Urteil ins | |
| polnische Rechtssystem einführe. Das Verfassungsgericht, so Ziobro, sei | |
| nämlich gar kein Gericht im Sinne von Artikel 6 der | |
| Menschenrechtskonvention, das die Kriterien „unabhängig und unparteiisch“ | |
| erfüllen müsse. Es stehe als „trybunal“ über den normalen Gerichten. | |
| Przylebska bestätigte in ihrer Urteilsbegründung die Ansicht des | |
| Generalstaatsanwalts. Zudem habe der Menschenrechtsgerichtshof keine | |
| Kompetenz über die Wahl der Richter zu urteilen. Dies falle in die | |
| alleinige Zuständigkeit des souveränen Staates Polen. | |
| Schon vor wenigen Wochen hatte das polnische Verfassungsgericht zur vollen | |
| Zufriedenheit von PiS-Premier Mateusz Morawiecki entschieden, dass drei | |
| grundlegende Artikel der Europäischen Verträge, die der EU zugrunde liegen, | |
| verfassungswidrig seien. Polens Verfassungsgericht stellte wunschgemäß | |
| fest, dass die Regierung keine Urteile des Europäischen Gerichtshofes | |
| (EuGH) in Luxemburg umsetzen müsse, wenn dieses sich auf diese drei Artikel | |
| berufe und sie zu Ungunsten der Souveränität Polens interpretiere. Damit | |
| nämlich überschreite der EuGH seine Kompetenzen. | |
| Für den Jura-Professor Wojciech Sadurski ist die Definition des polnischen | |
| Verfassungsgerichts als Nicht-Gericht im Sinne der Europäischen | |
| Menschenrechtskonvention jedenfalls so kurios, dass er empfiehlt, sie in | |
| die Jura-Lehrbücher aufzunehmen – zum Amüsement künftiger Richter:innen. | |
| 24 Nov 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Gabriele Lesser | |
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