# taz.de -- Parlamentswahlen in Frankreich: Die Neue im Quartier | |
> Die Grüne Sandrine Rousseau vertritt eine ökofeministische Strategie. Für | |
> Präsident Macron kann es bei der Wahl zur Nationalversammlung knapp | |
> werden. | |
Bild: Auf dem Markt in Paris ist sie zur Zeit zu sehen: Die Grünen-Kandidatin … | |
PARIS taz | Die kleine Frau mit dem grauen Kurzhaarschnitt kommt den | |
Menschen bekannt vor. „Ich habe Sie im Fernsehen gesehen“, sagt eine ältere | |
Frau und freut sich. Sie gratuliert Sandrine Rousseau für ihren Vorschlag, | |
mit dem sie in den Medien kürzlich für Aufsehen gesorgt und sogar eine | |
landesweite Polemik ausgelöst hat. Die Kandidatin der Grünen möchte per | |
Gesetz die Haushaltsarbeit ausgewogen zwischen Lebenspartner*innen | |
aufteilen: Die Missachtung dieser Geschlechtergleichheit beim Waschen, | |
Putzen und Kochen soll ein strafbares Delikt werden. „Das hat mir vor allem | |
auf Twitter neben Lob auch eine Welle von gehässigen Beschimpfungen | |
eingebracht“, sagt Sandrine Rousseau. | |
An diesem und am kommenden Sonntag wählt Frankreich in zwei Urnengängen | |
eine neue Nationalversammlung. Rousseau ist deshalb fast jeden Tag in ihrem | |
Wahlkreis, dem 13. Stadtbezirk von Paris, auf dem Straßenmarkt anzutreffen: | |
Hier versucht sie mit Flugblättern in der Hand mit ihren potenziellen | |
Wähler*innen ins Gespräch zu kommen. Die Politikerin hat als Vertreterin | |
des neuen Links-Bündnisses Nupes (Nouvelle Union Populaire Écologique et | |
Sociale, Neue Ökologische und Soziale Volksunion) gute Aussichten, den Sitz | |
des bisherigen Abgeordneten der Regierungspartei LREM (La République en | |
marche), Buon Tan, zu erobern. | |
Auch der verteilt seine Handzettel zwischen den Marktständen mit Obst und | |
Gemüse, die dort auf dem Boulevard Vincent Auriol unter der Überführung der | |
Pariser Metro auf Kundschaft warten. Tan sagt, er habe einen klaren | |
Heimvorteil. Damit spielt er auf seine Herkunft an. Denn der südliche Teil | |
dieses Quartiers gehört zum historischen „Chinatown“ der französischen | |
Hauptstadt, wo auch heute noch vorwiegend eingewanderte Familien aus China, | |
Vietnam und Kambodscha leben, auf deren Stimmen Tan hofft. Seine | |
Beziehungen zur Volksrepublik China sind dem früheren Teehändler auch eine | |
ideologische Verrenkung wert. [1][Als einziger Abgeordneter hat er am 20. | |
Januar in der Nationalversammlung gegen einen Antrag gestimmt, mit der die | |
Verfolgung der Uiguren als Genozid verurteilt wurde.] Seinen | |
Gegner*innen reicht dies, um ihn einer expliziten Billigung dieser | |
Unterdrückung zu verdächtigen. | |
Die 50-jährige Rousseau ist neu in diesem Quartier von Paris, sie wohnt | |
erst seit ein paar Monaten hier, sie spielt die Karte eines politischen | |
Wechsels und der Einheit der Linken aus. Sie setzt auf ihre berufliche | |
Kompetenz als Wirtschaftsdozentin für Umweltfragen an der Universität Lille | |
und ihre nationale politische Bekanntheit als Ex-Sprecherin der | |
französischen Grünen. Sie gilt als neue Führungsfigur der Umweltpartei, | |
weil sie bei den parteiinternen Vorwahlen nur knapp gegen | |
Präsidentschaftskandidat Yannick Jadot verloren hatte – Jadot hatte mit nur | |
4,6 Prozent ein enttäuschendes Resultat bei den Präsidentschaftswahlen im | |
April erzielt. | |
## Der Wahlkampf wird aufgewertet | |
Rousseau hingegen muss erst in das Parlament gewählt werden. An ihrem | |
Vorschlag zur Geschlechtergleichheit in der Hausarbeit hält sie fest: „Seit | |
Jahrzehnten geht in diesem Bereich so gut wie gar nichts. Die Idee löst | |
jetzt bereits Diskussionen aus. Der Schutz des Klimas wird zudem im | |
privaten Haushalt etwas Mehrarbeit mit sich bringen, wenn beispielsweise | |
die Rüben und Kartoffeln von Hand gepellt werden müssen, statt die in | |
Plastik verpackten Fertiggerichte in die Mikrowelle zu stellen.“ Lässt sich | |
damit eine Wahl gewinnen? Eine Umfrage der Zeitung Le Parisien ergab, dass | |
50 Prozent der Frauen und 44 Prozent der Männer die Idee gut finden oder | |
zumindest grundsätzlich nicht dagegen wären. | |
Rousseau vertritt eine ökofeministische Strategie, wie sie sagt. „Zwischen | |
dem 17. und dem 19. Jahrhundert, über Sklaverei, Kolonialismus und | |
Industriegesellschaft hat man diese Gesellschaft des Wachstums entwickelt. | |
Dazu gehörte auch die Unterordnung der Frau, die auf eine Rolle der | |
Reproduktion reduziert wurde. Zudem wurde die Natur nicht als etwas | |
Lebendes, sondern nur als anzueignendes oder verbrauchbares Objekt | |
verstanden. Heute stehen wir vor dem Ende einer Epoche, von der wir alle | |
hier mehr oder weniger profitiert haben. An uns ist es nun, ein | |
alternatives Konzept der Gleichheit und der Harmonie mit der Natur zu | |
erfinden.“ | |
Kandidaturen wie von Rousseau werten auch den französischen | |
Parlamentswahlkampf auf, bei dem traditionell weniger Menschen an die Urnen | |
gehen, als bei den Präsidentschaftswahlen. Doch in diesem Jahr ist noch | |
etwas anders: Die wichtigsten Linksparteien – namentlich die Sozialisten | |
und Kommunisten – machen mit den Grünen und der Partei La France Insoumise | |
des linkspopulistischen Kandidaten Jean-Luc Mélenchon gemeinsame Sache | |
und haben sich zur Nupes zusammengeschlossen und auf ein gemeinsames | |
Programm geeinigt. | |
Da diese Einheit einem langen Wunsch einer linken Wählerschaft entspricht, | |
hat diese Allianz Hoffnungen in diesem bei den Präsidentschaftswahlen | |
frustrierten Lager geweckt. Zu ihrem Schrecken konstatiert nun die | |
Koalition der Regierungsparteien, deren Kandidat*innen mit dem Logo | |
„Ensemble!“ antreten, wie die bislang zerstrittene Linke eine gemeinsame | |
Kampagne entwickelt und in den Medien dominiert. Musste Macron bei den | |
Präsidentschaftswahlen eine Offensive der extremen Rechten abwehren, ist er | |
heute mit einem Angriff auf die Regierungsmehrheit von links konfrontiert. | |
Mélenchon könnte aber doch zu hoch pokern: Sein erklärtes Ziel ist, eine | |
linke Mehrheit in der Nationalversammlung zu erringen. Dies würde den | |
Präsidenten dazu zwingen, den Linkspopulisten mit der Regierungsbildung zu | |
beauftragen. Doch viele Menschen in Frankreich halten das für | |
größenwahnsinnig. Umfragen sehen Mélenchon aber mindestens als | |
Oppositionsführer in der Nationalversammlung. | |
Im Straßenwahlkampf auf dem Markt verteilen auch Wahlhelfer*innen | |
anderer Kandidat*innen ihre Drucksachen an die Einkaufenden. Die Leute | |
haben damit neben Früchten, Fisch und Fleisch auch ein breites politisches | |
Angebot, das von der extremen Rechten über die Tierschutzliste bis zur | |
linken Nupes reicht, in ihren Tragetaschen. Die Linken treten auf dem Markt | |
besonders selbstbewusst auf. Die Anhänger*innen von Rousseau sind | |
optimistisch, denn die Prognosen sagen ihr mehr als 40 Prozent der Stimmen | |
im ersten Wahlgang und einen Triumph im zweiten voraus. | |
## „Jägerpartei“ mit Namensvetterin | |
Nicht anzutreffen ist an diesem Tag auf dem Markt noch sonst je und | |
irgendwo im Wahlkreis Sandrine Rousseaus Namensvetterin, die als | |
Gegenkandidatin von der ehemaligen französischen Jägerpartei „Chasse, | |
Pêche, Nature et Traditions“, die jetzt „Mouvement de la Ruralité“ hei�… | |
aufgestellt wurde. Wie der Parteiname verheißt, soll sie also bei dieser | |
Wahl die Interessen und Traditionen der „ländlichen“ Bevölkerung vertrete… | |
Das tönt im exklusiv städtischen Kontext recht absurd. Die Kandidatur der | |
in Paris vollkommen unbekannten und in der Normandie wohnhaften | |
LMR-Kandidatin, die wirklich denselben Vor- und Familiennamen trägt wie die | |
bekannte Grüne, ist ein politischer Jux. Die Ökofeministin ist jedenfalls | |
wütend über diese „der Demokratie unwürdige Farce einer Kandidatur“. | |
Dagegen ist die erklärte gemeinsame Priorität für alle Parteien, den | |
Wahlberechtigten in Erinnerung zu rufen, dass sie am Sonntag an der Urne | |
ihre Bürgerpflicht erfüllen müssen. Das Interesse an der Wahl der | |
Abgeordneten hält sich auch im 13. „Arrondissement“ von Paris wie | |
anscheinend in ganz Frankreich ziemlich in Grenzen. Immer wieder rufen die | |
Flugblattverteiler den Vorübereilenden den Termin in Erinnerung: „Am 12. | |
und 19. Juni wird gewählt! Wissen Sie das?“ Und zweckoptimistisch fügen sie | |
dann manchmal an: „Wir zählen auf Sie und Ihre Stimme.“ Sandrine Rousseau | |
ist unermüdlich, sie will bis zum Schluss jede Stimme holen. Von zwei | |
Helfern begleitet beginnt sie nach dem Markt eine Tür-zu-Tür-Tour im 13. | |
Stockwerk des nächstgelegenen Sozialwohnungsblocks an der Rue Jeanne d’Arc. | |
Dort wird derzeit renoviert, es riecht nach frischer Farbe, es gibt keine | |
Namensschilder bei den Klingelknöpfen. Oft macht niemand auf, obschon man | |
aus der Wohnung Musik hört. In der Mehrheit sind es Kinder oder deren | |
Mütter mit afrikanischer Einwanderungsgeschichte, die vorsichtig durch eine | |
halb geöffnete Türe schauen. Rousseau fragt nicht, ob sie die französische | |
Staatsangehörigkeit und damit das Stimmrecht haben, um sie über die | |
bevorstehenden Wahlen und ihre Kandidatur zu informieren. Sie erwähnt vor | |
allem die sozialpolitischen Vorschläge im Programm der Nupes wie die | |
Erhöhung des gesetzlichen Minimallohns auf 1.500 Euro. | |
Auch eine betagte Frau öffnet anfänglich nur zögernd, dann aber freut sie | |
sich offensichtlich, dass jemand sie besucht. Schnell wird deutlich, dass | |
sie sehr isoliert und auch verbittert sie ist. Sie schimpft gleichermaßen | |
über die „Politik“, über die Sozialdienste und ihren Sohn, die sie allesa… | |
im Stich lassen. „Die andern da“, meint sie mit einem feindseligen Blick zu | |
den Wohnungen ihrer Schwarzen Stockwerknachbar*innen, „die bekommen jede | |
Subvention und Begünstigung.“ Sie bleibt skeptisch, als Rousseau ihr | |
erklärt, dass auch sie Anrecht auf diverse Zulagen und kommunale | |
Unterstützung durch eine Haushaltshilfe hätte. „Ich habe 1.150 Euro zur | |
Verfügung, damit bezahle ich 700 Euro für die Miete. Aber ich habe keine | |
Schulden. Lieber noch esse ich nicht“, sagt sie abschließend. Wählen gehe | |
sie sicher nicht. | |
## Für Rechte ist Rousseau eine Extremistin | |
Ein Stockwerk tiefer meint dagegen eine Frau aus dem Maghreb, die das Foto | |
von Mélenchon auf dem Flugblatt sieht: „Was Mélenchon sagt, ist richtig und | |
gerecht.“ Rousseau freut sich über die zugesagte Stimme und mahnt die | |
Sympathisantin, auch die restlichen Familienmitglieder zum Wählen | |
mitzunehmen. | |
Rousseau vertritt den linken Flügel bei den französischen Grünen und eine | |
Linie, die „radikal, sozial und feministisch“ sein müsse. Auf die Frage, ob | |
sie sich in Frankreich statt der rot-grünen Allianz auch eine | |
„schwarz-grüne“ Zusammenarbeit mit umweltfreundlich gestimmten bürgerlich… | |
Kräften vorstellen könne, antwortet sie kategorisch: „Bestimmt nicht. Das | |
wäre so ziemlich das Gegenteil dessen, was ich will. Kampf für die Umwelt | |
und das Klima, Energiewende, Feminismus und LGBT+-Rechte sind | |
antikapitalistisch. Das ist nicht bloß eine Konvergenz von Bewegungen, das | |
ist derselbe Kampf.“ | |
Für Leute, die sich zur bürgerlichen Mitte oder zur Rechten zählen, ist | |
Rousseau einen „Extremistin“. Auf die Frage, wozu sie denn überhaupt einen | |
Abgeordnetensitz brauche, verweist sie auf ihre politische Erfahrung: „Ich | |
war eine Zeitlang Vizepräsidentin der Region Nordfrankreich, bin dann aber | |
aus dieser institutionellen Politik ausgestiegen, um nur noch in NGO aktiv | |
zu sein. Wenn ich jetzt in die Wahlpolitik zurückkomme, dann deshalb, weil | |
ich glaube, dass wir an der Spitze der Macht ansetzen müssen, wenn wir | |
etwas ändern wollen. | |
Wenn wir nicht die Macht erobern, bleiben wir Dominierte. Zu dieser | |
Machtstruktur gehört auch das Patriarchat. Wir müssen die heutigen | |
Machthaber daran hindern, noch aufs Gaspedal zu drücken, sonst fahren wir | |
mit vollem Tempo in die Mauer. Wenn wir aber selbst am Lenkrad sind, können | |
wir bremsen und die Richtung ändern.“ | |
12 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
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