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# taz.de -- Opfer des MH17-Abschusses: Der Sog des Krieges
> Seine Cousine saß in der MH17 – dem Flugzeug, das am 17. Juli 2014 in der
> Ukraine abstürzte. Seither will Robert Oehlers ein Verbrechen aufklären.
Bild: An der Absturzstelle machte Oehlers Fotos und öffnete einen herumliegend…
AMSTERDAM taz | Der Bauch von Robert Oehlers’ Hausboot wirkt wie ein Ort,
an dem man sicher sein kann: Regen trommelt auf das Metalldach des Schiffes
in Amsterdam, ein Schäferhund schnarcht auf dem abgewetzten Dielenboden,
manchmal knackt ein Holzscheit im Ofen. Doch seitdem am 17. Juli 2014 die
Maschine des Malaysia-Airlines-Flugs mit der Nummer MH17 nahe der
ukrainisch-russischen Grenze zerschellte, kommt Oehlers hier nicht mehr zur
Ruhe. Der Krieg hat ihn erreicht.
Am Abend des 17. Juli sitzt Oehlers mit einem Glas Wein auf dem Vorderdeck
seines Hausboots und schaut über das Wasser. Nebenan am Ufer stehen die
beiden Schwarzpappeln, die sein Onkel einst pflanzte; an den Stamm des
hinteren Baums hat Oehlers seinen Briefkasten genagelt. Gegenüber am
Ostdock ragt das Technikmuseum wie ein riesiger grüner Schiffskörper über
das Wasser.
Sein Handy klingelt. Das Display zeigt den Namen seiner Tante. Robert
Oehlers hebt ab.
„Daisy –“, sagt seine Tante, „Daisy ist tot.“ Daisy, seine Cousine. U…
Freund Bryce. Abgestürzt mit dem Flugzeug über der Ukraine. Es wurde wohl
abgeschossen.
Fünf Monate später läuft Oehlers mit demselben Handy am Ohr durch sein
Wohnzimmer. Er redet über Einschussstellen und Verantwortung, eine Frau vom
Radio ist dran. Oehlers setzt sich auf den Couchtisch, steht wieder auf,
klappt die Ofentür auf und wieder zu, verschwindet hinter der Leiter zur
Dachluke, die er als Küchenregal benutzt.
## Robby Oehlers doesn’t sing that much anymore
Am Tag zuvor hatte Oehlers ein paar Stunden an Aufnahmen seines neuen
Albums gearbeitet, heute ist er wieder im Krieg. Er verschickt Tweets mit
dem Hashtag #MH17. Sein [1][Profiltext auf Twitter]: „Robby Oehlers doesn’t
sing that much anymore. Daisy Oehlers and Bryce Fredriksz on strange
Ukraine land.“
Robert Oehlers, 44, ist Musiker und sieht wie ein Musikerklischee aus:
schiefes Lächeln, schwarze Augen, Marlboro im Mund. Seit ein paar Monaten
hat er neben der Musik eine Art zweiten Job: Im Oktober ist Oehlers nach
Kiew geflogen, dann weiter nach Dnipropetrowsk, von dort mit dem Taxi
zuerst nach Donezk gefahren und dann weiter zur Absturzstelle der MH17. Er
verhandelte mit Separatisten, um sich auf dem Gelände frei bewegen zu
können, dann machte er Fotos und öffnete einen herumliegenden Koffer.
Nach den ersten Fernsehberichten über seine Reise veröffentlichte das
Justizministerium ein Statement: „Wir betonen, dass es nicht ratsam ist für
irgendjemanden, dorthin zu reisen, und wir raten allen, die Gegend so
schnell wie möglich zu verlassen.“ Doch viele Menschen in den Niederlanden
bewunderten Robert Oehlers. Weil er etwas Konkretes tat, in einer Zeit, in
der das Warten auf neue Erkenntnisse immer schmerzhafter wurde.
„Ich hatte das Gefühl, meine Haut ist dick genug dafür. Man könnte sagen,
der Krieg ist mir nicht unvertraut“, sagt er.
Robert Oehlers wurde auf einer Nato-Basis in der Nähe von Osnabrück
geboren. Sein Vater war bei der Luftwaffe, auch er ging später zum
Militärdienst dorthin. Als 1992 ein Frachtflugzeug der israelischen
Fluggesellschaft El Al in einen Amsterdamer Wohnblock stürzte, arbeitete
Oehlers im Restaurant seines Stiefvaters ein paar Hundert Meter entfernt.
Von der Straße aus sah er Menschen, deren Körper Feuer gefangen hatten.
Der deutsche Nachname Oehlers, den er mit seiner toten Cousine Daisy gemein
hat, stammt von einem Hamburger Missionar, der sich im Grenzgebiet zwischen
Brasilien und der niederländischen Kolonie Suriname in eine Frau aus einem
indigenen Volk verliebte. Einer der Oehlers aus Suriname kam schließlich
als Soldat der niederländischen Armee nach Europa.
## Nach Katastrophen entstehen Verschwörungstheorien
Nach dem Absturz der MH17 fragte ein Blogger, ob eine Daisy Oehlers
wirklich Niederländerin sein kann und ob noch andere bei einer
Videoaufnahme, die die Mutter ihres Freundes zeigt, das Gefühl haben, sie
schauspielert. Er zweifelte, dass es Daisy Oehlers wirklich gibt.
Es ist wohl eine Art Naturgesetz, dass nach Katastrophen
Verschwörungstheorien entstehen. Das Besondere am Fall der MH17 ist, dass
auch Präsidentenverlautbarungen, Untersuchungsberichte und
Nachrichtenticker manchmal wie Verschwörungstheorien klingen. Nachrichten
wie die, dass ein für die ukrainische Regierung heikler Satz vor der
Veröffentlichung aus dem vorläufigen Untersuchungsbericht gestrichen wurde.
Was man weiß: Ein Flugzeug vom Typ Boing 777-200ER hebt am 17. Juli 2014 um
10.31 Uhr Ortszeit vom Flughafen Schiphol in Amsterdam ab. Es fliegt über
Deutschland, Polen und die Ukraine, wo nahe der russischen Grenze um kurz
vor 13.20 Uhr der letzte Funkspruch aus dem Cockpit kommt: „Romeo Delta
Malaysia Eins Sieben.“ Auf die Rückfrage: „Malaysian Eins Sieben? Wie
empfangen Sie mich?“, erhält der ukrainische Fluglotse keine Antwort mehr.
Es gibt keinen Notruf. Die Maschine stürzt im Verwaltungsbezirk Donezk ab.
In Robert Oehlers’ Hausboot laufen Fernsehnachrichten ohne Ton. Am frühen
Morgen, so wird berichtet, hatten die ersten Lastwagen mit Teilen des
Flugzeugwracks die niederländische Grenze überquert. Weil 192 der 298
Todesopfer Niederländer waren, leitet der Staat die Ermittlungen. Sie
laufen langsam, Untersuchungsberichte verlieren sich in vorsichtigen
Nichtaussagen. Vor Kurzem forderten Angehörige von Todesopfern, dass ihre
Regierung die Leitung an die Vereinten Nationen abgibt.
## Ein Verbrechen im Zentrum eines Krieges
„Die Niederlande haben eine Aufgabe übernommen, die sie nicht bewältigen
können“, sagt Robert Oehlers. Die Aufgabe sei nicht nur die Aufklärung
eines komplizierten Verbrechens, sondern eines Verbrechens im Zentrum eines
Krieges, der die Welt erneut in zwei Teile spalte.
Auch deshalb laden Fernsehmoderatoren Oehlers gern ein. Einen, der
versucht, Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Er hat das Cockpit der MH17
gesehen. Er sagt, die Einschusslöcher seien eindeutig Kugeln, keine
Raketenteile. Das erkenne jeder, der etwas von Munition versteht.
Oehlers springt von der Couch auf, holt einen alten Kassenzettel, klemmt
ihn sich zwischen die Lippen und hält ihn mit einer Hand stramm. Mit der
anderen sticht er einen Kugelschreiber hinein: „Das Einschussloch einer
Kugel, immer rund.“ Er spring wieder auf, holt eine Gabel und versucht mit
der Hinterseite des Griffs zu zeigen, wie das aussähe bei zersplitterten
Teilen einer Schrapnellrakete. Aber das Papier reißt ganz entzwei, reißt
falsch, er versucht es noch einmal, auf dem Tisch – „hier, schau!“ Alles
ganz einfach.
Für Daisy Oehlers und Bryce Fredriksz sollte es ihr erster Urlaub nach dem
Tod von Daisys Mutter werden, es sollte nach Bali gehen. Sie war 20, er 23
Jahre alt, mehr als drei Jahre waren sie ein Paar. Bryce und Daisy lebten
zusammen im Haus von Bryce’ Eltern in einem Vorort von Rotterdam. Bryce
trainierte dort Kinder einer Fußballmannschaft.
## „Bist du mein Cousin?“
Es ist nicht viel, was Robert Oehlers über Daisy Oehlers erzählen kann, sie
ist eine Cousine zweiten Grades, er hat sie eigentlich erst vor ein paar
Jahren richtig kennengelernt. Robert Oehlers war da gerade bei der
Castingshow „The Voice of Holland“ aufgetreten, im weißen Hemd sang er:
„I’ve been searching for the answer within answers.“ Die Jury machte ihm
Komplimente für das Robbie-Williams-hafte in seinen Augen, später bekam er
eine Nachricht von Daisy: „Bist du mein Cousin?“ Sie trafen sich, wurden
Facebook-Freunde.
„Ich bin nicht so emotional involviert wie ihre enge Familie“, sagt
Oehlers. Nicht wie der Vater von Bryce, der, als es von Daisys Leiche
Wochen nach dem Absturz noch keine Spur gab, zu ihm sagte, er würde am
liebsten hinfahren und nach ihr suchen.
„Ich werde fahren“, sagte Oehlers. Knapp eine Woche später stand er an der
Absturzstelle. Was er denn dort finden wolle, hatte seine Freundin vor dem
Abflug gefragt.
Robert Oehlers fühlt sich verantwortlich. Er erzählt von einem Dieb auf
seinem Schiff, den er vor ein paar Wochen festhielt, bis die Polizei kam.
Hätte er es nicht getan, wäre jedes weitere Verbrechen mit auf sein Konto
gegangen, sagt er. In seinen Worten steckt die Sehnsucht nach dem
Superhelden, der Klarheit bringt in eine kompliziert gewordene Welt.
## „Ich habe mehr gefunden, als ich wollte“
Am dritten Tag an der Absturzstelle der MH17 erfuhr Oehlers aus den
Niederlanden, dass Daisy im Labor mithilfe eines kleinen Stückes
Hüftknochen identifiziert wurde.
Oehlers hat nichts gefunden in der Ukraine. Den hellblauen Koffer von Daisy
nicht und auch nicht den Rest ihres Körpers. Aber er sagt: „Ich habe mehr
gefunden, als ich wollte.“
Mehr als 4.000 Menschen sind bei Kämpfen zwischen Separatisten und der
ukrainischer Armee seit April in der Ukraine umgekommen. Oehlers fuhr an
zerschossenen Häusern vorbei. Er hörte Bomben, roch Leichen und sah, wie
auf einen Mann geschossen wurde. Robert Oehlers hat den Krieg gefunden.
28 Dec 2014
## LINKS
[1] http://twitter.com/RobertOehlers
## AUTOREN
Luise Strothmann
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