# taz.de -- Plädoyers im Oberlinhaus-Prozess: Am Ende eine Entschuldigung | |
> Die Staatsanwaltschaft plädiert auf 15 Jahre Haft für die Pflegerin, die | |
> vier Menschen getötet hat. Die Angeklagte bittet um Verzeihung. | |
Bild: „Es tut mir ganz doll leid“: Die Angeklagten rechts hinter Glas im Ge… | |
POTSDAM taz | Eine Antwort, warum ihr Sohn ihnen genommen wurde, erwarten | |
die Eltern nicht, sagt Beatrice Vossberg, die Anwältin der | |
Nebenkläger*innen. Wie [1][an jedem Prozesstag] sitzen die Eltern des | |
getöteten Christian S. auch am Freitag wieder der mutmaßlichen Mörderin | |
ihres Sohnes im Landgericht in Potsdam gegenüber. Sie kannten die Pflegerin | |
Ines R. als eine „fürsorgliche und mütterliche“ Person, vor Gericht sagte | |
die Mutter aus, dass sie immer froh war, wenn Ines R. ihren Sohn pflegte. | |
Der 1985 geborene Christian S. kam als Frühgeburt zur Welt und erlitt als | |
Folge einen Hirnschaden. Seine Eltern pflegten ihn 17 Jahre lang zuhause, | |
dann zog er ins Oberlinhaus. | |
Der Prozess am Landgericht Potsdam kann keine Antwort auf eine | |
unerklärliche, schreckliche Tat geben, aber unter dem Vorsitz von Richter | |
Theodor Horstkötter beschäftigt sich das Gericht seit Ende Oktober | |
ausführlich mit der Situation im Thusnelda-von-Saldern-Haus, mit Problemen | |
in der Pflege und mit der [2][psychischen Situation der Angeklagten Ines | |
R..] | |
Sie soll am 28. April 2021 vier Menschen mit Behinderung in der | |
Wohneinrichtung getötet haben, eine Frau überlebte schwer verletzt. In den | |
Tagen nach der Tat gab es zahlreiche erschütterte Reaktionen, viele Medien | |
berichteten. Knapp acht Monate nach der Tat ist die öffentliche | |
Aufmerksamkeit auf die Gewalttat in Potsdam abgeebbt, die Pressestelle des | |
Oberlinhaus gibt an, ihre Bewohner*innen schützen und daher zunächst | |
keinen Pressetermin machen zu wollen. | |
## Erinnerung an die Opfer | |
Am Freitag ist der Andrang im Gerichtssaal Acht des Landgerichts in Potsdam | |
wieder größer als zuletzt. Auch ehemalige Schulkameradinnen von Ines R. | |
sind gekommen. Sie haben von der Tat in der Zeitung gelesen und wollen sich | |
vor Ort einen eigenen Eindruck von dem Prozess gegen die Person machen, die | |
sie aus ihrer Kindheit und Jugend kannten. | |
Die Staatsanwältin Maria Stiller und der Verteidiger der Angeklagten Henry | |
Timm halten an diesem zehnten Verhandlungstag ihre Plädoyers. Zu | |
Prozessbeginn hatte Stiller der Angeklagten vorgeworfen „planvoll und | |
heimtückisch“ vorgegangen zu sein und die Wehrlosigkeit der Menschen, die | |
alle einen Pflegegrad 5 hatten und halbseitig oder vollständig gelähmt | |
waren, ausgenutzt zu haben. | |
Dass die Taten der Angeklagten heimtückisch waren, wiederholt die | |
Staatsanwältin in ihrem Plädoyer. Sie geht zunächst bewegend auf die | |
getöteten Menschen ein: Lucille H. wurde im Alter von 43 Jahren getötet, | |
sie lebte nach einem schweren Autounfall im Oberlinhaus und hinterlässt | |
zwei Kinder. Martina W. wurde nur 31 Jahre alt, sie hatte eine | |
frühkindliche Hirnschädigung, wuchs bei ihrer Großmutter auf und lebte dann | |
seit ihre Jugend im Oberlinhaus. Andreas K. wurde 1964 geboren und war nach | |
einem Hirninfarkt 2016 stark körperlich eingeschränkt. Er kommunizierte mit | |
Daumen hoch und Daumen runter. Und Christian S., der Sohn der | |
Nebenkläger*innen, der 38 Jahre alt wurde und der „Sonnenschein der Familie | |
war“, wie es seine Mutter Karin S. formulierte. | |
Die Staatsanwältin referiert auch noch einmal den Tatablauf, verweist auf | |
die schrecklichen Bilder, die Pfleger*innen, Ersthelfer*innen und | |
Polizist*innen am 28. April sehen mussten. Sie erzählt von der Qual, | |
die die Geschädigte Elke T. durchlitt, die den Angriff durch eine | |
Notfall-Operation überlebte. „Die Täterschaft der Angeklagten steht außer | |
Zweifel“, sagt Stiller. Die Schwere der Schuld aber sei fraglich. Sie hält | |
eine Gesamtstrafe von 15 Jahren Haft für angemessen. Diese müsse in einer | |
angemessenen klinischen Unterbringung vollzogen werden, denn die Angeklagte | |
stelle weiterhin eine Gefahr für sich und andere dar. Außerdem plädiert sie | |
auf ein lebenslanges Berufsverbot für die Angeklagte. | |
## Entschuldigung der Angeklagten | |
Die Verteidigung hält die Angeklagte hingegen für Schuldunfähig. Der Anwalt | |
Henry Timm geht in einer saloppen Rede auf die schweren psychischen | |
Störungen von Ines R. ein. „Meine Mandantin war mit Sicherheit das kleinste | |
Licht im Räderwerk des Thusnelda-von-Saldern-Hauses“, sagt Timm im Gericht. | |
Wie schlimm die Situation war spiegele sich auch in der hohen Fluktuation | |
des Personals wieder. Dass die Angeklagte in einer Klinik untergebracht | |
werden soll, darin sind sich alle Parteien einig: „Dieses Monster, dieser | |
Dämon“, müsse aus der Angeklagten herausgeholt werden, so Timm. | |
Am Ende des Verhandlungstags hat die Angeklagte das Wort: „Ich möchte mich | |
bei den Angehörigen der Opfer für das Leid entschuldigen, dass ich | |
verursacht habe“, sagt Ines R. mit fester Stimme. Sie könne sich nicht | |
erklären, was zu dem Kontrollverlust geführt habe: „Innerlich kann ich es | |
überhaupt nicht glauben, dass ich sowas gemacht habe.“ Ihr ganzes Leben, | |
dass sie sich aufgebaut habe, sei nun weg. „Es tut mir ganz doll leid“, | |
schließt sie. Es ist zugleich das erste öffentliche Schuldeingeständnis der | |
Angeklagten. Dass sich seine Mandantin spontan äußerte habe ihn überrascht, | |
sagte Henry Timm gegenüber der taz. Dazu sei sie in der Vergangenheit nicht | |
in der Lage gewesen. | |
## Prozess wirft Schlaglicht auf Pflegesituation | |
Im Laufe des Prozesses hatten die Angeklagte und mehrere | |
Mitarbeiter*innen [3][die Arbeitsbedingungen] und auch die | |
erschreckenden Lebensbedingungen für die Menschen vor Ort geschildert. | |
Viele Fachkräfte berichteten, dass sie kaum noch zu der Förderung der | |
Menschen mit Behinderung kamen, die in dem Haus des kirchlichen Trägers | |
Oberlin wohnten. Ihre Tätigkeiten hätten sie aufgrund von Personalmangel | |
teilweise [4][auf die Grundhygiene beschränken müssen], so eine Pflegerin, | |
die inzwischen gekündigt hat. Das Verfahren werfe ein Schlaglicht auf die | |
dramatische Situation in der Pflege, sagt auch Staatsanwältin Stiller in | |
ihrem Plädoyer. | |
Die Angeklagte Ines R. hatte in der ersten Sitzung von einer traumatischen | |
Kindheit berichtet und von ihren Söhnen, von denen einer eine Behinderung | |
hat, der andere erkrankte zwischenzeitlich schwer an einem Hirntumor. Ihr | |
[5][Ehemann sprach vor Gericht] von einer akuten Belastungssituation seiner | |
Frau kurz vor der Tat. | |
Die 52-Jährige hat schon mehrere Suizidversuche unternommen und gilt nach | |
Einschätzung von Ärzt*innen aktuell als suizidal. Eine | |
Gerichtspsychiaterin schätzte die Angeklagte als schwer vermindert | |
schuldfähig ein und empfahl eine Unterbringung im Maßregelvollzug. | |
Am 22. Dezember soll der Vorsitzende Richter nach aktueller Planung ein | |
Urteil verkünden. | |
17 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Linda Gerner | |
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