# taz.de -- Nach Präsidentenmord in Haiti: Dem Abgrund immer näher | |
> Die Hintergründe der Ermordung von Jovenel Moïse sind weiter unklar. Doch | |
> die Ereignisse zeigen, wie Privatarmeen das Land bestimmen. | |
Bild: Alltag in Port-au-Prince, vier Tage nach dem Mord am Präsidenten Jovenel… | |
BERLIN taz | Wenn Bilder zu Ikonen werden, könnte dieses vielleicht dazu | |
gehören: Ein große Gruppe Haitianer:innen in Flip-Flops und | |
sommerlicher Kleidung bringt ausländische Söldner zur Polizeistation. Sie | |
vermuten, sie könnten zur Truppe gehört haben, die Jovenel Moïse, den | |
umstrittenen Präsidenten, getötet haben. | |
Angesichts der Bilder von Gewalt, die aus Haiti normalerweise kommen, war | |
dieses ausnehmend friedlich. Die Menschen sprachen mit denen, die sie zur | |
Polizei brachten. Sie waren nicht aufgebracht, sondern wollten nur, dass | |
die Institution klärt, was die Hintergründe dieser Männer sind. Sie riefen | |
nicht die Polizei zu sich, weil sie wahrscheinlich befürchteten, dass das | |
Schicksal dieser Männer und die Frage ihrer Beteiligung dann ungeklärt | |
bleiben könnte. Straflosigkeit ist nicht nur in Haiti Ausdruck für die | |
Überlegenheit der Parastaatlichkeit. So gab es für einen Moment immerhin | |
eine Öffentlichkeit, die wenigstens um die Transparenz des Verfahrens rang. | |
Was ist über die Hintergründe der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse in | |
der Nacht vom 7. Juli bislang bekannt? Es zeichnet sich immer deutlicher | |
ab, dass ein hochgerüstetes Kommando internationaler Söldner das Attentat | |
gut geplant und schwer bewaffnet durchgeführt hat. | |
Die Rede ist von kolumbianischen und US-amerikanischen Staatsbürgern, | |
Letztere womöglich mit haitianischen Wurzeln. Jetzt wurde auch noch der | |
[1][haitianische Arzt Christian Emanuel Sanon festgenommen], der eigentlich | |
im US-Bundesstaat Florida lebt. Dieser soll erst vor Kurzem nach Haiti | |
eingereist sein. Er soll in telefonischem Kontakt mit den offenbar | |
gedungenen Mördern gewesen sein. | |
## Privatarmeen mit großer Macht | |
Dass [2][ausländische Söldner] in das Attentat verwickelt sein sollen, | |
erscheint glaubwürdig. In der Nachfolge des Erdbebens, das vor gut elf | |
Jahren Haiti verwüstete und über 100.000 Menschen tötete, hat sich – auch | |
mit US-Regierungsgeldern – ein wachsender Sektor privater | |
Sicherheitsdienste entwickelt, der über die entsprechenden Mittel verfügt. | |
Wenn das Attentat aus diesem Bereich kam, mussten Söldner nicht erst | |
eingeflogen werden. Sie waren schon da. | |
Ein aufschlussreiches Beispiel für die wachsende Bedeutung privater | |
Sicherheitsdienste, die man eigentlich als Privatarmeen bezeichnen muss, | |
ist der Chef der Leibgarde des getöteten Präsidenten. Gegen Dimitri | |
Herard, Chef der Sicherheitseinheit des Nationalpalastes (USGPN), | |
ermittelten US-Behörden wegen Waffenschmuggels in den USA und Haiti. Neben | |
seinem Polizeijob besitzt Herard noch eine Sicherheitsfirma und gehörte | |
nach dem [3][Erdbeben von 2010] zu einer kleinen Gruppe haitianischer | |
Polizisten, die unter der Ägide von US-Fachleuten in Ecuador ausgebildet | |
wurden: zur Aufstandsbekämpfung. | |
Das bedeutet nicht, dass Herard in das Attentat verwickelt ist, zeigt | |
aber, wie sich in Haiti seit dem Erdbeben die „Sicherheitslandschaft“ | |
grundlegend verändert hat. Und darin spielen Privatarmeen eine so große | |
Rolle, dass sie auch einen Präsidenten töten können. | |
Solche Strukturen zu fördern, hielt man auf internationaler Ebene zunächst | |
für eine Form von Sicherheit. Das Augenmerk der internationalen | |
Gemeinschaft, der UNO und ihrer Haiti-Mission Minustah, richtete sich nur | |
auf die Gangs in den Elendsvierteln. Die Armen, die in Haiti 80 Prozent der | |
Bevölkerung ausmachen, hält man aus der Sicht eines Herrschafts- und | |
Kontrolldenkens naturgemäß für gefährlich. Diese Logik bescherte Haiti | |
einen der längsten UN-Militäreinsätze weltweit. | |
Die Blauhelmtruppe Minustah, die unter der Kontrolle lateinamerikanischen | |
Militärs stand, verschlang in den 13 Jahren ihrer Existenz zwischen 2004 | |
und 2017 täglich eine Million Dollar. Der ehemalige Direktor der OAS | |
(Organisation Amerikanischer Staaten) in Haiti, der Brasilianer Ricardo | |
Seitenfus, kommentierte dazu kürzlich in der haitianischen Tageszeitung Le | |
Nouvelliste, heute stünde Haiti trotzdem vor dem Abgrund. Das schrieb er | |
noch vor der Ermordung von Moïse. | |
## Gangs als paramilitärische Gruppen | |
Neben den Privatarmeen bleiben die Gangs aus den Elendsvierteln ein | |
wichtiger Faktor, aber in anderer Form als früher. Auch sie sind heute so | |
bewaffnet, dass man sie als paramilitärische Gruppen bezeichnen kann. Sie | |
haben unter Moïse einen enormen Macht- und Waffenzuwachs erfahren. Sie | |
sollten die breite Mobilisierung von unten unterbinden, die es gerade unter | |
jungen gebildeten Leuten seit 2017 gab. | |
Diese Petrocaribe-Bewegung, die sich am Korruptionsskandal um den Verbleib | |
der venezolanischen Erdbebenhilfsgelder entzündete, verlangte die Absetzung | |
von Moïse, weil er in diesen Korruptionsskandal verwickelt war. Sie | |
forderte vor allem eine Demokratisierung des Landes, freie Bildung, eine | |
Gesundheitsversorgung und ein Rechtswesen, das in der Lage ist, auch die | |
Elite bei Fehlverhalten vor Gericht zu bringen. Die Covid-19-Pandemie und | |
die Gang-Massaker wie gezielte Tötungen von Aktivist:innen haben das | |
vorgegebene Ziel erreicht, diese Bewegung zu brechen. | |
Wenn die Gangs nun als Täter des Mordes ausgeschlossen werden können, muss | |
man von einem bewaffneten Machtkampf innerhalb der haitianischen Elite | |
ausgehen. Das zeigt sich schon in den Debatten, wer nun der | |
Übergangspräsident sei. Der von Moïse Anfang vergangener Woche entlassene | |
Premierminister Claude Joseph erhebt diesen Anspruch. Sein nominierter, | |
noch nicht inaugurierter Nachfolger Ariel Henry ebenfalls. Joseph war | |
bereits in die Absetzung des demokratisch zum Präsidenten gewählten | |
Armenpriesters Jean-Baptiste Aristide 2004 verwickelt, die von Frankreich | |
und den USA vorgenommen wurde und in den Minustah-Einsatz mündete. | |
Der US-amerikanische Anthropologe und Haiti-Kenner Mark Schuller sagte der | |
taz nach der Ermordung von Moïse, das größte Problem Haitis zur Zeit liege | |
in dem „Machtvakuum“, das der ermordete Präsident systematisch ausgebaut | |
habe. Der Oberste Gerichtshof ist nicht funktionsfähig, seit Moïse seinen | |
Mitgliedern einen Putsch gegen ihn unterstellte und einige zeitweise | |
verhaften ließ. Zudem ist der Präsident des Obersten Gerichtshofs gerade an | |
Covid-19 gestorben. Er wäre der verfassungsmäßige Kandidat für eine | |
Übergangspräsidentschaft gewesen. | |
## Haitis Elite ist transnational | |
Das laufende Gerichtsverfahren in Sachen Petrocaribe-Korruption ist ohne | |
ein einziges Urteil eingestellt worden. Das Parlament ist aufgelöst, weil | |
keine Wahlen organisiert wurden. Bereits seit anderthalb Jahren regierte | |
Moïse per Dekret. Er fühlte sich unter Donald Trump, aber auch unter Joe | |
Biden unterstützt bei seinem Versuch, den haitianischen Staat endgültig für | |
einen Teil der Eliten zu kapern. Denn die Core-Group – ein Bündnis der | |
internationalen Geber, zu dem unter anderem die UNO, die USA, die EU, | |
Frankreich und auch Deutschland gehören – hat bis zum Schluss am Moïse | |
festgehalten. | |
Haitis Elite, wie überhaupt die haitianische Existenzweise, ist längst | |
transnational. Man kann über Haiti nicht reden, ohne die haitianischen | |
Gemeinden in Florida, New York oder Montreal mit einzubeziehen. Und so | |
spielt sich der Kampf um die Zukunft Haitis derzeit auch in den | |
Meinungsspalten der großen US-Zeitungen ab. Während Andres Oppenheimer im | |
Miami Herald eine erneute UN-Friedensmission in Haiti fordert, kommen nun | |
zum ersten Mal auch haitianische Stimmen aus den zivilen Bewegungen zu | |
Wort. | |
So forderte die Programmdirektorin des haitianischen | |
Menschenrechtsnetzwerks RNDDH, Rosy Auguste Ducena, in der Washington Post, | |
dass die USA ihre Politik gegenüber Haiti ändern und sich mit „der | |
haitianischen Zivilgesellschaft verbinden“ müssten. Sie fordert eine | |
Übergangsregierung für Haiti, nicht aus Mitgliedern der Elite, „sondern aus | |
Richtern und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft“. Diese müsste | |
„[4][frei von ausländischen oder Parteiinteressen]“ sein. | |
Eine solche Übergangsregierung habe die Aufgabe, das Vertrauen der | |
Haitianer in die Demokratie zurückzugewinnen. „Solange die Vereinigten | |
Staaten und andere Mächte jedoch auf Wahlen im September drängen, wird es | |
für Haitianer sehr schwer werden, wirkliche Lösungen zu erarbeiten.“ | |
12 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Katja Maurer | |
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