# taz.de -- Opioidkrise: Die Augen werden immer leerer | |
> Fentanyl ist ein tolles Schmerzmittel und eine üble Droge. In Kanada hat | |
> man lernen müssen, damit umzugehen. In Deutschland herrscht Ignoranz. | |
Bild: Die rammen mir zwei Dosen Fentanyl in den Arm, bis ich meine, fliegen zu … | |
Eines Morgens wache ich auf und kann meinen Kopf nicht mehr bewegen. Ich | |
hab mir böse den Nacken verdreht und dabei einen Nerv so eingeklemmt, dass | |
mein ganzer Körper gelähmt ist. Zwei Stunden liege ich da wie ein Brett. | |
Dann rufe ich die Rettungssanitäter. | |
Die rammen mir zwei Dosen Fentanyl in den Arm, bis ich meine, fliegen zu | |
können. Ich spüre, wie sich die Flüssigkeit über meinen linken Arm in | |
meinen gesamten Körper ausbreitet und dieser flaumweich und glücklich | |
wird. Die Welt glüht, die Sanitäter tragen Heiligenscheine. Ein Engelschor | |
singt: O Canada! Denn diese Szene spielt in Kanada, wo ich 2018 lebte. | |
Obwohl ich den Namen „Fentanyl“ damals schon einmal gehört hatte, weiß ich | |
in dem Moment nicht genau, was mir da verabreicht wird. Später erfahre ich, | |
dass es sich um ein Opioid handelt, an dessen Wirkung in Kanada damals | |
täglich etwa neun Leute sterben. Gefährliches Zeug also. | |
Oft konsumieren die Opfer die Droge unfreiwillig, da ihr Kokain oder Heroin | |
damit gestreckt wird. Schon seit Jahren gibt es in Kanada | |
Aufklärungskampagnen und sogenannte [1][Naloxon-Kits für Überdosen], die es | |
rezept- und kostenfrei in Apotheken gibt. Sie wirken Fentanyl und anderen | |
Opioiden wie Morphium, Heroin oder Codein entgegen. | |
## Hohe Dunkelziffer | |
In Deutschland starben 2022 etwa 2.000 Menschen an ihrem Konsum, 1.200 | |
davon an Opioiden, Tendenz steigend. Oft landen die Betroffenen in den | |
Händen Unfähiger. 2021 starb ein 19-Jähriger, der ein Opioid genommen | |
hatte, in Polizeigewahrsam. Tode dieser Art werden in Deutschland kaum | |
erforscht, weswegen von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist. | |
Zugegeben, die Todeszahlen sind [2][hier noch geringer als in Kanada]. Aber | |
genau deswegen wäre es sinnvoll, dem dortigen Beispiel zu folgen und | |
Prävention und Suchthilfe zu betreiben. | |
NALtrain, ein Projekt für die Verbreitung für Naloxon in Deutschland, | |
berichtet, dass wegen „Zurückhaltung und Skepsis der Ärzteschaft“ bisher | |
nur knapp 1.300 Abhängige das Angebot des Projekts wahrnehmen. Der Zahl | |
stehen 165.000 Konsumierende gegenüber. Der Beauftragte für Sucht- und | |
Drogenfragen, Burkhard Blienert (SPD), fordert einen Paradigmenwechsel. | |
Forderungen allein reichen aber nicht. Wann wird gehandelt? | |
Besonders in Berlin wird eine Asymmetrie deutlich, wie mit Drogen | |
umgegangen wird. Die Partyszene idealisiert sämtliche Substanzen und lebt | |
davon, wie liberal mit ihnen umgegangen wird. Deswegen kommen die meisten | |
ja her: fürs zwanglose Ballern. Derweil sieht das andere Ende des Spektrums | |
finster aus. | |
## Ausgegrenzt und stigmatisiert | |
Es gibt eine immense Ausgrenzung, beinahe einen Ekel vor denjenigen, die es | |
zu weit treiben. Sie haben sich oft nicht nur auf die Straße, sondern in | |
eine absoluten Tabuzone konsumiert. Die Betroffenen sind ausgegrenzt und | |
stigmatisiert. | |
Täglich kann ich vor meiner Haustür in Kreuzberg beobachten, wie einige | |
wiederkehrende Obdachlose noch lebend ihren Verwesungsprozess beginnen, mit | |
klaffenden Wunden und unzähligen Verbänden. Sie sind für die meisten | |
unsichtbar, bis sie nach Geld fragen. Und dann spenden die Passant*innen | |
höchstens missbilligende Blicke. | |
Immer mehr obdachlose Menschen ziehen in den Kiez. Nicht nur sie, auch | |
Uniformierte, die nicht zu helfen wissen, breiten sich aus. Es entsteht ein | |
Nährboden für Intoleranz, auf dem die Abhängigen leben müssen. Und das | |
sieht man ihnen an. Sie wirken wie aus einer anderen Welt gepflückt und in | |
diese hineinplatziert. Die Augen werden leerer. Die Blicke verzweifelter. | |
Hier ist der Engelschor schon lange verstummt. | |
3 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Valérie Catil | |
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