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# taz.de -- Debatte Wahl in der Türkei: „Wir sind Fake-Nordkorea“
> Kurz vor der Wahl herrscht Aufbruchstimmung. Das System Erdogan könnte
> scheitern. Ein Plädoyer für die alternative Partei HDP.
Bild: Eine Unterstützerin von Selahattin Demirtas jubelt bei einer HDP-Veranst…
Kontinuität oder Bruch – darüber entscheiden die Wähler bei den
Parlamentswahlen an diesem Sonntag. Kontinuität bedeutet die Fortschreibung
des Systems von Tayyip Erdogan, der in der Türkei seit über ein Jahrzehnt
regiert. Laut Verfassung nimmt der Staatspräsident repräsentative Aufgaben
wahr und ist überparteilich. Doch Erdogan macht täglich Wahlkampf und
entwirft mit dem Koran wedelnd apokalyptische Horrorszenarien für den Fall
seiner Niederlage.
Erdogan hat bereits das parlamentarische System ausgehöhlt – das Parlament,
der Ministerpräsident, das Kabinett sind willige Befehlsempfänger des
Autokraten. Die Gewaltenteilung ist de facto abgeschafft. Justiz und
Polizei erhalten unmittelbar vom Präsidentenpalais Anweisungen.
Ein Beispiel: Ein missliebiger Journalist wird zuerst von Erdogan in
öffentlicher Rede denunziert. Flugs darauf eröffnet die Staatsanwaltschaft
Anklage wegen Vaterlandsverrat. Ein renitenter Medienunternehmer bekommt es
mit der Steuerfahndung zu tun. Verbreitet sich Protest über soziale
Netzwerke wie Twitter oder Facebook, wird der Internetzugang gesperrt. Der
7. Juni ist weniger eine Wahl über die zukünftige Komposition des
Parlaments denn ein Plebiszit für oder gegen eine Präsidialdiktatur. Eine
verfassungsändernde Mehrheit für die AKP wäre der Todesstoß für die
demokratischen Reste in der Türkei.
Doch es herrscht Aufbruchstimmung. Der populärste Slogan in diesen
Wahlkampf lautet: „Wir werden dich nicht zum Präsidenten machen.“ Er stammt
von Selahattin Demirtas, dem Vorsitzenden der HDP (Demokratische Partei der
Völker). Schafft es die Partei, der die Kurden mehrheitlich ihre Stimme
geben, über die 10-Prozent-Hürde zu kommen, platzen die Träume von Erdogan.
## Vermaledeite 10-Prozent-Hürde
Zählt man die Stimmen der sozialdemokratischen und nationalistischen
Oppositionsparteien hinzu, müsste die AKP um die absolute Mehrheit im
Parlament fürchten, womit eine verfassungsändernde Mehrheit ausgeschlossen
wäre. Schafft die HDP die 10 Prozent aber nicht, verliert sie alle ihre
Sitze an die AKP. Diese Klausel ist ein Erbe des Militärputsches 1980. So
sollten Islamisten und Kurden vom Parlament ferngehalten werden. Heute ist
sie der Rettungsanker der Islamisten.
Jahrzehnte bewaffneter Kampf des türkischen Staates gegen die Guerilleros
der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) konnten der politischen Bewegung der
Kurden nicht den Garaus machen. Repression, Verfolgung, politische Morde
konnten nicht verhindern, dass die Kurden die legalen Möglichkeiten
ausschöpften und unabhängige Kandidaten ins Parlament schickten. Die
Friedensverhandlungen mit dem türkischen Staat, die der PKK-Führer Abdullah
Öcalan von seiner Gefängniszelle betreibt, und insbesondere der
Waffenstillstand, den die PKK seit Jahren aufrechterhält, führten zum
Erstarken der legalen Repräsentanz.
Die Selbstauflösung einer rein auf politische Forderungen der Kurden
ausgerichteten Partei und die Gründung der HDP, die sich ausdrücklich als
Partei begreift, die politische Lösungsvorschläge für die gesamte Türkei
bereithält, entwickelten eine eigenständige Dynamik. Mit einer
radikaldemokratischen Programmatik konnte sich die HDP zu einem
oppositionellen Sammelbecken entwickeln, in der türkische Linke,
ausgegrenzte religiöse und ethnische Minderheiten und selbst konservative
Kurden, die der PKK fernstehen, eine Heimat finden. Der 41-jährige
Selahattin Demirtas, ein begnadeter Redner, führt mit der 44-jährigen Figen
Yüksekdag die Partei an.
Die HDP ist der Gegenpol zu Tayyip Erdogan und seinem autokratischen
System, das ideologisch mit chauvinistischen, nationalistischen,
faschistoiden und islamistischen Versatzstücken legimitiert wird. Dort
Männerdominanz, Frauen- und Schwulenfeindlichkeit und obrigkeitsstaatliche
Unterwerfung, hier Frauenquote von 50 Prozent in allen Führungsgremien,
schwule und feministische Kandidaten und Partizipation.
## Hohn versus Arbeitsschutz
Dort Tayyip Erdogan, der die Opfer des armenischen Völkermordes verhöhnt,
hier Demirtas, der von historischer Schuld und Vergebung redet. Dort
Erdogan, der in klammheimlichen Deals Russen Atomkraftwerke bauen lässt,
hier Demirtas, der für Ökologie und erneuerbare Energien plädiert. Dort
Erdogan, der vor einem Jahr nach dem Tod von 301 Minenarbeitern in Soma von
„göttlicher Fügung“ spricht und einen verzweifelt protestierenden
Minenarbeiter ohrfeigt, hier Demirtas, der mit Gewerkschaftlern um
Arbeitsschutz streitet.
Als Tayyip Erdogan vor über einem Jahrzehnt die Wahlen gewann, verkörperte
er die Hoffnung auf demokratische Reformen und auf Aussöhnung mit den
Kurden. „Gegen Korruption, Armut, Verbote“ war damals der Slogan der
Partei. Die AKP wurde als Hoffnungsträger demokratischer Transformation
gefeiert. Erdogan galt als Reformer, welcher der Türkei den Weg in die EU
ebnen würde.
Heute ist die Türkei in Sachen Demokratie eine Trümmerlandschaft. „Wir
dachten, wir kommen in die EU. Dabei sind wir ein Fake-Nordkorea geworden
sind.“ So pointiert es der türkische Schriftsteller Murat Uyurkulak
selbstironisch. Eine korrupte politische Elite, die sich um Erdogan schart,
bereichert sich maßlos. Der Wildwest-Kapitalismus treibt staatlich
finanzierte gigantische Bauprojekte voran, die befreundeten Bauunternehmern
Millionen zuschachern, damit sie als Gegenleistung Medienimperien aufbauen.
Egal ob Erdogan sich freudig die Hände reibt, dass alsbald die
syrisch-kurdische Stadt Kobani in die Hände des „Islamischen Staates“
fallen wird oder ob er während der Gezi-Proteste die Mutter eines von der
Polizei getöteten Fünfzehnjährigen von der Menge ausbuhen lässt – ein Heer
von Tausenden von Schreiberlingen wird ihn in den gleichgeschalteten Medien
bejubeln.
Das System Erdogan ist Gift für die türkische Gesellschaft. Eine Stimme für
die HDP ist das Gegengift. Die HDP im Parlament ist noch keine Lösung der
Probleme. Doch sie ist Voraussetzung dafür, dass die Gesellschaft wieder
atmen kann und sich regeneriert.
6 Jun 2015
## AUTOREN
Ömer Erzeren
## TAGS
Schwerpunkt Türkei
Recep Tayyip Erdoğan
Parlamentswahl Türkei 2015
Selahattin Demirtas
Abdullah Öcalan
HDP
Parlamentswahl Türkei 2015
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Recep Tayyip Erdoğan
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