# taz.de -- Nach Erdbeben in Haiti: Die Hauptstadt der Obdachlosen | |
> Sieben Wochen nach dem Erdbeben in Haiti sind die Aufräumarbeiten noch | |
> nicht abgeschlossen. Die UNO spricht von der schwersten Katastrophe ihrer | |
> Geschichte. | |
Bild: Laufen in Ruinen: Ende Februar in Port-au-Prince. | |
Noch immer bebt die Erde in Port-au-Prince. Auch knapp sieben Wochen nach | |
der schwersten Erdbebenkatastrophe in der Geschichte des Landes laufen | |
Menschen nachts in Panik aus ihren Häusern. "Ich traue mich nicht, in | |
meinem Haus zu schlafen", sagt Elta Kesner. Sie sitzt vor ihrem Haus in Bel | |
Air, einem Stadtteil im Zentrum von Port-au-Prince. Derzeit schläft die | |
fünfköpfige Familie in einem Zelt. "Bei jedem Geräusch schrecken wir auf", | |
berichtet die 43-Jährige. | |
Mehr als 1,2 Millionen Menschen sind direkt von dem Erdbeben betroffen. | |
Über eine Minute lang zitterte am 12. Januar knapp 20 Kilometer von der | |
haitianischen Hauptstadt die Erde und verwüstete nicht nur weite Teil der | |
Innenstadt mit dem Regierungsviertel, sondern auch in den südlichen, dicht | |
bevölkerten Vorstädten wie Carrefour. In Port-au-Prince sind rund 100.000 | |
Gebäude völlig und etwa 510.000 schwer beschädigt. Auch in den südlichen | |
Bergregionen ist fast jedes vierte Haus in Mitleidenschaft gezogen, jedes | |
zehnte völlig zerstört worden. | |
Carlot Amrase, der in La Font in der Region von Les Palmes lebt, konnte | |
sich nur mit knapper Not aus dem zusammenbrechenden Steinhaus retten. In | |
tagelanger Arbeit klopfte der 62-Jährige den Zement von den Steinen. Nach | |
der nächsten Ernte im Mai will er mit dem verdienten Geld Zement kaufen und | |
sein Haus wieder aufbauen. Derzeit wohnt er mit seiner 32 Jahren alten Frau | |
Polene Michel in einem Provisorium, das er aus Balken und Wellblech | |
errichtet hat. "Wir haben unser Leben gerettet. Aber meine Kuh und das | |
Maultier sind tot und einen Teil der Vorräte haben wir verloren." Die | |
Vereinten Nationen, die die Koordinierung der Hilfe in Haiti übernommen | |
haben, sehen es als besonders schwerwiegend an, dass durch das Beben die | |
örtlichen Strukturen in dem Karibikstaat völlig zusammengebrochen sind. | |
Fast alle Ministerien und städtische Einrichtungen stürzten in sich | |
zusammen, die Verwaltung ist paralysiert. "Dies ist eine Katastrophe | |
historischen Ausmaßes", betonte die Sprecherin des Büros zur Koordinierung | |
humanitärer Einsätze (Ocha), Elisabeth Byrs: "Noch nie in der Geschichte | |
der UNO sind wir mit einer solchen Katastrophe konfrontiert gewesen." | |
Insgesamt könnte die Zahl der Todesopfer auf 300.000 ansteigen, noch immer | |
werden zahlreiche Leichen aus den verwüsteten Gebäuden geborgen. Ocha | |
beziffert die Zahl der Toten auf über 222.500. Allerdings wurden kurz nach | |
dem Beben viele Leichen nicht registriert, sondern einfach in Massengräbern | |
verscharrt. Die Anzahl der Verletzten gibt das UN-Büro mit 310.900 Menschen | |
an, vielen mussten Gliedmaßen amputiert werden. | |
"Weil es keine koordinierte Erfassung gab, dürfte es eine große | |
Dunkelziffer geben", befürchtet der ehemalige haitianische | |
Gesundheitsminister Daniel Henrys. Außerdem haben mehr als 1,5 Millionen | |
Hab und Gut verloren. Insgesamt neun Millionen Einwohner zählt Haiti, das | |
ärmste Land Lateinamerikas, in dem rund vier Fünftel der Bevölkerung mit | |
rund 1,50 Euro am Tag für den Lebensunterhalt auskommen müssen; 40 Prozent | |
sogar mit nur der Hälfte. | |
Mehr als 510.000 Menschen wurden obdachlos. Port-au-Prince, die Hauptstadt | |
Haitis, gleicht einem riesigen Heerlager. Vierhundertfünfzehn öffentliche | |
große Plätze oder Freiflächen haben sich in provisorische Camps für die | |
mehr als eine halbe Million Obdachlose verwandelt. Dazu kommen noch | |
unzählige kleine Zeltstädte, die in den Stadtvierteln auf der Straße vor | |
allem vor Privathäusern errichtet wurden. | |
Aus Angst vor weiteren Beben und angesichts der schwierigen Situation haben | |
viele Erdbebenopfer vor allem aus Port-au-Prince die Stadt verlassen. Sie | |
haben zum Großteil bei Verwandten auf dem Land Unterschlupf gefunden in der | |
Hoffnung, dass dort die Versorgung besser ist. Die Vereinten Nationen | |
schätzen ihre Zahl auf über eine halbe Million. Verlässliche Angaben | |
darüber gibt es nicht, weil es noch nie ein zuverlässiges Melderegister | |
gab. | |
Nördlich von Port-au-Prince bei Bon Repos sind auf den öden Freiflächen | |
kleine, über Nacht errichtete Zeltstädte entstanden, die vor allem die | |
internationalen Hilfsorganisationen vor erhebliche Versorgungsprobleme | |
stellen. Ständig ändert sich die Zahl der Bewohner. Wer heute mit 100 | |
Bedürftigen rechnet, handelt sich Beschimpfungen ein, weil er am anderen | |
Tag nicht genügend Unterkünfte oder Verpflegung für die bereits auf 150 | |
Personen angewachsene Zahl der Bewohner anliefert. | |
"Die logistischen Schwierigkeiten waren bisher schon groß, weil die | |
Hafenanlagen von Port-au-Prince schwer beschädigt sind und auch der | |
Flughafen nur begrenzte Kapazitäten hat", sagt Richard, ein | |
UN-Logistikspezialist, der offiziell keine Auskunft geben darf. "Ein | |
Großteil der Lebensmittel und Hilfsgüter ist über die Dominikanische | |
Republik gekommen und hier an die Hilfsorganisationen vor Ort verteilt | |
worden. Jetzt müssen wir auch noch für die Ernährungssicherung der | |
Obdachlosen in abgelegenen Regionen des Landes sorgen, die aufgrund der | |
schlechten Straßenverhältnisse nur schwer zu erreichen sind." | |
Jeden Morgen stehen mehr als hundert Lastkraftwagen am Grenzübergang in | |
Malpasse, um im Konvoi an ihren Bestimmungsort eskortiert zu werden. Neben | |
der Trinkwasserreinigung und -verteilung müssen die Bedürftigen mit | |
Lebensmittelrationen für zwei Wochen versorgt werden, besonders im | |
Stadtgebiet von Port-au-Prince eine logistische Herausforderung. "Aber | |
langfristig müssen wir die Ernährungssicherung im Land selbst | |
gewährleisten", sagt Michael Kühn, der Regionalkoordinator der Deutschen | |
Welthungerhilfe. | |
Für den Kauf von Nahrungsmitteln fehlt vielen Katastrophenopfern das Geld. | |
Immer mehr Nichtregierungsorganisationen haben deshalb begonnen, Betroffene | |
als Tagelöhner zu beschäftigen. Im Auftrag der Deutschen Welthungerhilfe | |
räumen in Jacmel und Petit Goâve Männer und Frauen Trümmer von den Straßen | |
und reißen einsturzgefährdete Häuser ab. Auf der Route Bernadette, die in | |
die Berge von Les Palmes führt, arbeiten jeden Tag mehrere Gruppen von | |
Freiwilligen an der Ausbesserung der Piste. Schlaglöcher in der Fahrbahn | |
werden eingeebnet, Abwasserrinnen gezogen, um Schäden bei schweren | |
Regenfällen zu vermeiden. Der Bauer Zamor Chenet verdient sich dadurch 200 | |
Gourdes, umgerechnet 3,60 Euro pro Tag. Die Straße ist für die Bergregion | |
die wichtigste Verkehrsverbindung, auf ihr transportieren die Bauern Gemüse | |
und Früchte, um sie auf dem Markt zu verkaufen. Mit dem Verdienst können | |
sich die Tagelöhner wiederum mit Waren des täglichen Bedarfs eindecken. | |
Gleichzeitig wird im Süden des Landes von fast allen | |
Nichtregierungsorganisationen in großem Umfang Saatgut an die Bauern | |
verteilt, die vom Erdbeben betroffen sind. "Die Einkommensverhältnisse der | |
Bauern sind schlecht, die Schäden an den Häusern kommen sie teuer zu | |
stehen. Mit der Regenzeit im März beginnt die Aussaatzeit. Wenn sie jetzt | |
nicht säen, können sie im Mai und Juni nicht ernten, und dann ist die | |
Katastrophe noch größer", sagt Anthony Eyma, der Direktor der haitianischen | |
Nichtregierungsorganisation Concert-Action. | |
Für haitianische Schülerinnen und Schüler könnte 2010 ein verlorenes Jahr | |
werden. In den am stärksten betroffenen Städten sind 90 Prozent der | |
Schulgebäude so schwer beschädigt worden, dass an einen Unterricht nicht zu | |
denken ist. Zahlreiche Lehrer sind umgekommen. "Wir müssen unbedingt wieder | |
den Schulbetrieb aufnehmen", fordert Maryse Penette-Kedar von der Stiftung | |
Prodev, die sich nicht nur um die Trinkwasserversorgung in mehreren | |
Zeltstädten kümmert, sondern auch erste Schulzelte errichtet hat. Auch | |
Naomi Joseph, die in Liancourt eine Montessori-Schule betreibt, kritisiert, | |
dass vom Erziehungsministerium zu wenig getan werde, damit der Unterricht | |
trotz fehlender Schulgebäude bald beginnen könne. In dem schmalen | |
Schulgebäude werden 91 Kinder unterschiedlichen Alters unterrichtet, davon | |
auch einige, die bei dem Erdbeben ihre Familie verloren und hier ein neues | |
Zuhause gefunden haben. "Wir müssen den Kindern eine Perspektive bieten, | |
damit sie ihr Schicksal wieder in die eigene Hand nehmen." | |
1 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Hans-Ulrich Dillmann | |
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