# taz.de -- Parlamentswahlen in der Türkei: Echte Herausforderung für Erdogan | |
> Die prokurdisch-linke HDP von Selahattin Demirtas hat gute Chancen, ins | |
> Parlament zu kommen. Das löst bei der regierenden AKP Panik aus. | |
Bild: Schwelgt in Allmachtsfantasien: der türkische Präsident Tayyip Erdogan. | |
ISTANBUL taz | Vor wenigen Tagen lud der Spitzenkandidat der | |
prokurdischen-linken HDP, Selahattin Demirtas, in Istanbul zu einem | |
ungewöhnlichen Wahlkampfevent. Gemeinsam mit bekannten und von der | |
Regierung bedrohten Karikaturisten zelebrierte Demirtas das Öffnen von | |
Sodaflaschen. Dabei hielt er eine Rede, in der der Name der HDP nicht | |
erwähnt wurde, trotzdem aber eindeutig zur Wahl der Partei aufgerufen | |
wurde. | |
Das Ganze war eine gekonnte Persiflage auf Staatspräsident Tayyip Erdogan, | |
der jeden Tag irgendeine Eröffnung einer neuen Straße, einer Moschee oder | |
eines Toilettenanbaus an einer Schule zum Anlass nimmt entgegen des | |
eindeutigen Neutralitätsgebotes in der Verfassung Wahlkampf für seine AKP | |
zu machen. Da die staatliche Wahlkampfkommission sich weigert, Beschwerden | |
der Opposition wegen Erdogan anzunehmen, geht Demirtas gegen das Verhalten | |
des Präsidenten jetzt satirisch vor und hat die Lacher auf seiner Seite. | |
Für die türkischen Parlamentswahlen am kommenden Sonntag ist der Mann | |
deshalb zu einer Schlüsselfigur geworden. | |
Die Aktion des öffentlichen Flaschenöffnens ist ein gutes Beispiel, um | |
Demirtas und seinen Wahlkampf zu charakterisieren: der Mann ist witzig und | |
schlagfertig, er kontert die Angriffe von Erdogan souverän und er ist ein | |
begnadeter Redner. Kurzum, mit dem 42 jährigen smarten Selahattin Demirtas, | |
ist in der Türkei das erste Mal seit 20 Jahren ein politisches Talent | |
nachgewachsen, das in der Lage ist, Tayyip Erdogan ernsthaft | |
herauszufordern. | |
Obwohl Demirtas Vorsitzender der pro-kurdischen demokratischen Volkspartei | |
HDP ist, einer Partei also, die von der Mehrheit der Türken immer noch als | |
Unterorganisation der „Terrorbande“ PKK angesehen wird, gelang ihm bereits | |
bei den Präsidentschaftswahlen im August 2014 als einem von zwei | |
Gegenkandidaten Erdogans ein Achtungserfolg von 9,8 Prozent. Weit mehr, als | |
je eine kurdische Partei bis dahin bei nationalen, landesweiten Wahlen | |
gewinnen konnte. | |
## 10 bis 12 Prozent für die HDP | |
Mit dem Erfolg der Präsidentschaftswahlen im Rücken, schickt Demirtas sich | |
jetzt am 7. Juni an, eine Partei, die sich zwar mit verschiedenen kleinen | |
linken türkischen Gruppierungen verbündet hat, aber dennoch immer noch | |
überwiegend eine kurdische Partei ist, die 10-Prozent-Hürde, die in der | |
Türkei vor dem Einzug ins Parlament steht, zu überwinden. | |
Jüngste Umfragen sehen die HDP bei 10-12 Prozent. Wenn nicht betrogen wird, | |
sagt der Chef von Konda, Bekir Agirdir, einem der anerkanntesten | |
Umfrageinstitute der Türkei, ist die HDP sicher drin. Das wiederum würde | |
die gesamte Tektonik der türkischen Politik verändern und hätte vor allem | |
für Präsident Erdogan und seine AKP sehr weitreichende unangenehme Folgen. | |
Die AKP würde wahrscheinlich ihre absolute Mehrheit verlieren, in jedem | |
Fall aber keine verfassungsändernde Mehrheit bekommen. | |
Genau darum aber geht es Erdogan. Er will erreichen, dass seine AKP mit | |
Ministerpräsident Ahmet Davutoglu an der Spitze am Sonntag eine | |
verfassungsändernde Mehrheit bekommt. Dann würde Erdogan eine bereits | |
vorbereitete neue Verfassung aus der Schublade holen, mit der das | |
parlamentarische System abgeschafft und ein Präsidialsystem eingeführt | |
würde, dass ihm als Präsidenten neue, weitgehende Machtbefugnisse einräumen | |
würde. „Eine Art konstitutionelle Diktatur“, wie nicht nur Demirtas sondern | |
auch die beiden anderen Parteiführer in der Opposition, Kemal Kilicdaroglu | |
von der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP und Devlet Bahceli von den | |
Ultranationalisten der MHP sagen. | |
Zum maßlosen Ärger von Erdogan schwächelt ausgerechnet jetzt, so kurz vor | |
seinem ultimativen Ziel der Alleinherrschaft, die Partei, die die dafür | |
notwendigen Stimmen zusammen bekommen soll. Erstmals seit dem Machtantritt | |
2002 werden der AKP erhebliche Stimmenverluste vorhergesagt. Konnte Erdogan | |
als Ministerpräsident bei den Wahlen 2011 noch 49,8 Prozent für die AKP | |
holen, sehen die Meinungsforscher die Partei heute zwischen 39 und 42 | |
Prozent. | |
## Höhere Arbeitslosigkeit und Verschuldung | |
Erdogans Wechsel vom Amt des Ministerpräsidenten auf den Posten des | |
Präsidenten, der nach der geltenden Verfassung eher repräsentative Aufgaben | |
hat, hat der AKP nicht gut getan. Dazu kommt: nach einem langjährigen | |
Wirtschaftsaufschwung der wesentlich für die hohen Zustimmungsraten | |
Erdogans gesorgt hatte, geht es jetzt deutlich nach unten. Arbeitslosigkeit | |
und Verschuldung nehmen zu, und während die Opposition konkrete Vorschläge | |
zur Verbesserung der Lebensbedingungen macht, kämpft Erdogan allein für | |
sein Alleinherrschaftsprojekt, das als die Rückkehr zu alter osmanischer | |
Herrlichkeit verbrämt wird. „Die neue Türkei“, nennt Erdogan das, obwohl … | |
nichts anderes als osmanisch-muslimischer Retrokitsch ist. | |
Doch trotz Erdogans illegalem Wahlkampf bleiben die Zahlen für die AKP | |
schlecht und die Partei bekommt Panik. Entsprechend steigt die Spannung. | |
Immer häufiger werden Wahlkampfveranstaltungen oder Wahlbüros der HDP | |
angegriffen. Insgesamt 167 Angriffe auf die HDP hat der | |
Menschenrechtsverein IHD bis jetzt gezählt. Am Mittwochabend wurde ein | |
Wahlhelfer der HDP in seinem Auto erschossen. Im erzkonservativem Erzerum, | |
einer AKP-Hochburg, griff eine organisierte Menge von über 1000 Leuten eine | |
Wahlkampfveranstaltung der HDP an. Ohne das Einschreiten der Polizei hätte | |
es wahrscheinlich Tote gegeben. | |
Viele Wähler stößt dies ab, was erst recht dazu führt, dass sie ihre | |
Stimmen dazu nutzen werden, um der HDP über die 10-Prozent-Hürde zu helfen. | |
Die Frage ist dann, ob der bislang siegesgewohnte Erdogan eine | |
demokratische Niederlage hinnehmen wird. Murat Yetkin, einer der | |
bekanntesten Kolumnisten des Landes, sieht für diesen Fall schwere Zeiten | |
auf die Türkei zukommen: „Erdogan“, vermutet er, „wird dann dafür sorge… | |
dass neu gewählt wird. Solange bis das Ergebnis stimmt.“ | |
5 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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