# taz.de -- OB-Kandidatin in der Türkei: Aufklärung als Antriebsfeder | |
> Ihre Eltern haben den Kampf gegen Umweltzerstörung mit dem Leben bezahlt. | |
> Auch deshalb stellt sich Emine Büyüknohutçu nun in der Türkei zur Wahl. | |
ANTALYA/ISTANBUL taz | Emine Büyüknohutçu steigt im Stadtzentrum von | |
Antalya die Treppen eines Mehrfamilienhauses hoch. Oben bereitet sie sich | |
einen Kaffee zu. Danach geht sie raus auf den Balkon, zündet sich eine | |
Zigarette an, die sie zwischen den dünnen, langen Fingern mit rot | |
lackierten Nägeln hält. Sie hat eine samtweiche Sprechstimme und wirkt | |
zurückhaltend, aber wenn sie lacht, fühlt man die Schallwellen warm gegen | |
die Brust prallen. | |
Es ist Mitte Februar, heute wird Emine Büyüknohutçu im kleinen Kreis ihre | |
Kandidatur als Oberbürgermeisterin ankündigen. Sie will die Ermordung ihrer | |
Eltern, bekannte Umweltaktivist*innen, aufklären und gegen Korruption | |
kämpfen. Die Eingeladenen wird sie um Unterstützung bitten. Denn erst vor | |
wenigen Tagen trat sie aus ihrer Partei TİP, der türkischen Arbeiterpartei, | |
aus, kandidiert nun parteilos. Bis zu den türkischen Kommunalwahlen am 31. | |
März, bei denen landesweit Bürgermeister, Stadt- und Provinzräte gewählt | |
werden, sind es noch rund sechs Wochen. | |
Mit 39 Jahren ist Emine Büyüknohutçu eine junge Politikerin. Die in Antalya | |
geborene und studierte Grafikerin leitet ihre eigene Werbeagentur. Seit | |
sieben Jahren engagiert sie sich politisch, ziemlich genau seit der | |
Ermordung ihrer Eltern. Mit ihrem Bob, den Tattoos und schwarzen | |
Plateaustiefeln entspricht sie so gar nicht dem türkischen | |
08/15-Poltikertypus von männlich und über 50. Sie wirkt so, als sei sie die | |
einzige Kandidatin in Antalya, die der alten, etablierten Parteipolitik und | |
all den hiermit verbundenen Problemen frischen Wind einhauchen könnte. Zwar | |
sind Frauen in der türkischen Politik keine Seltenheit, aber sie sind | |
selten in wichtigen Positionen. | |
Büyüknohutçus OB-Kandidatur ist ein mutiger Schritt – laut Umfragen wird es | |
auf ein knappes Rennen zwischen AKP und CHP hinauslaufen. Die Kandidatin | |
hat allenfalls Außenseiterchancen. Zudem verfügt sie über keinerlei Mittel, | |
die sie für einen Wahlkampf braucht – kein Geld, kein großes Netzwerk, | |
keine Parteistrukturen. Getrieben ist sie vor allem von ihrem Glauben an | |
Aufklärung und Gerechtigkeit: „Ich bin die einzige der Kandidat*innen, die | |
einen hohen Preis für diese Stadt bezahlen musste.“ | |
Emine Büyüknohutçu ist die älteste Tochter von Aysin und Ali Ulvi | |
Büyüknohutçu, die 2017 im Alter von 61 Jahren erschossen wurden. Das Paar | |
setzte sich gegen die Umweltzerstörung durch Steinbruchanlagen in Finike | |
ein. Die Vorstadt mit knapp 50.000 Einwohner*innen liegt südwestlich | |
von Antalya. Das Alacadağ-Gebirge, wo das Haus der Familie steht, ist ein | |
grünes Dorf nördlich vom Finike-Zentrum. Das Haus nutzten sie seit 2011 als | |
Ferienhaus. Nach und nach zogen sie ganz dorthin, „um ihre Rente zu | |
genießen“, erzählt die Tochter. | |
Ihr Vater Ali Ulvi fällt dabei früh auf, dass die Steinbruchanlage unweit | |
ihres Hauses Wälder und Orangengärten lokaler Bauern zerstören. Er schickt | |
Zeitungen Fotos glattrasierter Berge, tritt in Polit-Talkshows auf. 2015 | |
bewirkt er den Betriebsstopp einer der 14 Steinbruchanlagen. Es stellt sich | |
heraus, dass die Genehmigung für die besagte Anlage ohne | |
Umweltverträglichkeitsprüfung erstellt wurde – ein Hinweis auf Korruption. | |
Bevor das Urteil zum Betriebsstopp rechtskräftig wird, verklagt der Inhaber | |
der Anlage Ali Ulvi Büyüknohutçu auf 100.000 Lira Entschädigung (damals | |
rund 25.000 Euro). Das Gericht gibt Büyüknohutçu recht, er muss nichts | |
zahlen. Etwa zwei Monate später, am 9. Mai 2017, wird das Paar erschossen | |
aufgefunden. | |
„Ich kandidiere nicht, um zu gewinnen. Ich möchte aufzeigen, wozu | |
politische Korruption führen kann. Es war nämlich Korruption, die meine | |
Eltern getötet hat“, sagt Büyüknohutçu. Öffentliche Gelder würden etwa … | |
Luxusdienstwagen für Politiker*innen fließen. | |
Im Ausgabenbericht der Stadtverwaltung von Antalya ist das zwar nicht | |
nachlesbar, weil die einzelnen Posten nicht aufgeschlüsselt sind. | |
Aufgelistet in dem Bericht für 2022 sind aber beispielsweise | |
„Dienstleistungen für die Öffentlichkeit“ oder „andere allgemeine Diens… | |
denen gegenüber identische und verdächtig runde Zahlen als Ausgabe | |
angegeben sind. Das Geld, das in Dienstwagen fließt, könne an anderer | |
Stelle gebraucht werden: „Wir werden in Studierendenwohnheime, sozialen | |
Wohnungsbau und Krankenhäuser investieren“, sagt die Kandidatin. | |
Aber auch erneuerbare Energien sind Büyüknohutçu ein wichtiges Anliegen. | |
Sie will für die Wasserversorgung Pumpen nutzen, die durch Solarenergie | |
angetrieben werden. So könne man Wasser- und Strompreise senken. „Auch die | |
Windkraft müssen wir überhaupt einsetzen. Das ist ein langfristiges | |
Projekt, aber wann, wenn nicht heute? Wenn wir so weitermachen, kann man in | |
dieser Stadt in zehn Jahren kaum noch leben.“ | |
Davon, dass der Umweltschutz bei den Kommunalwahlen keine große Rolle | |
spielt, lässt sich Büyüknohutçu nicht beirren. Sie möchte mit ihrem | |
Programm vor allem das Erbe ihrer Eltern weitertragen. Wenn Büyüknohutçu | |
von ihnen erzählt, wird ihre Stimme besonders weich. „Ich konnte nicht | |
trauern. Keine Tränen, kein Nervenzusammenbruch, bis heute.“ Das würden | |
nicht alle gut finden, selbst in ihrem sozialen Umfeld: „Ich höre immer | |
wieder, dass ich den Verstand verloren hätte. Sie erwarten, dass ich | |
zusammenbreche. Das gab ich ihnen nie, und ich weiß, dass meine Eltern | |
stolz wären.“ | |
Kurz nach deren Tod wird der Verdächtigte Ali Yamuç gefasst. Bei der ersten | |
Vernehmung am Tatort erklärt dieser mündlich, dass es sich um | |
Einbruchdiebstahl handele und er das Paar in Panik erschossen habe. Bei der | |
ersten schriftlichen Aussage behauptet er allerdings, es sei ein | |
Auftragsmord gewesen. Ihm habe ein Mann 50.000 Lira geboten, damit er das | |
Paar „erledige“, weil es den Betrieb zum Stillstand gebracht habe. Erst | |
3.000, nach der Tat würde er die weiteren 47.000 Lira erhalten. | |
Kurze Zeit später berichten Medien von einem Brief, den Yamuç seiner Frau | |
übergeben haben soll und der sich an den Inhaber einer Steinbruchanlage | |
richtet. Darin soll er damit gedroht haben zu „reden“, wenn er den Rest | |
seines Gelds nicht bald bekäme. Daraufhin befragt ihn die | |
Staatsanwaltschaft erneut, beide Protokolle liegen der taz vor. Bei der | |
zweiten Anhörung macht Yamuç widersprüchliche Aussagen: Im Brief habe er | |
gelogen, aber sich tatsächlich mit dem Inhaber einer Steinbruchanlage | |
unterhalten. | |
Etwa vier Monate nach seiner Verhaftung wird Ali Yamuç tot auf der | |
Gefängnistoilette aufgefunden. Er habe sich erhängt. Die Ermittlungen | |
wurden eingestellt, weil „der Täter tot“ sei. Dabei war er zum Zeitpunkt | |
seines Todes noch nicht vor Gericht erschienen, geschweige denn verurteilt. | |
Weder seine Behauptung über einen Auftragsmord noch sein Tod waren bisher | |
Gegenstand von Ermittlungen – für Büyüknohutçu ein Zeichen von Korruption. | |
Emine Büyüknohutçu findet sich plötzlich in einem Kampf gegen das Vergessen | |
wieder. Via Social Media und Medienauftritte fordert sie eine lückenlose | |
Aufklärung. Sie verlangt, dass der Rolle von Yamuçs Ehefrau und seiner | |
Behauptung des Auftragsmordes gründlich nachgegangen werde. Dabei erhält | |
sie auch Drohungen, die sie anfangs nicht ernst genommen habe. Knapp zwei | |
Monate nach dem Mord an Ali Ulvi und Aysin Büyüknohutçu veranstaltet die | |
Stadt Finike ein Orangenfestival, das unter anderem von den zwei | |
Steinbruchfirmen, die Ali Yamuç als Auftraggeber beschuldigte, gesponsert | |
wird. | |
Auch Sedat Peker ist eingeladen – ein Mafiaboss, der, ehe er 2021 zum | |
Staatsfeind Nummer eins erklärt wurde, sehr enge Beziehungen zur Politik | |
pflegte. So machte er 2016 Wahlkampf für die AKP, indem er Wähler*innen | |
der Oppositionsparteien mit Mord drohte. „Als ich Fotos von Sedat Peker auf | |
diesem Festival sah, merkte ich, dass sie es ernst meinten. Da musste ich | |
aufhören“, erzählt Büyüknohutçu heute. | |
Nun, sieben Jahre später, möchte sie in Antalya Oberbürgermeisterin werden. | |
Unterstützt wird sie von einem kleinen Team aus freiwillig engagierten | |
Menschen, deren Zahl sie auf 25 schätzt. Der Wahlkampf ist mühsam, oft hakt | |
es an der praktischen Durchführung, alles dauert zu lange, nur die | |
wenigsten scheinen klare Aufgabenbereiche zu haben. Die Menschen aus ihrem | |
Team kennt sie entweder aus ihrer Jugend oder von ihrer alten Partei TİP. | |
Der Mord an ihren Eltern erschütterte sehr viele Menschen, sie wollen | |
Büyüknohutçu deshalb in ihrem Vorhaben unterstützen. Warum sie aus der TİP | |
ausgetreten ist, möchte sie nicht detailliert begründen. Nur so viel: Es | |
ging ihr darum, „dem sozialistischen Kampf nicht zu schaden“. Sie habe in | |
der Partei nicht das gefunden, was sie gesucht habe. | |
Die politische Landschaft in der Türkei ist in zwei Lager gespalten, | |
inzwischen zählen nur noch die CHP und AKP. In ihrem Selbstverständnis geht | |
es dabei um die Richtung der Zukunft: Traditionen gegen Modernität, | |
Fundamentalismus gegen Säkularität. In Antalya lösen sich CHP und AKP seit | |
1999 alle fünf Jahre gegenseitig ab. Der heutige CHP-Oberbürgermeister | |
Muhittin Böcek regiert seit 2019, laut Umfragen könnte er diesmal | |
verlieren. Viele CHP-Wähler*innen sind mit Böcek unzufrieden. Es gibt | |
permanentes Verkehrschaos, die Busse fahren willkürlich. Das Leitungswasser | |
ist nicht trinkbar, es gibt keine Kitaplätze, die Mieten erreichen | |
astronomische Höhen. Die meisten Strände sind privatisiert, oft kosten sie | |
Eintritt. Naturschutzgebiete werden bebaut, Wälder gegen Golfplätze und | |
Steinbruchbetriebe getauscht. Viele sind bereit, trotzdem die CHP zu wählen | |
– wegen der Sorge, dass sonst die AKP von [1][Präsident Recep Tayyip | |
Erdoğan] an die Macht käme. | |
„Mich können Sie nicht konvertieren. Vielleicht reden Sie lieber mit den | |
anderen“, sagt ein etwa 30-jähriger Mann am Duden-Park in Antalya, als er | |
Büyüknohutçus Hand schüttelt. Es ist Ende Februar, die junge Politikerin | |
läuft durch den vollen Park und stellt sich Menschen vor. „Ich möchte aber | |
gerade mit Ihnen sprechen,“ entgegnet sie. Sein Kumpel sagt „Valla, ich | |
wähle Böcek, weil ich muss. Ich habe keine andere Wahl.“ Der | |
Nichtkonvertierbare wirkt leicht beleidigt: „Das höre ich aber zum ersten | |
Mal …“ „Also du erzählst mir, dass es dir um die Partei geht?“, fragt | |
Büyüknohutçu provokant. Er entgegnet: „Nein, ich bin kein Partei-Hooligan, | |
sondern gegen die AKP. Der stärkste Kandidat gegen die AKP bekommt meine | |
Stimme.“ Sein Freund sagt: „Ich kann mir vorstellen, für Sie zu stimmen.“ | |
Sein Kumpel wiederholt: „Wichtig ist, dass die AKP nicht gewinnt.“ | |
Ungefähr eine Stunde lang spaziert Emine Büyüknohutçu durch den Park und | |
spricht Menschen an. Vor allem bei Frauen scheint sie anzukommen: „Wir | |
machen Kitas kostenlos und bieten Berufsausbildungen für die Mütter. So | |
erlernen Frauen einen Beruf und werden unabhängig, ohne sich Sorgen über | |
die Kinderbetreuung zu machen“, sagt die 39-Jährige. „Wir brauchen etwas | |
Neues“, entgegnet eine Frau. Auch andere gratulieren ihr „zu ihrem Mut“, | |
wünschen ihr Glück und Erfolg. | |
Doch die Wahlkampftour an diesen Nachmittag muss früher als geplant enden: | |
der fehlenden Broschüren wegen. Ein Problem, denn auch wenn Büyüknohutçu in | |
umweltaktivistischen Kreisen ein Name ist und vom Mord an ihren Eltern | |
viele wissen, ist sie beim Rundgang weitgehend unbekannt. „Ich bin | |
gezwungen, ihnen zu sagen, dass sie mir auf Instagram folgen sollen, das | |
wirkt so komisch. Wir beenden das jetzt und kommen wieder, wenn die | |
Broschüren da sind.“ Dafür bräuchte sie 5.000 Tausend Lira, umgerechnet | |
circa 150 Euro – eine Summe, über die sie derzeit nicht verfügt. | |
Auf dem Rückweg sprechen sie und Enes Evrensel über die Broschüren. Die | |
Kandidatin will auch welche auf Russisch, in Antalya gäbe es viele | |
stimmberechtigte Russ*innen, sagt sie. Wegen Russlands Krieg gegen die | |
Ukraine sind viele russische und ukrainische Menschen in die Türkei | |
geflohen. Auch in Antalya wohnen einige, die eingebürgert wurden. | |
„Vielleicht sollten wir erst mal welche auf Türkisch haben“, entgegnet | |
Enes. Beide müssen lachen. | |
Enes Evrensel entkommt man nicht, wenn man Emine Büyüknohutçu trifft. Der | |
Vater von zwei Kindern arbeitet als Versicherungskaufmann. Auch wenn die | |
zwei wie alte Freund*innen wirken, lernten sie sich erst vor Kurzem | |
kennen, auf einer TİP-Veranstaltung. Da habe sich niemand Gedanken um ihre | |
Sicherheit gemacht. „Sie erhielt häufiger Drohungen und es gibt große | |
Mächte im Spiel. Ich habe mich bereit erklärt, immer und überall dabei zu | |
sein und für ihre Sicherheit zu sorgen.“ Erfahrung in der | |
Sicherheitsbranche habe er keine. Auch eine Waffe würde er „normalerweise“ | |
nicht tragen. Evrensel unterstützt die Kandidatin aber auch inhaltlich und | |
organisatorisch. Wie er die Aussichten einschätzt? „Wir werden gewinnen. | |
Ich meine nicht den Sitz des Oberbürgermeisters, den werden wir nicht | |
gewinnen. Aber wir werden gewinnen, indem wir vorleben, dass ein Wahlkampf | |
kein Millionenprojekt sein muss.“ | |
Nach dem Duden-Park fahren die beiden in eine Kanzlei von einer | |
befreundeten Person, etwa 15 Kilometer entfernt. Büyüknohutçu soll für ein | |
wichtiges Interview [2][in Istanbul] gebrieft werden. „Das kann alles | |
ändern“, sagt sie. Über sie wurde bisher minimal berichtet. Diesmal wurde | |
sie aber von dem Youtube-Kanal Babala TV mit fast fünf Millionen | |
Abonnent*innen eingeladen. Mit etwas Glück wird ihr Video millionenfach | |
geklickt und der Nachteil, kein Geld zu haben, ein wenig ausgeglichen. Sie | |
kennt die zwei Brüder, die den Kanal leiten, mit dem älteren habe sie | |
gemeinsam studiert. Der ehemalige Stadtvorsitzende von TİP, der die Partei | |
auch verlassen hat, wird sie vorbereiten. | |
Die Sitzung beginnt mit anderthalb Stunden Verspätung. Das Büro ist grau | |
und weiß gestrichen, überall stehen Bücher und Vasen. Vor dem großen, | |
dunkelbraunen Schreibtisch stehen seitlich zwei Sessel, gegenüber eine | |
große Couch, sie sind heute alle belegt. Büyüknohutçu ist nur von Männern | |
umgeben. Stundenlang wird viel geraucht und abstrakt über Politik geredet. | |
Der ehemalige Stadtvorsitzende sagt: „Wir Linken machen oft den Fehler, zu | |
sagen, dass man die Probleme nur mit der sozialistischen Revolution lösen | |
könne, und machen uns keine Gedanken über konkrete Ansätze. Aber viele | |
Probleme können wir auch in dem hiesigen System lösen.“ | |
Wie soll sie Fragen beantworten, auf die sie keine Antworten hat? „Wenn du | |
offen zugibst, dass du nicht alles wissen kannst, und unbedingt mit der | |
Community und Expert*innen gemeinsam arbeiten wirst, dann hebst du dich | |
schon hervor. Die Leute haben keinen Bock mehr auf diese ganzen | |
Besserwisser.“ Später geht es um konkrete Themen wie Gesundheit, Mobilität, | |
Bau- und Landwirtschaft. Einer macht eine Tonaufnahme. Er würde | |
transkribieren, damit Emine nur zuhören und keine Notizen machen muss. | |
Einige Tage später, gut vier Wochen vor dem Wahltag, sitzen Emine und Enes | |
auf einer grauen Eckcouch, beide schauen auf einen Bildschirm. Sie suchen | |
einen preiswerten Mietwagen. „Ich habe 3.000 Lira auf dem Bankkonto“, sagt | |
Emine, weniger als 100 Euro. Das könnte gerade reichen. Heute Nacht fahren | |
sie nach Istanbul, das Interview ist morgen. | |
Nach längerer Suche finden sie ein Angebot und schlagen zu. Nur: Bei der | |
Abholung bekommen sie den Wagen nicht. „Meine Kreditwürdigkeit war zu | |
schlecht,“ sagt Büyüknohutçu, die Wirtschaftskrise würde auch ihre | |
Werbeagentur schwer belasten. Wie sie damit umgeht? „Ich kenne das nicht | |
anders. Auch meine Eltern kämpften schon immer ohne Geld gegen | |
Milliarden-Unternehmen.“ Eine Freundin bietet ihr das eigene Auto an, sie | |
sitzt am Lenker. Etwa 800 Kilometer, zu dritt. Die Schwiegermutter der | |
Freundin habe eine Wohnung in Istanbul, in der sie eine kurze Pause machen | |
und ein paar Stunden schlafen können. | |
Auf dem Weg arbeitet Büyüknohutçu in dem dunklen Auto mit dem Laptop auf | |
dem Schoß, korrigiert Texte für ihre Broschüre, schaut sich die Website an, | |
die vor wenigen Minuten online gegangen ist, telefoniert, schreibt | |
Nachrichten. Sie nuckelt an ihrer E-Zigarette und liest am Handy einen | |
Text: Das Transkript von der Vorbereitungssitzung. 12 Seiten lang soll es | |
sein, und viel zu umständlich formuliert. | |
## Sie liest ohne Pause | |
„Nicht einmal ich verstehe, was hier steht.“ Sie liest ohne Pause, als | |
würde sie versuchen, alles auswendig zu lernen. Angekommen in Istanbul, | |
arbeitet sie in der Küche weiter, während die anderen schlafen. „Wenn du | |
etwas angefangen hast, dann musst du es auch zu Ende bringen“, habe ihr ihr | |
Vater immer gesagt. „Diese Wahlen sind nur der Anfang. Wir testen unser | |
Volumen aus. Nach den Wahlen werden wir daraufhin arbeiten, | |
flächendeckende, parteiübergreifende Bündnisse auf die Beine zu stellen.“ | |
Als sie in der Redaktion auf dem Campus der Nişantaşı-Universität ankommt, | |
liegt eine schlaflose Nacht hinter ihr. Emine Büyüknohutçu sitzt in dem | |
hinteren Büro auf einer Couch, pudert sich das Gesicht und schaut nervös | |
hin und her. Gleich vor den Kameras spricht sie anders, als sie es sonst | |
tut: mechanisch. Ob sie versucht, sich an den Inhalt der 12 Seiten zu | |
erinnern? Das Gespräch dauert keine ganze Stunde, danach müssen sie zurück | |
nach Antalya, wieder ohne Schlaf. Im Auto ist sie zuerst verdächtigt still, | |
wird dann immer lauter. Dass diese 12 Seiten doch unmöglich gewesen seien, | |
dass sich kaum jemand um die Arbeit kümmern würde, dass sie doch nicht | |
alles alleine machen könne. Beschissen sei das Interview gelaufen, klagt | |
sie. Später beruhigt sie sich. | |
Die Fahrt raus aus Istanbul dauert Stunden. Büyüknohutçu kümmert sich da | |
schon wieder um Broschüre, Website und Co. Dem Verkehr der Metropole | |
entkommen, sind die Straßen bis nach Antalya frei. Sie steckt sich Ohrhörer | |
rein und schaut aus dem Autofenster in die dunkle Nacht. Was sie hört? | |
„Horoskop. Der Mond wechselt bald in Fische, das ist mein Sternzeichen. Das | |
kann richtig in die Hose gehen. Oder eben richtig gut werden.“ | |
27 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Mahmud-Abbas-in-der-Tuerkei/!5996789 | |
[2] /Kommunalwahlen-in-der-Tuerkei/!5987216 | |
## AUTOREN | |
Sibel Schick | |
## TAGS | |
Wahlen in der Türkei 2023 | |
Türkei | |
Antalya | |
Kommunalwahl | |
Recep Tayyip Erdoğan | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
GNS | |
Türkei | |
Türkei | |
Wahlen in der Türkei 2023 | |
Wahlen in der Türkei 2023 | |
Wahlen in der Türkei 2023 | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Flucht | |
Schwerpunkt Türkei | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Steinmeier in der Türkei: Auf Versöhnungskurs | |
In der Türkei glättet Bundespräsident Steinmeier die Wogen mit Präsident | |
Erdoğan. Dieser will auf die Freilassung israelischer Geiseln hinarbeiten. | |
100 Jahre deutsch-türkische Beziehungen: Die gemeinsame Geschichte würdigen | |
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist für drei Tage zu Besuch in der | |
Türkei. Dort wird er nicht nur mit offenen Armen empfangen. | |
Frauen bei den türkischen Kommunalwahlen: Der große feministische Wurf? | |
Bei den Kommunalwahlen in der Türkei konnten sich überraschend viele Frauen | |
der CHP durchsetzen. Ein Zeichen für einen feministischen Aufschwung? | |
Oberbürgermeister İmamoğlu: Größere Ziele als Istanbul | |
Mit seiner Wiederwahl hat sich der CHP-Politiker als wichtigster | |
Herausforderer des Präsidenten Erdoğan und seiner AKP in Stellung gebracht. | |
Kommunalwahlen in der Türkei: Erdogans historische Niederlage | |
Die oppositionelle CHP gewinnt nicht nur die großen Städte, sondern ist | |
auch erstmals landesweit vor Erdogans AKP die stärkste Partei. | |
Kommunalwahlen in der Türkei am Sonntag: Linken-Delegation beobachtet Wahlen | |
Die Linke will die Kommunalwahlen in der Türkei beobachten – damit sie | |
„demokratischer werden, als es zu erwarten ist“. | |
Verbot der kurdischen Guerillagruppe: Irak macht mit der PKK Schluss | |
Lang tolerierte Irak die kurdische Guerillagruppe auf ihrem Boden. Nun gilt | |
sie als Terrororganisation – in Hoffnung auf bessere Beziehungen zur | |
Türkei. | |
Erdbeben in der Türkei und Syrien: Als wäre es gestern gewesen | |
Bei Beben in der Türkei und Syrien starben vor einem Jahr 60.000 Menschen. | |
Unzählige sind traumatisiert – und haben kaum Hoffnung in die Regierung. | |
Kommunalwahlen in der Türkei: Istanbul droht an die AKP zu fallen | |
Seit 2019 regiert in Istanbul die Opposition. Nun will die DEM-Partei eine | |
eigene Kandidatin aufstellen – was der AKP in die Hände spielen würde. |