# taz.de -- Lobbyist vs. Grünen-Politikerin: Strengere Regeln bei Chemikalien? | |
> Die EU-Kommission legt Mittwoch eine neue Chemikalienstrategie vor. Ein | |
> Lobbyist und eine Grünen-Politikerin diskutieren, was sich ändern muss. | |
Bild: Der Rhein bei Mainz | |
taz: Frau Paulus, Herr Romanowski, das Landwirtschaftsministerium | |
Niedersachsen rät Angler:innen vom regelmäßigen Verzehr von Aalen und | |
Brassen aus dortigen Flüssen ab, weil sie zu stark mit giftigen Chemikalien | |
belastet sind. Was nutzt die riesige EU-Chemikalien-Bürokratie, wenn wir | |
unsere Fische nicht mehr essen können? | |
Jutta Paulus: Bei vielen Chemikalien haben wir es mit extrem langlebigen | |
Substanzen zu tun, die lange nicht oder zu wenig reguliert worden sind. | |
Fluorverbindungen etwa oder auch Schwermetalle. Die europäische | |
Chemikaliengesetzgebung Reach gibt es ja erst seit 13 Jahren, und sie ist | |
ein enormer Fortschritt. | |
Berücksichtigen Sie, wo wir herkommen! Nach der Brandkatastrophe des | |
Schweizer Konzerns Sandoz 1986, nachdem der Rhein so gut wie tot war, war | |
die Chemieindustrie der Meinung: „Schade, aber geht nicht anders.“ Das ist | |
zum Glück vorbei. | |
Gerd Romanowski: Die Fische in Niedersachsen sind nicht verseucht, weil | |
Reach nicht funktionieren würde. Seit die Verordnung in Kraft ist, hat sich | |
die Datenlage über die Chemikalien in der EU erheblich verbessert und damit | |
auch der [1][Schutz von Umwelt und Gesundheit]. | |
Dank Reach wissen wir, welchen giftigen Chemikalien wir ausgesetzt sind, | |
aber los werden wir sie damit nicht? | |
Romanowski: Doch, natürlich, es wird reguliert und beschränkt. Das mag dem | |
ein oder anderen zu langsam vorkommen, aber künftig gelangen beispielsweise | |
die genannten Fluorverbindungen nicht mehr in die Gewässer. | |
Paulus: Die europäische Chemikalienagentur, abgekürzt Echa, hat eine | |
irrwitzige Arbeit damit, jeden einzelnen Stoff zu bewerten. Sie müsste | |
konsequenter den Gruppenansatz verfolgen. Dann würden Stoffe, die eine | |
ähnliche Struktur und ähnliche Eigenschaften haben, gemeinsam behandelt. | |
Bleiben wir bei den PFAS, den per- und polyfluorierten Alkylverbindungen: | |
Das sind über 4.700 verschiedene Stoffe. Wenn Sie jeden einzeln durch die | |
verschiedenen Gremien der EU schicken, dann [2][sind wir in 20 Jahren noch | |
nicht fertig]. | |
Romanowski: Den Gruppenansatz gibt es längst, bei den PFAS wird er | |
verfolgt, bei den Schwermetallsalzen auch. Das sieht Reach ausdrücklich | |
vor. Es dürfen aber nur Stoffe in Gruppen bewertet werden, die wirklich | |
ähnliche Eigenschaften und ein ähnliches Risikopotenzial aufweisen. | |
Paulus: Hier droht „Paralysis by Analysis“ – wir blockieren uns durch | |
übermäßiges Datensammeln. Wenn Sie für alle 4.700 Stoffe den Nachweis | |
fordern, dass sie ein ähnliches Risikopotenzial haben, dann dauert das auch | |
wieder 20 Jahre. Irgendwann brauchen wir aber auch mal Ergebnisse. | |
Wir sollten bei allen Stoffen, die als gefährlich in Verdacht sind, | |
Anwendungen definieren, für die wir sie unbedingt brauchen. Und in allen | |
anderen Anwendungen verbieten wir sie. Zum Beispiel Teflon: Ein tolles | |
Material für industrielle Prozesse, aber muss man es auf Regenjacken | |
aufbringen? | |
Romanowski: Genau das prüfen die Behörden doch gerade. Wir müssen aber | |
darauf achten, dass wir bei Stoffgruppen auch wirklich eine eindeutige | |
wissenschaftliche Bewertung haben. Einfach nur auf Zuruf einer | |
Umweltorganisation irgendetwas verbieten, das geht nicht. | |
205 Stoffe auf der Kandidatenliste in 13 Jahren – halten Sie die Dauer, in | |
der mit Reach-Prozessen Chemikalien beschränkt werden, für angemessen? | |
Romanowski: Das könnte schon schneller gehen, das würde auch mehr | |
Rechtssicherheit für die Unternehmen schaffen. Aber an den Verfahren, in | |
dem Chemikalien eingeschränkt oder verboten werden, arbeiten Ministerien | |
und Behörden aus den Nationalstaaten und aus der EU mit, verschiedene | |
wissenschaftliche Ausschüsse müssen mehrmals tagen, das alles dauert eben. | |
Paulus: Das ist aber jetzt ein Ablenkungsmanöver. Ich kenne das aus meiner | |
Arbeit als Pharmazeutin in einem freien Labor. Als Reach damals | |
verabschiedet wurde, galt das Motto: „Keine Daten, kein Markt“ – verknüp… | |
mit einem Datum. | |
Wer bis zu einem bestimmten Stichtag kein Dossier mit Informationen zu | |
seinen Substanzen eingereicht hatte, der konnte sie nicht weiterverkaufen | |
oder verwenden. Uns ist es mehrmals passiert, dass sechs Wochen vor Ablauf | |
der Frist ein Unternehmen anrief und Tests bestellte. | |
Wenn wir dafür keine Kapazitäten hatten, wissen Sie, was die dann gesagt | |
haben? Och, dann schreiben wir einfach Spaghetti bolognese ins Dossier, es | |
werden ja sowieso nur 5 Prozent überprüft. Diese Überprüfung ist jetzt auf | |
20 Prozent der Dossiers ausgeweitet worden. Nach einer Studie des UBA, des | |
Umweltbundesamts, ist etwa die Hälfte der Dossiers unvollständig oder | |
fehlerhaft. Immer noch ist man viel zu zögerlich, das Prinzip „Keine Daten, | |
kein Markt“ auch tatsächlich durchzusetzen. | |
Romanowski: Logisch, vorsätzlich unzureichend ausgefüllte Dossiers müssen | |
sanktioniert werden, sie verzerren den Wettbewerb. In der Studie des | |
Umweltbundesamts sind aber auch Fälle erfasst, in denen es | |
Meinungsunterschiede zwischen Behörden und Industrie gab. Etwa darüber, ob | |
für eine Studie ein Tierversuch gemacht werden durfte oder musste oder | |
nicht. | |
Nicht jede unterschiedliche Interpretation einer Rechtsvorschrift in Reach | |
ist gleich ein Verstoß. Solche strittigen Fälle werden vor der | |
Widerspruchskammer der Echa ausgetragen. Und dort gewinnen nicht nur die | |
Behörden, das ist durchaus ausgeglichen. | |
Was erwarten Sie von der neuen Chemikalien-Strategie der EU-Kommission? | |
Romanowski: Ich erwarte, dass sie Maß hält. Wir haben in der EU weltweit | |
schon das strengste Chemikalien-Reglement. Die Chemieindustrie hat im | |
ersten Halbjahr 2020 den zweitgrößten Produktionseinbruch ihrer Geschichte | |
und ein Umsatzminus von über 6 Prozent zu verzeichnen. | |
Es ist schwer abzuschätzen, wann die Unternehmen wieder auf die Beine | |
kommen werden. Und wenn man nicht weiß, wie in fünf Jahren die Bedingungen | |
aussehen, um Chemikalien zu produzieren und auf den Markt zu bringen, dann | |
wird auch nicht investiert. | |
Paulus: Natürlich brauchen wir eine leistungsfähige Chemieindustrie in | |
Europa. Daher erwarte ich von der Kommission Leitplanken für | |
Investitionssicherheit. Wenn ein Unternehmen eine innovative Substanz | |
entwickelt hat, die aber sehr schwer biologisch abbaubar ist, dann muss es | |
wissen, dass es in diese Substanz nicht weiter investieren muss, weil es | |
sie in Europa nicht verkaufen darf. | |
Deshalb haben wir als europäische Grüne einen Aktionsplan für eine | |
Chemiewende entwickelt. Wir wollen schneller aus gesundheits- und | |
umweltschädlichen Substanzen aussteigen und auch die Produktion in den | |
Blick nehmen. Wie energieintensiv ist sie, wie nachhaltig sind ihre | |
Rohstoffe? Als Gesetzgeber sind wir in der Pflicht, die zu vertreten, die | |
keine Lobbyisten nach Brüssel schicken können, etwa die Umwelt. | |
Romanowski: Die Umweltlobbyvereine sind in Brüssel genauso einflussreich | |
wie die Industrieverbände! | |
Paulus: Im Lobbyregister sehe ich deutlich mehr Mitarbeiter und Geld bei | |
der Industrie. | |
Romanowski: Auch die Industrie will die Umwelt oder die Gesundheit von | |
Menschen nicht gefährden. Aber bestimmte Stoffe brauchen wir einfach, auch | |
giftige. Smartphones, Solarzellen, Rotoren für Windräder, | |
Lithium-Ionen-Batterien, die enthalten eine ganze Reihe giftiger und | |
gefährlicher Stoffe. Wir müssen sie einsetzen, sonst können wir diese Dinge | |
nicht mehr herstellen. | |
Paulus: Dagegen hat ja keiner etwas. | |
Romanowski: Doch, Sie! | |
Paulus: Nein, aber die Stoffe dürfen nur in sinnvolle Anwendungen gehen, | |
und sie müssen in Kreisläufen geführt werden. | |
Romanowski: Und wer bestimmt, was sinnvoll ist? Sind Smartphones sinnvoll? | |
In dem Punkt Kreislaufwirtschaft gebe ich Ihnen recht, wir müssen viel mehr | |
recyceln. | |
Müssen die Unternehmen dafür ihre Rohstoffgrundlage auf Pflanzen umstellen? | |
Paulus: Nein, wir müssen die Fehler der Biokraftstoffe nicht wiederholen, | |
sondern raus aus der Wegwerfgesellschaft. Beispiel Plastik: Selbst in | |
Deutschland, einem Land mit vergleichsweise guter Regulierung, liegt das | |
echte Recycling, bei dem am Ende wieder ein Produkt rauskommt, im | |
einstelligen Prozentbereich. Das kann so nicht bleiben. Es wird immer | |
Kunststoffe geben, und wir sollten uns auch Verfahren wie das Chemcycling | |
angucken … | |
… das ist chemisches Recycling, bei dem man Kunststoffe auflöst und in | |
Grundstoffe für Chemikalien rückverwandelt. | |
Genau. Damit könnte man auch Verbundkunststoffe recyceln, die wir bislang | |
verbrennen müssen. Aber das heißt nicht, dass wir am Einweg-Paradigma | |
festhalten nach dem Motto: Wir haben ja Chemcycling, da können wir | |
[3][weiter fröhlich Coffee-to-go-Becher] und Einwegverpackungen benutzen. | |
Das ist der falsche Weg. | |
Romanowski: Das sehe ich ganz genauso, wir müssen mehr recyceln. An den | |
notwendigen, neuen Technologien wird längst gearbeitet. | |
14 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Heike Holdinghausen | |
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