Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Neues Album von Morrissey: Altbekannte Schmerzen
> Morrisey ist wieder da, so weltverneinend schwülstig, so wenig kleinlaut
> wie eh und je. Die größte Hose aus Manchester lässt niemanden kalt.
Bild: Er ist Projektionsfläche für all das Scheiternde, das Zweifelnde in uns…
Es gibt eine große Anzahl Popstars, die haben in jungen Jahren ihre
Meisterwerke abgeliefert und veröffentlichen dann alle paar Jahre ein neues
Album. Das Publikum nimmt dies zur Kenntnis, und in kleinen bis
mittelgroßen Hallen präsentiert der alternde Künstler das alternde Werk
seiner siechenden Fangemeinde. Der Welt aber ist dies längst egal.
Und es gibt Morrissey. – An sich wäre der britische Sänger schwerstens
prädestiniert dafür, auch eine solch abgetakelte Künstlertype zu sein. Denn
selten macht er etwas grundlegend anders, wenn er ein neues Album
veröffentlicht. Selten sind die Songs über die Maßen hinaus innovativ. Man
könnte fast meinen: Da kommt nichts mehr. Und dann hört man wieder ein
neues Werk des Briten mit der inzwischen ergrauten Tolle und den stetig
wachsenden Geheimratsecken, und – baff – lösen sich die Gedanken im Nichts
auf, es kommt wieder alles anders. Denn da passiert etwas mit dem Hörer.
Etwas, das mehr ist als bloße Nostalgie. Hingabe vielleicht?
Und schließlich muss da ja auch etwas sein, das das Phänomen Morrissey
ausmacht. Denn gleichgültig, ob der 55-Jährige hochpathetische, leicht
schwülstige Hymnen vorträgt, ob er sich zu Rechten von Tieren oder zum
Zustand der Royals äußert, ob er sich auf der Bühne in einer kaum zu
übertreffenden Eros-Geste scheinbar impulsiv das Hemd aufreißt und sich
tatsächlich mit haariger Brust gebärdet: Kalt lässt dieser Steven Patrick
Morrissey niemanden.
Die einen stimmen inbrünstige Lobeslieder an, die anderen hassen Mozza
abgrundtief. Dies wird sich auch mit seinem heute weltweit erscheinenden
zehnten Soloalbum „World Peace Is None of Your Business“ keinesfalls
ändern.
Was also hat es auf sich mit diesem Morrissey? Wer er wirklich ist, das
zumindest kann man einigermaßen zufriedenstellend beantworten. Morrissey,
1959 geboren und in Manchester aufgewachsen, wurde als Sänger der Smiths
berühmt, jener britischen Band, mit der er zwischen 1982 und 1987 vier
epochale Studioalben und zahlreiche Hits aufnahm. Noch heute nennt man the
Smiths gerne die einflussreichste Pop-Band überhaupt, nachdem der New
Musical Express sie Anfang des Jahrhunderts dazu erklärt hatte.
## Tragik-Pop
Die Smiths waren mit ihrem melodramatischen Tragik-Pop für den späteren
Sound von der Insel (Britpop) genauso prägend wie für alles, das sich
später Indiepop nannte.
Nach dem Ende der Smiths machte Morrissey solo Karriere – eine Reunion der
Band, für die sicher sehr, sehr viel Geld gezahlt würde, schließt er bis
heute kategorisch aus.
Sein Debüt-Soloalbum nannte er „Viva Hate“ (1988); ein Albumtitel, der für
sich – und für ihn – spricht. Es folgten acht weitere Werke, die radikal
barock daherkamen und auf denen Morrisseys Stimme – diese Wahnsinnsstimme,
ein Bariton mit Sprengkraft – unglaublich viel Raum einnahm. Auch wenn er
solo sicher nicht konstant das Smiths-Gütesiegel hielt, so waren gerade die
Werke der nuller Jahre – etwa „You are the Quarry“ (2004) und „Ringlead…
of the Tormentors“ (2006) – erstaunlich frisch.
## Altbekannte Stimmlage, altbekannte Schmerzen
Auf dem aktuellen Album nun windet sich unser Morrissey in altbekannter
Stimmlage wieder in altbekannten Schmerzen – jede Menge weltverneinende
Klagelieder sind zu hören. Er singt Zeilen, die diesem Künstler nicht allzu
schwer zuzuordnen sind: „But you fail as a woman / and you lose as a man /
We do what we can / and earth is the cruelest place / you will never
understand“, heißt es in „Earth is the loneliest planet“.
Manche nennen Morrissey einen Jammerlappen, nicht wenige verachten diesen
Mann mit dem Pathos; den Schmerzensmann, der die Depri-Musik komponiert.
Ständig stilisiert er sich zum an der Welt leidenden Künstler. Er ist
Projektionsfläche für all das Scheiternde, das Zweifelnde in uns – wenn wir
es an ihm hassen, hassen wir es an uns. Wäre es nur das.
Und dann ist da auch noch der Moralapostel Morrissey. Der Brite ist zum
Beispiel ein einigermaßen fatalistischer Tierrechtler. Er unterbricht
Konzerte, wenn er Kotelettgeruch auf der Bühne wahrnimmt, er vergleicht
Fleischfresser mit Pädophilen: beide seien sie Mörder und Vergewaltiger.
Man muss das alles nicht so ernst nehmen – es ist auch unklar, wie viel
bloße Provokation dahintersteckt. Asket ist er sowieso, einst hat er über
sich gesagt, er lebe zölibatär.
## „A steak and a good fuck“
Vor einigen Jahren äußerte Robert Smith von The Cure, einer der Intimfeinde
des Smiths-Helden, den viel zitierten Ausspruch: „What Morrissey needs is a
steak and a good fuck.“ Und was will man auch schon mit diesem
lustfeindlichen Nörgler, der uns dann ständig Schuld aufladen will? „Each
time you vote / You support the process“, singt er nun im Titeltrack,
sinngemäß will der Mann sagen: Wenn es etwa in der Ukraine (er nennt auch
Brasilien, Bahrain, Ägypten) immer so weiterginge, liege das in unser aller
Verantwortung.
Und dann ist er selbst auch noch immer der Gute: „I’m not a man / I’d nev…
kill or eat an animal /And I never would destroy this planet I’m on“. Mit
seinem Verständnis von Anstand, mit dem Moralismus und so manchen allzu
einfachen Wahrheiten ist Morrissey alles andere als ein postmoderner
Künstler. Genau genommen: vielleicht nicht mal ein Modernist – besser würde
einer wie er in das viktorianische England passen, wo ja auch die
Klavierfüße mit Stoff ummantelt wurden, damit sie nicht so obszön aussehen.
Nun aber kommt das Bemerkenswerteste an all diesen Dingen: Morrissey ist
trotz alldem noch gut. Sogar verdammt gut. Wobei er sicher kein großer
Musiker mehr ist, dafür aber ein umso größerer Poet, der nicht müde wird zu
betonen, wie wir uns zugrunde richten.
In die Songs verirrt sich dabei gerne mal ein schon vor Jahrzehnten
abgestandenes Rockriff, da sind befremdliche Beats, die laut Crossover
krakeelen, da wird etwas bemüht Kehlkopfgesang eingebaut. Und sonst sind es
eben schlicht konstruierte Midtempo-Popsongs nach Gutsherren-Morrissey Art.
Aber da ist diese Stimme des Meisters. Getragen, schwer, wie mit Öl
gesalbt. Wenn diese Stimme dann eine Straßengeschichte aus „Istanbul“
vorträgt, dann kann man nur heftig mit dem Kopf nicken und sagen: Ja, bei
Morrissey liegt in all diesem Hass auch die Liebe. „Moonlight jumping
through the trees / Sunken eyes avoiding me / From dawn to dusk the hunt is
on / The father searches for the son / In Istanbul / Give him back to me /
In Istanbul / Give me back my brown-eyed son.“
## Rumheulen, aber nicht Opfer sein
Morrissey besingt auch die Dichter der Beat Generation und erzählt dabei im
typischen Beat-Duktus eine kleine Geschichte: „ Neil Cassady drops dead /
And Allen Ginsberg’s tears’ shampoo his beard / Neil Cassady drops dead /
And Allen Ginsberg’s lips tighten and thin“. Am Ende des Songs fragt
Morrissey: „Victim or Life’s Adventurer: Which of the types are you?“
Morrissey mag rumheulen, als Opfer sieht er sich ganz sicher nicht, das
sind dann eher die „poor people“, auf die er so oft zurückkommt.
Morrissey stammt aus einer Arbeiterfamilie – seine Kindheit und Jugend
zwischen Blocks und Gangs beschreibt er in seiner im vergangenen Jahr
erschienenen Autobiografie.
Auch in den Songs sind Klassenunterschiede häufiges Thema, das klingt dann
auch gerne mal (zu) simpel: „The rich must profit and get richer / And the
poor must stay poor“ heißt es im Titeltrack. Aber man sollte eben nicht den
Fehler machen, diesen Morrissey abzukanzeln. Seine politischen Äußerungen
mögen manchmal völlig daneben sein (ihm wurde wegen diverser Äußerungen
auch schon Rassismus vorgeworfen, das aber wäre ein Thema für sich). Für
manches aber muss man ihn lieben. Etwa, wenn er die machistische
Mainstream-Kultur und normierte Männlichkeitsideale angreift: „I’m not a
man / I’m something much bigger and better than / A man“ heißt es in „I�…
not a man“.
Beim Sex – inzwischen hat er doch ab und an welchen – war es ihm sowieso
schon immer herzlich egal, wer mit wem ins Bett ging und was man dort
trieb. Zu seiner Sexualität schrieb er im vergangenen Jahr auf seiner
Website: „Unfortunately, I am not homosexual. In technical fact, I am
humasexual. I am attracted to humans. But, of course … not many“. Besser
hat das noch niemand gesagt.
Vor einigen Jahren erklärte Morrissey, die Chancen stünden nicht gut, dass
er über das Alter von 55 Jahren hinaus noch auf der Bühne stehen würde.
Dieses biblische Alter ist nun erreicht, zuletzt war von gesundheitlichen
Problemen die Rede. Aber er wird nach wie vor gebraucht, und wenn auch nur
als Widerpart. Der große Leidenssänger: Nichts Neues unter der Sonne und
trotzdem hat er uns noch viel zu sagen. Dieses Paradox versteht, wer die
zwölf Songs auf „World Peace Is None of Your Business“ gehört hat.
11 Jul 2014
## AUTOREN
Jens Uthoff
## TAGS
Morrissey
Musik
Morrissey
Manchester
Morrissey
Punk
## ARTIKEL ZUM THEMA
Protestparty gegen Morrissey: Manchester missfällt Mozzas Mäkelei
Der Ex-The-Smiths-Sänger hat seine Fans mit rassistischen Tiraden
enttäuscht. Die haben sich für sein Konzert in Manchester was Spezielles
ausgedacht.
Kolumne Geht’s noch?: Dagegensein leicht gemacht
Sänger Morrissey driftet nach dem Anschlag von Manchester ins
Rechtspopulistische. Tipp: Nicht jede Anti-Haltung ist automatisch cool.
Robbenjagd in Kanada: Morrissey rettet die Heuler
Das „horrende Gemetzel“ an Robben ist Sänger Morrissey ein Graus. Das sagte
er auch Kanadas Fischereiministerin. Aber die lässt sich das nicht
gefallen.
Bildband über Punk: „Why? Who the hell knows“
Revolte, schnell und unmittelbar: Der Band „The Singles Cover Art of Punk
1976–1980“ widmet sich dem Design angloamerikanischer Punksingles.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.