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# taz.de -- Machtkampf in Venezuela: Der Weg in die Krise
> Seit Mittwoch hat Venezuela zwei Präsidenten, zwei Parlamente und zwei
> Oberste Gerichte. Wie ist es dazu gekommen?
Bild: Nachdem er sich selbst zum Präsidenten ausgerufen hatte, verschwand Guai…
Bis vor Kurzem war der 35-jährige [1][Juan Guaidó] ein unbekanntes Gesicht
auf der politischen Bühne Venezuelas. Doch seine Karriere ist beispiellos:
Anfang des Jahres wurde der Mitbegründer der Oppositionspartei „Voluntad
Popular“ zum Präsidenten des Parlaments berufen. Am vergangenen Mittwoch
ernannte er sich kurzerhand selbst zum Staatsoberhaupt des
südamerikanischen Landes. Das mag sich nach einem Putsch anhören, doch der
Sachverhalt ist komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint.
Um die [2][aktuellen Entwicklungen in Venezuela] zu verstehen, muss man
zurückgehen ins Jahr 2015, als die letzten Parlamentswahlen stattfanden. Zu
diesem Zeitpunkt regierte die Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas
(PSUV) bereits seit 17 Jahren das Land. Zunächst unter Hugo Chávez, nach
dessen Tod 2013 unter seinem Nachfolger Nicolás Maduro.
Fast zeitgleich mit dessen Regierungsübernahme stürzte die wirtschaftliche
Situation Venezuelas in eine Abwärtsspirale. Lebensmittel und
Hygieneartikel verschwanden aus den Geschäften, die medizinische
Versorgung im Land verschlechterte sich, die allgemeine Unzufriedenheit in
der Bevölkerung wuchs. Auf politischer Ebene wurde das schließlich im
Dezember 2015 deutlich: Die Opposition gewann bei der Wahl der
Nationalversammlung in einem Erdrutschsieg die Mehrheit der Parlamentssitze
– erstmals seit der Machtübernahme der Sozialisten.
Auch Juan Guaidó fand sich unter den Abgeordneten wieder. Doch im Frühjahr
2016 rief Präsident Maduro kurzerhand den nationalen Ausnahmezustand aus.
Seitdem regiert er das Land über Notstandsdekrete. Zwar forderte die
Opposition ein Referendum über den Verbleib Maduros im Präsidentenamt,
scheiterte damit aber wiederholt am regierungsnahen Obersten Gerichtshof.
## Politische Dispute werden auf der Straße ausgetragen
Ende März 2017 [3][entzogen die Richter den Abgeordneten schließlich die
Immunität] und in der Folge dem Parlament jegliche Befugnisse, wie etwa die
Verabschiedung von Gesetzen oder die Kontrolle über die Regierung. Diese
übertrugen sie kurzerhand auf sich selbst und von ihnen ausgewählte
Institutionen.
Von da an gingen die Menschen in Venezuela fast jeden zweiten Tag gegen die
Entmachtung des von ihnen gewählten Parlaments [4][auf die Straße]. Die
Opposition versuchte weiterhin, ihre Legitimität über die Zivilgesellschaft
zu untermauern, indem sie etwa eine Volksabstimmung mit fast 8 Millionen
abgegebenen Stimmen abhielt. Doch auch diese wurde von den regierenden
Sozialisten ignoriert. Stattdessen setzten sie ein Datum zur Wahl einer
neuen Nationalversammlung fest, die der Opposition auch die letzten
Mitsprachemöglichkeiten entziehen sollte.
Reden wollte zu diesem Zeitpunkt auf politischer Ebene keiner mehr.
Stattdessen wurden die Dispute auf der Straße ausgetragen: Auf den
Kreuzungen von Caracas türmten sich wochenlang Müllsäcke, Autoreifen und
Steinbrocken. Zwischen den Laternenpfählen spannten Demonstranten Seile
quer über die Straße, damit niemand mehr durchkam – vor allem die
gefürchtete Nationalgarde auf ihren Motorrädern nicht. [5][Monatelang
dauerten die Proteste an], 121 Tote und 2.000 Verletzte zählte die
Generalstaatsanwaltschaft im ersten Halbjahr 2017.
Mit Straßenblockaden, Kundgebungen, Protestmärschen und einem mehrtägigen
Generalstreik versuchte die Opposition, die Wahl der Nationalversammlung zu
verhindern – erfolglos. In einer scheinbaren Verzweiflungstat nahmen die
oppositionellen Abgeordneten schließlich eine der Kernkompetenzen des
Parlaments wahr: sie besetzten das Oberste Gericht neu. Die Richter setzten
sich allesamt kurz nach ihrer Vereidigung ins Ausland ab und arbeiten
seitdem im Exil. Ab diesem Zeitpunkt hatte Venezuela zwei
Nationalversammlungen und zwei Oberste Gerichte, die sich beide selbst als
legitim ansehen.
## Viele junge Menschen verlassen das Land
Das von der sozialistischen Regierung eingesetzte Parlament sollte
eigentlich eine neue Verfassung ausarbeiten, doch die gibt es bis heute
nicht. Dafür wurden für Mai 2018 vorgezogene Präsidentschaftswahlen
angesetzt, welche die Opposition als nicht verfassungskonform ansah. Wenig
überraschend ging Nicolás Maduro als Sieger dieser Wahlen hervor. Die
Wahlbeteiligung lag bei nur 46 Prozent. Ein Großteil der Opposition
boykottierte die Wahl, und verschiedene ausländische Regierungen – darunter
die USA, Deutschland und viele lateinamerikanische Länder – kritisierten
die Stimmabgabe bereits im Vorfeld als unglaubwürdig und intransparent.
Währenddessen verschlechterte sich die wirtschaftliche und humanitäre
Situation der Venezolaner dramatisch. 2018 betrug die Inflation 1,3
Millionen Prozent, für 2019 rechnet der Internationale Währungsfonds mit
einer sogenannten [6][Hyperinflation] von 10 Millionen Prozent. Viele
Menschen, die nur den staatlichen Mindestlohn beziehen, konnten sich kaum
noch die nötigsten Lebensmittel leisten. Schon im August 2018 hatte
Präsident Maduro versucht, die Inflation über eine Währungsanpassung in den
Griff zu bekommen.
Gebracht hat das nichts, im Gegenteil. Bereits im vierten Jahr schrumpft
die Wirtschaft im zweistelligen Bereich, und ein Großteil der Lebensmittel
und Waren muss aus dem Ausland importiert werden, da die nationale
Produktion längst eingebrochen ist. Viele Venezolaner haben inzwischen
[7][das Land verlassen], allen voran junge Menschen. 2018 flohen viele in
die Nachbarländer Kolumbien und Brasilien sowie nach Ecuador und Peru. Laut
Angaben der Vereinten Nationen sollen seit 2015 rund 1,6 Millionen
Venezolaner das Land verlassen haben: der größte Massenexodus in der
Geschichte Südamerikas.
## Noch steht die Armee hinter Maduro
Vor diesem Hintergrund wurde Nicolás Maduro am 10. Januar 2019 vor dem
Obersten Gericht für eine zweite Amtszeit vereidigt. Die Opposition erkennt
seine Präsidentschaft nicht an. Sie beruft sich dabei auf die Verfassung,
nach der das Parlament die Exekutivgewalt übernimmt, sollte es keinen
Präsidenten geben. Diesen Fall sahen die Abgeordneten der oppositionellen
Nationalversammlung mit Ablauf der ersten Amtsperiode Maduros als gegeben
an – und riefen darum am vergangenen Mittwoch Juan Guaidó als
Interimspräsidenten aus.
Unterstützung bekam Guaidó von der venezolanischen Bevölkerung, die zu
Zehntausenden Zeugen seines öffentlichen Amtseides wurde. Nur kurze Zeit
später meldete sich US-Präsident Donald Trump auf Twitter zu Wort und
erkannte Juan Guaidó als legitimen Präsidenten Venezuelas an. Ihm taten es
zahlreiche Staaten und Bündnisse gleich, unter anderem die Europäische
Union.
Nach seiner Rede verschwand Juan Guaidó. Unterdessen sind neue Proteste
entflammt, die teilweise brutal niedergeschlagen werden und laut Angabe von
Aktivisten bisher beinahe 30 Tote gefordert haben. [8][Entscheidend in
diesem Konflikt bleibt das Militär].
Verteidigungsminister Vladimir Padrino hatte zwar bekräftigt, dass die
Armee hinter Nicolás Maduro als Staatschef stehe. Mittel- und niederrangige
Militärs sind von der Krise jedoch genauso betroffen wie der Rest der
Venezolaner. Immer häufiger gibt es kleinere Aufstände in den Reihen der
Armee, eine hundertprozentige Unterstützung Maduros besteht also nicht.
Klar ist derzeit nur: Venezuela hat zwei Parlamente, zwei Oberste Gerichte
und zwei Präsidenten. Leidtragend ist dabei vor allem die Bevölkerung.
26 Jan 2019
## LINKS
[1] /Machtwechsel-in-Venezuela/!5568002
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[3] /Oberster-Gerichtshof-in-Venezuela/!5397203
[4] /Anti-Regierungsproteste-in-Venezuela/!5399763
[5] /Venezolanische-Historikerin-ueber-Proteste/!5402706
[6] /Inflation-in-Venezuela/!5529697
[7] /Fluechtlinge-in-Suedamerika/!5529267
[8] /Kommentar-Machtkampf-in-Venezuela/!5568005
## AUTOREN
Hanna Silbermayr
## TAGS
Venezuela
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