# taz.de -- Nach Zugunglück in Griechenland: Explosive Stimmung | |
> Tausende machen die Regierung weiter für das Zugunglück in Griechenland | |
> verantwortlich. Am Donnerstag ist der nächste Protest geplant. | |
Bild: Die Wut der Menschen ebbt auch Wochen nach dem Unglück nicht ab: Massenp… | |
Es war ihr letzter Dialog, ihr allerletzter Funkkontakt vor der | |
Katastrophe. Der Lokführer des IC 62 an den Stationsvorsteher im Bahnhof | |
Larissa: „Hört mich Larissa?“ Die Antwort aus Larissa: „Er hört. Mit der | |
Nummer 47 fährst du über die rote Ausfahrtsampel zur Einfahrtsampel in Neoi | |
Poroi (dem nächsten Bahnhof nach Larissa).“ Lokführer: „Vassilis, fahre i… | |
jetzt los?“ Stationsvorsteher: „Fahr los, fahr los.“ Lokführer: „Schö… | |
Abend.“ Stationsvorsteher: „Alles Gute.“ Kurz darauf ist der Lokführer t… | |
der Bahnhofsvorsteher von Larissa wird verhaftet. | |
Der Grund dafür: Der Intercity IC 62 war am 28. Februar um 23.21 Uhr und 19 | |
Sekunden auf Hellas’ mit Abstand wichtigster Zugstrecke von Athen nach | |
Thessaloniki im Tempital nahe dem Berg Olymp in voller Fahrt mit einem | |
Güterzug [1][frontal zusammengestoßen]. Sofort brach ein Feuer aus. | |
Die vorderen Waggons des Intercity verschmolzen auf einen Schlag zu einer | |
unförmigen Masse. 57 Menschen, darunter viele Studierende, die nach einem | |
Feiertag zu ihrem Studienort in Thessaloniki zurückkehren wollten, kamen | |
ums Leben. | |
Sie starben einen grausamen, brutalen Tod. Bei Temperaturen von bis zu | |
1.300 Grad blieben von ihnen nur verstümmelte, verkohlte Überreste übrig. | |
Die Identifizierung der Leichenreste war nur mit DNA-Tests möglich. Die | |
wohl tragischsten Figuren waren jene Eltern, die ihre eigenen Kinder | |
bestatten mussten. Ein Vater, der seine Tochter verlor, stöhnte | |
herzzerreißend: „Sie war unser Engel. Sie hatte ihr ganzes Leben vor sich. | |
Voller Pläne, voller Träume. Wie konnte das geschehen?“ | |
## Manuelle Steuerung – bei bis zu 200 km/h | |
Das fragen sich fast alle Griechen. Schnell wurde klar, dass der 59-jährige | |
Bahnhofvorsteher in Larissa die Weichen falsch gestellt hatte. Der IC 62 | |
kam so fatalerweise auf das falsche Gleis und knallte nach zwölf Minuten | |
mit Karacho auf den Güterzug, der ihm entgegenkam. | |
Der vielfach tödliche Frontalcrash brachte geradezu ungeheuerliche | |
Sicherheitslücken im griechischen Zugverkehr zum Vorschein. Ohne ein | |
elektronisches Leit- und Überwachungssystem und ohne funktionierende Ampeln | |
erfolgte die Steuerung nur manuell und per Funk. Und dies, obschon der IC | |
des Zugbetreibers Hellenic Train mit seiner Siemens-Lokomotive vom Typ | |
HellasSprinter ein Tempo von bis zu 200 Kilometer pro Stunde erreicht. | |
Menschliches Versagen, wie offenbar bei der Zugtragödie in Tempi, mit | |
verheerenden Folgen. | |
Szenenwechsel. Für den griechischen Regierungschef Kyriakos Mitsotakis | |
hätte es eine der für ihn so typischen Routineveranstaltungen werden | |
sollen. Er hätte sich an diesem 1. März mit viel Tamtam feiern lassen, | |
wofür er sich seit Beginn seiner Amtszeit vor fast vier Jahren hält: als so | |
eifrigen wie entschlossenen Modernisierer und Reformer seines Landes. | |
Doch es kam alles ganz anders: Der Regierungschef blies kurzfristig einen | |
Besuch ausgerechnet in der Zentrale des Leitsystems für das nordgriechische | |
Eisenbahnnetz ab. Stattdessen ordnete er in seinem Athener Amtssitz Megaron | |
Maximou eine dreitägige Staatstrauer an. Die Fahnen wurden bei allen | |
öffentlichen Gebäuden auf halbmast gesetzt. Hellas trauerte. Eine stumme | |
Wut hatte sich plötzlich über das Land gelegt. | |
## Der Unmut wächst | |
Die ist inzwischen einer breiten, offenen Empörung gewichen. Am vorigen | |
Mittwoch, genau eine Woche nach dem Frontalzusammenstoß in Tempi, legte ein | |
Generalstreik das öffentliche Leben in Griechenland lahm. Rund 65.000 | |
Menschen kamen laut Polizeiangaben zu Massenkundgebungen in Athen, | |
Thessaloniki, Larissa, Patras und weiteren Orten zusammen. | |
Es waren die größten Proteste in Griechenland seit Jahren. Es kam zu | |
Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei. Rund 30 Personen | |
bewarfen am Freitagabend die Büros von Hellenic Train mit Steinen. Die | |
Polizei sprach von einem Überfall. | |
Unklarheit herrscht derzeit darüber, ob sich die heftigen Proteste zu einem | |
handfesten Aufstand zu Füßen der Akropolis auswachsen. Am Sonntag gab es | |
erneut Massenproteste in Athen, Thessaloniki, Larissa und Patras. Und nun | |
soll ein weiterer 24-stündiger Generalstreik am Donnerstag stattfinden. | |
Sicher ist: Der Unmut über die Regierung Mitsotakis ist gewaltig. Und er | |
wächst. Tag für Tag. | |
Befeuert wird die explosive Stimmung unter den Griechen durch den Umstand, | |
dass der Transportminister Kostas A. Karamanlis nur acht Tage vor der | |
Tragödie in Tempi im Athener Parlament einen Abgeordneten vom | |
oppositionellen Bündnis der Radikalen Linken (Syriza) rüde zurechtgewiesen | |
hatte. Der hatte es gewagt, ihn mit der mangelhaften Sicherheit im | |
Zugverkehr seines Wahlkreises zu konfrontieren. | |
## Wer ist hier verantwortungslos? | |
Wörtlich sagte Minister Karamanlis von der Regierungsbank mit erhobenem | |
Zeigefinger in Richtung des seiner Ansicht nach zu frechen | |
Oppositionspolitikers: „Das ist eine Schande. Ich schäme mich dafür, dass | |
Sie die Zugsicherheit infrage stellen. Ich will, dass Sie das sofort | |
widerrufen! Eine Schande ist das! Wir sind diejenigen, die die Sicherheit | |
gewährleisten. Folglich gibt es gar kein Problem mit der Sicherheit.“ | |
Geradezu in pathetischer Überhöhung fuhr Karamanlis fort, man sei sich wohl | |
darüber einig, dass „ein verantwortlicher Staat nicht mit der Sicherheit | |
der Passagiere verantwortungslos umgehen“ könne. Kann er doch, wie die | |
Griechen nun verbittert feststellen müssen. Sie sehen in der Zugtragödie in | |
Tempi keinen Unfall, sondern ein Verbrechen mit Todesfolge. | |
Der Frontalcrash in Tempi geschah für die Regierung Mitsotakis zur | |
ultimativen Unzeit. Karamanlis, 48-jähriger Spross einer Politdynastie in | |
Griechenland, die bereits zwei Premierminister mit insgesamt gut 13 Jahren | |
Amtszeit stellte, trat zwar kleinlaut von seinem Ministerposten zurück. | |
Seinen Sitz im Parlament behält er aber und bleibt damit im Fadenkreuz. | |
Gäbe Karamanlis sein Mandat ab, verlöre er seine Immunität. | |
Angesichts der anrollenden Klage- und Anzeigenwelle im Fall Tempi würde er | |
somit juristisch eine Angriffsfläche bieten. Strafverfahren haben die | |
griechischen Behörden bisher nur gegen vier Bahnangestellte eingeleitet, | |
den Bahnhofsvorsteher in Larissa inklusive. | |
## Interessenkollision pur | |
Karamanlis kommt bisher hingegen ungeschoren davon. Das könnte auch so | |
bleiben. Wie verwoben Politik und Justiz sowie Oligarchen, Medien und | |
Meinungsforschungsinstitute in Griechenland sind, hierzulande als ominöse | |
„Diaploki“ (Interessenverflechtung) bezeichnet, offenbart sich mit | |
Nachdruck in der Causa Karamanlis: | |
Evangelos Dogiakos, von Beruf Rechtsanwalt, Sohn von Isidoros Dogiakos, | |
Griechenlands oberstem Staatsanwalt, wurde von Minister Karamanlis in | |
seinem Büro angestellt. Wer leitet die Ermittlungen im Fall Tempi? Isidoros | |
Dogiakos, der oberste Staatsanwalt in Griechenland, Vater von Evangelos | |
Dogiakos. Interessenkollision pur. | |
Karamanlis hüllt sich derweil in Schweigen. Gefühlt ist er untergetaucht. | |
Richtig auf die Palme bringt er die Griechen indes damit, dass er bei den | |
bevorstehenden Parlamentswahlen offenbar abermals für die konservative | |
Regierungspartei Nea Dimokratia (ND) antreten will. Ein Unding, wie viele | |
Griechen finden. | |
Hunderte Protestler fanden sich vor seinem Wahlkreisbüro in der Stadt | |
Serres ein. Sie skandierten: „Keine Stimme für Karamanlis, sein Platz ist | |
im Gefängnis!“ Für den einflussreichen Karamanlis-Clan ist das ein wahrer | |
Schock. Schließlich stammt die Familie aus Serres mit einer ihr bislang | |
treuen Stammwählerschaft. | |
## Generation „K“ wie Krise | |
Die Wut, gar der Hass richtet sich derweil nicht nur gegen den | |
überheblichen Karamanlis. Bei den Massenprotesten am vorigen Mittwoch waren | |
Transparente und Schilder zu sehen mit der Aufschrift „Mörder“ oder | |
schlicht „12 Minuten“, in Anlehnung an die Zeit, in der die beiden Züge | |
aufeinander zurasten. | |
Aufgebracht sind Griechen aus allen sozialen Schichten aller Altersgruppen. | |
Tief ins Mark getroffen hat der Frontalcrash jedoch besonders die | |
einkommensschwächeren Hellenen. Ob Arbeiter, Kleinangestellte oder | |
Studenten: Sie haben oftmals keine andere Wahl, als mit dem Zug zu fahren. | |
Denn die teureren Alternativen Auto, Fernbus oder Flug können sie sich | |
nicht leisten. Ihr flammender Zorn richtet sich so gegen „die Politiker da | |
oben“, zumal diese ohnehin nicht den Zug benutzen. | |
Entsetzt über die Tragödie in Tempi ist zudem die Generation Z, die | |
hierzulande der Generation K entspricht: „K“ für Krise. Sie wird seit | |
Griechenlands faktischem Staatsbankrott im Frühjahr 2010 mit seinen | |
immensen ökonomischen und sozialen Verwerfungen von schweren Krisen | |
gebeutelt. | |
Junge Demonstranten hielten daher Zugtickets in die Höhe mit der Aufschrift | |
„Ohne Rückkehr“ oder Transparente mit der Parole „Die junge Generation | |
verzeiht euch nicht!“. Schon ist in Athen von einer „Generation Tempi“ die | |
Rede. Das Durchschnittsalter aller 57 Tempiopfer ist 35 Jahre. Das | |
Durchschnittsalter der griechischen Gesamtbevölkerung ist 45 Jahre. | |
## Sparen kann tödlich sein | |
Auch Jannis, 22, Politikstudent in Athen, protestiert. „Meine Freunde, | |
meine Familie, alle sind geschockt. Der Staat respektiert uns nicht, er | |
tötet uns sogar. Uns bleibt keine andere Wahl, als auf die Straße zu | |
gehen“, sagt er. | |
Schließlich gehen just jene Griechen auf die Barrikaden, denen der | |
skandalöse Ausverkauf der griechischen Bahnen von Anfang an ein Dorn im | |
Auge gewesen war: Auf Geheiß von Griechenlands öffentlichen Gläubigern EU, | |
EZB und IWF wurde die hiesige Bahngesellschaft im Jahr 2017 für läppische | |
45 Millionen Euro an die italienischen Staatsbahnen verhökert und in | |
Hellenic Train umbenannt. Dabei war dies genau genommen eine | |
Pseudoprivatisierung. | |
Obendrein blieb das Schienennetz in griechischer öffentlicher Hand. | |
Brisanterweise verläuft seither die Kooperation zwischen italienischem | |
Zugbetreiber und griechischem Schienennetzbetreiber gelinde gesagt alles | |
andere als harmonisch. Die Probleme im hiesigen Zugverkehr häuften sich, | |
diverse Zugentgleisungen inbegriffen. | |
Der bereits im Zuge des rigorosen Sparkurses zuvor eingeleitete | |
Personalabbau in großem Stil setzte sich zudem fort, vakante Stellen auch | |
in sicherheitsrelevanten Bereichen blieben unbesetzt, eklatante Lücken in | |
der Elektronik und Digitaltechnik zur Lenkung und Überwachung des | |
Zugverkehrs musste der Faktor Mensch kompensieren. Notgedrungen. Mit | |
fatalen Folgen, wie sich jetzt offenbart. | |
## Kassandrarufe der Gewerkschaften | |
Wiederholt hatten die Gewerkschafter Alarm geschlagen, zuletzt wenige Tage | |
vor der Tragödie in Tempi. Mit Arbeitsniederlegungen, Streikaktionen, | |
Pressemitteilungen und außergerichtlichen Schreiben legten die Arbeitnehmer | |
den Finger in die Wunde. Scharf im Ton. Gebetsmühlenartig. Öffentlich. | |
Alles vergeblich. Höhnisch wurden ihre Warnungen von der Regierung | |
Mitsotakis in den Wind geschlagen. | |
Das rächte sich. Premier Mitsotakis steht vor dem Scherbenhaufen seiner | |
Politik. Vier Tage nach dem Frontalcrash im Tempital, am 4. März, beging er | |
seinen 55. Geburtstag. Still und leise. Der notorische Selbstdarsteller, | |
der sonst vollmundig im Stakkato ein neues, modernes Griechenland | |
propagiert, wirkt plötzlich verunsichert, orientierungslos, verloren. | |
Krampfhaft darum bemüht, sich aus der politischen Sackgasse zu bewegen. | |
Schob er zunächst in einer Fernsehansprache dem offenkundig heillos | |
überforderten Bahnhofsvorsteher die Schuld für die Tragödie zu, bat er | |
hernach um Verzeihung, jedoch erst nachdem sich in der griechischen | |
Öffentlichkeit ein wahrer Shitstorm über ihn ergossen hatte. | |
Schon sein desaströses Pandemiemanagement, die systematische Bevorteilung | |
von Oligarchen, der Absturz Griechenlands auf Platz 108 in der | |
Weltrangliste der Pressefreiheit, die Korruptionsvorwürfe gegen eine Reihe | |
von ND-Politikern sowie der jüngste Athener Abhörskandal: | |
Bereits vor der Tragödie in Tempi hatte sich abgezeichnet, dass Mitsotakis | |
mit seiner allein regierenden ND beim kommenden Urnengang deutlich hinter | |
dem Ergebnis von 39,85 Prozent bei ihrem Wahltriumph vom 7. Juli 2019 | |
zurückbleiben wird. Umfragen gaben Mitsotakis’ ND dennoch bis zuletzt bis | |
zu 35 Prozent der Stimmen, etwa 5 bis 7 Prozentpunkte vor Syriza unter | |
Ex-Premier Alexis Tsipras. | |
## Geschönte Umfragen | |
Doch das war vor der Zäsur, vor Tempi. Vor allem bei den jungen Wählern | |
dürften Mitsotakis und Co bei der bald anstehenden Wahl ein historisches | |
Debakel erleben, zumal erstmals auch 17-Jährige daran teilnehmen dürfen. | |
Auch ND-Stammwähler sind nach dem Frontalcrash in Tempi innerlich | |
aufgewühlt. | |
Eine mit gewisser Vorsicht zu genießende Umfrage des regierungsnahen | |
Meinungsforschungsinstituts Marc (der Chef von Marc fungiert dem Vernehmen | |
nach als Berater von Premier Mitsotakis), jedenfalls die erste | |
veröffentlichte Umfrage nach der Zugtragödie, sieht die ND in der | |
Sonntagsfrage aktuell bei 29,6 Prozent der Stimmen. | |
Das sind 2,9 Prozentpunkte weniger als in der Marc-Umfrage vor der | |
Zugkatastrophe. Das ND-Ergebnis dürfte ob der unstrittig | |
regierungsfeindlichen Grundstimmung in der Bevölkerung eher geschönt sein, | |
schränken Beobachter mit Blick auf den Marc-Chef prompt ein. | |
Ein Syriza-Stratege beschwerte sich sogar über die gezielte | |
„Schadensbegrenzung“, die die Regierung Mitsotakis durch die Publikation | |
von Umfragen ihr nahestehender Demoskopen betreiben wolle. Den Syriza-Mann | |
ärgert, dass seine Partei laut Marc-Umfrage bei 25 Prozent der Stimmen | |
stagniert, immer noch knapp 5 Prozent hinter der ND. | |
## Mitsotakis, Tsipras oder die rechtsextremen „Griechen“ | |
Auf 25,6 Prozent kommt Syriza in einer unterdessen veröffentlichten Umfrage | |
des Meinungsforschungsinstituts GPO. Die regierende ND würde laut GPO 29,5 | |
Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Doch auch hier sollte man Vorsicht | |
walten lassen: Denn der langjährige GPO-Chef, Takis Theodorikakos, ist im | |
Kabinett Mitsotakis Minister für Bürgerschutz und einer seiner engsten | |
Vertrauten. Stichwort: „Diaploki“. | |
Nichtsdestotrotz: Ex-Premier Alexis Tsipras könnte in der Wählergunst | |
gerade nach der Zugkatastrophe gewaltig zulegen, wären nicht ausgerechnet | |
in seiner Amtszeit die griechischen Bahnen an die Italiener veräußert | |
worden. | |
Was wohl noch schwerer auf Tsipras lastet: Im Juli 2018 kamen bei einem | |
verheerenden Feuerinferno im Küstenort Mati nahe Athen 103 Menschen ums | |
Leben. Das wurde allenthalben als Staatsversagen eingestuft und war einer | |
der wesentlichen Gründe dafür, dass sein Widersacher Mitsotakis es | |
schaffte, Tsipras ein Jahr später aus dem Amt zu jagen. Die nüchterne Logik | |
in den Augen der Wähler lautet: Mati stellte Tsipras bloß, Tempi nun | |
Mitsotakis. | |
Übereinstimmenden Umfragen zufolge könnten zudem sieben statt heute sechs | |
Parteien den Einzug ins Athener Parlament schaffen. Die neue rechtsextreme | |
Partei „Griechen“ würde demnach die Dreiprozenthürde überwinden. Ihr | |
Gründer ist Ilias Kasidiaris, ein Ex-Mitglied der Führungsriege [2][der | |
berühmt-berüchtigten Goldenen Morgenröte], die bei den letzten Wahlen knapp | |
am Einzug ins Parlament scheiterte. Kasidiaris sitzt nach dem Mord an einem | |
linken Hip-Hop-Sänger gegenwärtig im Gefängnis. | |
## Heilt die Zeit auch schlechte Umfragewerte? | |
Analysten in Athen weisen darauf hin, eine derartige Zersplitterung der | |
hellenischen Parteienlandschaft erschwere die Regierungsbildung in Athen, | |
zumal bei den nächsten Wahlen erstmals ein Verhältniswahlrecht nach | |
deutschem Vorbild gilt. Mitsotakis’ erklärtes Ziel ist es, wie er | |
wiederholt klargestellt hat, weiter alleine zu regieren. | |
Dies strebt er mehr denn je durch einen Wahlsieg im zweiten Anlauf an. | |
Falls eine Regierungsbildung nach den ersten Wahlen scheitert, erhielte bei | |
den übernächsten Wahlen der Erstplatzierte wieder einen Bonus an Mandaten. | |
Genau darin sieht Mitsotakis seine Chance – der Tragödie in Tempi zum | |
Trotz. | |
Der genaue Termin für die kommenden Wahlen steht noch nicht fest. | |
Ursprünglich wollte Mitsotakis, der als Premier das alleinige Recht hat, | |
den Termin festzulegen, vorgezogene Neuwahlen für den 9. April ausrufen, so | |
wurde es in Athen kolportiert. Das Datum ist jetzt definitiv vom Tisch. Auf | |
die lange Bank kann er das nicht schieben. Der Urnengang hat turnusgemäß | |
bis spätestens Sommer dieses Jahres stattzufinden. | |
Mitsotakis und Co kommt jetzt ein möglichst später Wahltermin entgegen. | |
Getreu dem Motto: „Je später, desto besser. Die Zeit heilt alle Wunden.“ | |
Mitsotakis’ Kalkül dürfte ferner sein, möglichst viele Jungwähler von ihr… | |
Stimmabgabe abzuhalten. | |
## Es Jungwählern so schwer wie möglich machen | |
Das geht so: Mitte April startet in Griechenland die Tourismussaison. | |
Zehntausende junge Griechen verlassen dann ihre Heimatorte vor allem im | |
wirtschaftlich unterentwickelten Norden Griechenlands, um weit entfernt auf | |
den bei Urlaubern aus aller Welt beliebten Inseln als Saisonarbeiter in | |
Hotels, Restaurants, Cafés, Bistros, Nachtclubs oder sonst wo ihre Brötchen | |
zu verdienen. An Wochenenden haben sie in der Reisesaison besonders viel zu | |
tun. | |
In Griechenland, das sich in der Ära Mitsotakis gerne als Europas digitaler | |
Vorreiter sieht, existiert bei Wahlen weder die Option Briefwahl noch das | |
E-Voting. Die griechischen Wähler haben am Wahlsonntag wie eh und je von | |
sieben Uhr in der Früh bis sieben Uhr am Abend in ihrem Wahllokal | |
persönlich zu erscheinen. | |
Einen Abstecher in ihren Heimatort können sich die meisten der Saisonkräfte | |
bei einem Wahltermin in der Reisesaison weder zeitlich noch finanziell | |
leisten, falls die Regierung in Athen dies nicht begünstigt. Diesen | |
Gefallen dürfte ihnen die schwer angeschlagene Regierung Mitsotakis nicht | |
tun, schon gar nicht nach den derzeitigen Massenprotesten. | |
Auf der jüngsten Kabinettssitzung am Donnerstag gab Mitsotakis folgerichtig | |
keinen Wahltermin bekannt. Die Tragödie in Tempi sei „mit seiner Regierung | |
am Ruder des Landes passiert“, räumte Mitsotakis ein. Er bitte erneut um | |
Entschuldigung, „im Namen aller bisherigen Regierungen sowie persönlich“. | |
„Wir alle sind schuld“, sagte Mitsotakis. Ein Offenbarungseid. Denn bisher | |
wollte er den Griechen weismachen: „Wir sind besser als alle vor uns.“ | |
## Die Mär vom „tiefen Staat“ | |
Mitsotakis unterließ es zugleich nicht, unverblümt die Gewerkschaften für | |
die Tragödie an den Pranger zu stellen und damit ausgerechnet diejenigen, | |
die seine Regierung eindringlich vor einem möglichen Unglück gewarnt | |
hatten. [3][Mitsotakis griff dabei den „tiefen Staat“ an] und meinte damit | |
einen seiner Meinung nach aufgeblähten und von den Gewerkschaften | |
dominierten Staat. Ihn zu bekämpfen sei „seine vordringlichste Aufgabe“. | |
Fest steht: Bis auf Weiteres bleibt in Griechenland der Güter- und | |
Personenverkehr auf der Schiene eingestellt. „Fahr los“, die tödliche | |
Anweisung des Bahnhofsvorstehers in Larissa an den Lokführer des IC 62, | |
wird den Griechen noch sehr lange im Gedächtnis haften bleiben. Für die | |
Regierung Mitsotakis vielleicht zu lange. | |
15 Mar 2023 | |
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