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# taz.de -- Main Characters auf Social Media: 15 Minuten ungewollter TikTok-Ruhm
> Es ist das Ziel vieler TikToker*innen, mit ihren Videos viral zu
> gehen. Bei sogenannten Main Characters passiert das unfreiwillig.
Bild: Der Fall um das Verschwinden Gabby Petitos ging viral. Heute weiß man, d…
Wenn Ihnen die Namen „West Elm Caleb“ und „Couch Guy“ etwas sagen,
verbringen Sie sehr viel Zeit im Internet, vor allem auf TikTok. Beide
beschreiben Personen, die zum sogenannten Main Character wurden, also ein
Phänomen sozialer Medien, bei dem ganz gewöhnliche Menschen, die vorher
keinerlei Berühmtheit hatten, für einen sehr kurzen Zeitrahmen das
dominierende Thema der Plattform sind.
TikTok ist ein soziales Medium, das anders funktioniert als Twitter oder
Instagram: Die Videos im Feed der Nutzer*innen werden weniger aufgrund
der Accounts, denen man folgt, angezeigt, sondern nach einem starken
Algorithmus und danach, was generell populär ist. Durch diese
Funktionsweise können Inhalte ohne Kontext viral gehen, also auch ohne das
ursprüngliche Video. Sprich: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Video
tausend- oder millionenfach angeklickt wird, ist sehr hoch. Selbst harmlose
Inhalte können so zum Aufreger der gesamten Plattform werden.
Wie im Oktober 2021 „Couch Guy“. Das ist der „Name“ eines jungen Mannes,
der von seiner Freundin am College überrascht wird. Als sie die Tür zu
einem Zimmer öffnet, sieht man ihn auf einer Couch neben mehreren Frauen
sitzen; er steht zögerlich auf und umarmt sie. Hochgeladen von der
Freundin, die zu dem Zeitpunkt nur rund 200 Follower*innen hatte, wurde
der Clip innerhalb weniger Tage 60 Millionen Mal aufgerufen, jede einzelne
seiner Bewegungen analysiert oder parodiert. Nahezu einstimmig war TikTok
der Meinung, er betrüge sie.
„West Elm Caleb“ wiederum bezeichnet einen 25-jährigen New Yorker namens
Caleb, der für das Möbelgeschäft West Elm arbeitet. Im Januar dieses Jahres
fanden mehrere Frauen, dass er sie gleichzeitig datete; ihre Warnungen,
nicht auf den Mann hereinzufallen, gingen schnell viral. [1][Zeitungen],
Magazine und Klatschportale schrieben Artikel über ihn, er wurde auf
Twitter ebenso diskutiert wie auf Reddit oder Youtube.
Googelt man „West Elm Caleb“, gibt es mehr als 400.000 Suchergebnisse.
Kurzzeitigen Negativruhm hatte in den vergangenen Monaten auch die trans
Frau Sabrina Prater, die ein Video von sich im Keller tanzend
veröffentlichte und der andere TikToker*innen „schlechte Vibes“
attestierten oder ihr sogar unterstellten, eine „Serienmörderin“ zu sein.
## Oft bleibt es nicht bei Kritik
Die Warhol’sche Vorhersage, in der Zukunft habe jede*r 15 Minuten Ruhm,
wird für diese Menschen zur ungewollten Realität. Das Problem beim Phänomen
des „Main Characters“ ist, dass es bei diesen viralen Trends oft nicht bei
der Kritik oder der Parodie bleibt. Es wird ein Dominoeffekt in Gang
gesetzt; User*innen versuchen, so viel wie möglich über die Person
herauszufinden. Es wird nicht nur in früheren Videos oder Tweets der Person
gewühlt, sondern auch Privatadressen gedoxxt, also im Netz veröffentlicht,
Arbeitgeber unter Druck gesetzt, sie zu feuern, und teilweise sogar
Morddrohungen ausgesprochen.
Zwei Monate nachdem sein Video viral ging, veröffentlichte „Couch Guy“, der
in echt Robert McCoy heißt, [2][im Onlinemagazin Slate einen Artikel], in
dem er den Horror beschreibt, als gewöhnlicher Typ plötzlich im Mittelpunkt
der Aufmerksamkeit zu stehen. Er sei unter anderem als „Psychopath“
bezeichnet worden, so McCoy; ein TikTok, das seine Wohnung von außen zeigt,
wurde mehr als 2,3 Millionen Mal abgerufen. Die Jagd nach Informationen und
die Versuche, jedes Detail im Video zu analysieren, setzte er mit der
Popularität von True Crime in Bezug.
True Crime ist ein Genre, das sich, spätestens seit im Jahr 2014 der
Podcast Serial startete, größter Beliebtheit erfreut. So groß, dass auch
Privatpersonen auf eigene Faust Ermittlungen anstellen. McCoy verglich die
Art, wie er investigiert wurde, mit der Aufregung, [3][die es auf TikTok um
die verschwundene Gabby Petito] gab. Die 22-Jährige wurde, wie man heute
weiß, im August 2021 von ihrem Freund ermordet. Mehrere Wochen lang suchte
die Familie nach ihr, bis man ihre Leiche schließlich in einem Nationalpark
in Wyoming entdeckte. Auf TikTok wurde in der Zeit versucht, alles über
Petito, ihren Freund und ihr Verschwinden herauszufinden, User*innen
durchstöberten ihre alten Social-Media-Posts, demonstrierten vor seinem
Haus.
Bereits im Fall Gabby Petito wurden die Hobbydetektiv*innen auf
TikTok für diesen Hype kritisiert. Einige Hinweise und Beobachtungen halfen
bei der Investigation, viele Posts waren aber nicht nur unsensibel, weil
sie eindeutig auf Klicks aus waren, sondern verbreiteten auch
Falschinformationen.
Es stellt sich die Frage: Ist es moralisch vertretbar, unbekannte Personen
gegen ihren Willen aus der Anonymität zu reißen und im Internet
bloßzustellen? Wo es bei Gabby Petito gewiss viel ehrliche Anteilnahme und
Hilfsbereitschaft gab, ist dies bei „Couch Guy“, „West Elm Caleb“ und
Sabrina Prater weniger der Fall. Für „Main Character“ können diese 15
Minuten TikTok-Ruhm langfristige Konsequenzen haben, wenn Privatadressen
und andere persönliche Informationen veröffentlicht werden, Arbeitgeber dem
Druck, der auf sie ausgeübt wird, nachgeben und sie feuern, oder wenn
Personen gar Morddrohungen erhalten.
## TikTok selbst trägt Verantwortung
Gewiss, gerade „West Elm Caleb“ kann einiges vorgeworfen werden. Sein
Datingverhalten war unmoralisch bis potenziell gesetzwidrig. Ihm wird von
TikToker*innen vorgeworfen, Dick Picks verschickt zu haben. Bislang ist
das in New York noch nicht strafbar, ein [4][entsprechender Gesetzentwurf]
liegt vor. Doch rechtfertigt das, wenn TikToker*innen seine
Privatsphäre mit der Hoffnung auf virale Videos ausschlachten? Die Causa
„West Elm Caleb“ hat innerhalb kürzester Zeit so große Wellen geschlagen,
dass die New Yorker*in, die als Erstes über ihr Date mit ihm berichtete,
[5][ein weiteres Video postete], um klarzustellen, dass sie nicht vorhatte,
ihn so bloßzustellen.
Wie verhält sich das bei Robert McCoy und Sabrina Prater und anderen bis
dato anonymen „Main Characters“, die keiner Menschenseele etwas zuleide
getan haben? In der Hoffnung auf Aufmerksamkeit scheinen User*innen zu
vergessen, dass diejenigen, die ins Kreuzfeuer gelangen, echte Menschen
sind und nicht Protagonist*innen eines [6][DIY-True-Crime-Falls]. Ist
die Strafe für ihr „Verbrechen“ angemessen?
Unbestreitbar ist: Mit der Zunahme dieses Trends, Privatpersonen
„investigieren“ zu wollen, steigt auch die Verantwortung, die TikTok selbst
hat. In den Nutzungsbedingungen der App heißt es zwar, andere User*innen
dürften nicht „eingeschüchtert oder belästigt“ werden. De facto sind
soziale Netzwerke beim Bannen und Löschen dieser Inhalte aber immer eher
zögerlich und dass TikTok eine chinesische App ist, kommt erschwerend hinzu
beim Zur-Rechenschaft-Ziehen.
Das bedeutet, dass es die User*innen selbst sind, die Verantwortung für
ihr Verhalten übernehmen und sich in Zukunft fragen müssen, ob geringe oder
gar nicht existente „Vergehen“ es wert sind, andere zu belästigen und zu
bedrängen.
21 Feb 2022
## LINKS
[1] https://www.nytimes.com/2022/02/04/opinion/caleb-love-bombing-gaslighting-t…
[2] https://slate.com/technology/2021/12/tiktok-couch-guy-internet-sleuths.html
[3] /Der-Fall-Gabby-Petito/!5803406
[4] https://www.nysenate.gov/legislation/bills/2017/s2725/amendment/a
[5] https://www.tiktok.com/@kateglavan/video/7055424796410088710?is_from_webapp…
[6] /Serie-bei-Disney/!5792994
## AUTOREN
Isabella Caldart
## TAGS
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