| # taz.de -- Maurice Summen über sein neues Album: „Ich bin lieber Strauchdie… | |
| > Der Berliner Musiker und Labelchef Maurice Summen über eine Kindheit an | |
| > der deutsch-holländischen Grenze, US-Soulmusik und sein neues Album | |
| > „Bmerica“. | |
| Bild: Tick, tack! | |
| Maurice Summen steckt mitten in den Proben zur Tour seines neuen Projekts | |
| Maurice & die Familie Summen. In großer Besetzung mit befreundeten Musikern | |
| hat er ein neues Album namens „Bmerica“ eingespielt. Ein bunter Strauß an | |
| funkigen Songs, arrangiert vom Keyboarder Michael Mühlhaus. Die Musik | |
| klingt selbst dort gutgelaunt, wo Summen von nicht immer ermunternden | |
| gesellschaftlichen Stimmungen singt. Von „traurigen Gesichtern“, von der | |
| Kommerzialisierung, die nichts gekostet hat, und von der alten Zeit, die | |
| der 43-Jährige zurückhaben will, bis ihm Kollege Kryptik Joe (Deichkind) | |
| widerspricht. Als Sänger verwandelt sich Summen dabei in eine erstaunliche | |
| Mischung aus seinem Vornamensvetter Maurice White von Earth, Wind & Fire | |
| und Bernd Begemann. Wie sein Weg bis „Bmerica“ war, erklärt der Musiker, | |
| Radiomoderator und Labelbetreiber bei Kaffee in der Küche seines Büros in | |
| Berlin-Prenzlauer Berg. | |
| taz: Maurice Summen, Sie sind geboren in Stadtlohn im Münsterland, wo Sie | |
| auch in den siebziger und achtziger Jahren aufgewachsen sind. Beschreiben | |
| Sie bitte Ihren Geburtsort? | |
| Maurice Summen: Stadtlohn ist eine Töpferstadt in ländlicher Umgebung. Die | |
| nördlichste Enklave des Katholizismus in Deutschland. In meiner Kindheit | |
| ging von den 17.000 Einwohnern der größte Teil in der einzigen Möbelfabrik | |
| am Ort arbeiten. Deren Vorfahren wiederum hatten während des | |
| Dreißigjährigen Krieges ihren Glauben mit der Forke in der Hand verteidigt. | |
| Hat Ihnen an der Atmosphäre in der Provinz etwas gefallen? | |
| Die Plattensammlung meiner Eltern! Sie waren Fans von Marvin Gaye und | |
| anderen Künstlern des Soullabels Motown, außerdem hatten sie Alben von Sly | |
| & the Family Stone und Roxy Music. Ich profitierte auch davon, dass wir | |
| gerade fünf Kilometer von der holländischen Grenze entfernt wohnten. Denn | |
| direkt dahinter hatte sich im Grenzgebiet eine Importkultur für Popmusik | |
| entwickelt und mit ihr entstanden Clubs, in denen diese Musik lief. | |
| Mein Vater schlug sich in Holland als DJ für Soul und Funk durch, nachdem | |
| er sich vorher in einer Beatband ausprobiert hatte. Er spielte mir oft | |
| Songs vor, nahm Radiosendungen für mich auf und fuhr mit mir zu den | |
| Plattenläden. Und als ich ein bisschen älter war, hat er mich in den Läden | |
| abgesetzt und nach ein paar Stunden wieder abgeholt. Zwischen meinen Eltern | |
| und mir begann eine Unterhaltung über Musik, die im Grunde nie aufgehört | |
| hat. Deswegen kam es selten zu Konflikten. Das gehört zu meinen | |
| Kindheitserfahrungen: Musik ist unendlicher Dialog. | |
| Und der hat sich in der Jugend fortgesetzt? | |
| Ja, zum Beispiel in den Räumen von Schützenvereinen. Die konnten | |
| Privatleute mieten, um sogenannte „Frei-saufen-Partys“ zu veranstalten. Der | |
| Eintritt betrug zehn D-Mark, Getränke waren umsonst. Das zog viele an, die | |
| sich kaum für Popmusik interessierten. Am Rand trieben sich ein paar | |
| versprengte Psychobilly-Fans herum, die mich auf die Bands The Legendary | |
| Stardust Cowboy und die Cramps brachten. Über sie lernte ich die daran | |
| angeschlossene, interessante, merkwürdige Welt aus B-Movies und | |
| Trash-Obskuritäten kennen. | |
| Wann fingen Sie selbst mit Musikmachen an? | |
| Mit 14. Da bin ich den Mitgliedern meiner späteren Band Die Türen begegnet. | |
| Sei es, weil der eine ein Band-T-Shirt trug, der andere eine etwas coolere | |
| Frisur und Doc-Martens-Stiefel hatte. Wir standen gemeinsam auf dem | |
| Schulhof, hingen nach dem Unterricht in Parks ab und sind schließlich im | |
| Übungsraum gelandet. | |
| Wussten Sie, was Sie nach der Schule machen wollten? | |
| Ich hatte keinen blassen Schimmer. Die einen fingen an, wie das so hieß, | |
| „irgendwas mit Medien“ zu studieren. Die anderen schrieben sich pro forma | |
| ein, hielten sich aber eher selten in der Universität auf. Ich ging nach | |
| Oberhausen und wurde „Floorwalker“ eines Plattenladens in einer | |
| schrecklichen Shopping-Mall. | |
| Was macht ein Floorwalker? | |
| Er hört sich die Fragen der Kunden an: „Am Samstag lief ein Lied bei ‚Geld | |
| oder Liebe‘, das klang ganz toll. Von wem war das?“ Das musste ich dann | |
| rausfinden. Oder eine Kundin sagte: „Ich brauche ein Geschenk.“ Dann sollte | |
| ich sie musikalisch beraten. Meine Aufgabe war im Großen und Ganzen okay. | |
| Oberhausen war nicht gerade die große, weite Welt, oder? | |
| Nein, irgendwann entwarf ich einen Plan A und einen Plan B. Plan B sah vor, | |
| dass, wenn alle Stricke reißen würden, ich Bibliothekar werden könnte. | |
| Deshalb begann ich ein Studium in Köln und jobbte nebenbei im MAZ-Archiv | |
| des WDR. Beides zusammen stellte sich als so arbeitsintensiv heraus, dass | |
| für Plan A – Musikmachen – keine Zeit mehr übrig blieb. | |
| Und da versprach der Umzug nach Berlin die Lösung? | |
| Ja, der bot sich an, weil meine Freunde Ramin Bijan und Gunther Osburg | |
| bereits in Berlin wohnten. Ich bin ihnen hinterhergezogen, und auf einmal | |
| ging alles sehr schnell. Das Debütalbum meiner Band Die Türen wurde fertig, | |
| die Produktmanagerin Myriam Brüger gab uns einen Crashkurs in Labelkunde, | |
| bis Osburg und ich eine eigene Plattenfirma namens Staatsakt gründeten. | |
| Meine Selbstzweifel nagten weniger, manche Fragen drängten sich nicht mehr | |
| so stark auf. | |
| Welche Frage war denn für Sie am drängendsten? | |
| Warum kann ich mich nicht mit einem normalen bürgerlichen Lebensmodell | |
| arrangieren? Und wenn nicht, gerate ich dadurch auf die schiefe Bahn? | |
| Das ist ja gerade noch mal gut gegangen! Aber warum heißt Ihr Label | |
| ausgerechnet „Staatsakt“? | |
| Weil ich mal in einer S-Bahn im Ruhrgebiet saß, als ein Kontrolleur eine | |
| ältere Dame angesprochen hatte. Sie fuhr ohne gültiges Ticket oder sie | |
| konnte es gerade nicht finden. Der Kontrolleur legte sich mächtig ins Zeug | |
| und verlangte ihre Papiere. Sie sagte nur: „Jetzt machen Sie mal keinen | |
| Staatsakt daraus.“ Das ist bei mir als geflügeltes Wort hängen geblieben. | |
| Auch, weil Staatsakt auffällig viele ts und as enthält, genau wie Ata Tak, | |
| der Name meines Lieblingslabels aus Düsseldorf. | |
| Eine Frage zu Ihrem Album „Bmerica“: Machen Sie es sich damit nicht zu | |
| leicht? Ziehen Sie mit Ihrer Anverwandlung von Funk und Soul eine Show ab, | |
| bei der Sie so tun, als könnten Sie etwas, was James Brown viel besser | |
| konnte? | |
| Sie können mich dafür anmaßend finden! Von den Epochen, auf die ich mich | |
| beziehe, habe ich keine selbst erlebt und von den kulturellen Erfindungen, | |
| die ich nutze, habe ich nicht eine einzige selbst erfunden. Musikmachen | |
| lässt mir streng genommen nur eine Wahl. Entweder begehe ich kulturellen | |
| Diebstahl und schände Denkmäler oder ich spiele ausschließlich in | |
| werkgetreuen Coverbands und verehre in ehrfurchtsvollem Schweigen die | |
| Klassiker. Da bin ich lieber Strauchdieb und Schänder. So, genug gelabert, | |
| jetzt muss ich ganz dringend ein paar Mails schreiben und sofort nach | |
| Kreuzberg in den Übungsraum. | |
| 25 Oct 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Kristof Schreuf | |
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